Hans Thill
Hans Test im Aquarium
In einer sonntäglichen Radiosendung zum Thema Tiefsee hörte Test den Reporter aus dem Aquarium von Neapel berichten, er habe unlängst Moränen dabei beobachtet, wie sie immer wieder in dekorativ am Grund des Aquariums ausgestreuten antiken Amphoren Schutz gesucht hätten, ein ständiges Hin und Her, bei dem oft nur ein Teil des Kopfes oder eine Schwanzspitze zu sehen gewesen wäre. Neben ihm habe ein älterer Tourist aus Berlin zu seiner Frau gesagt: »Kiek de Aale, immer mang de Pötte!«
7. Juli 2009 10:02Hans Thill
Erster Schritt ins Fenster
Soba (Zimmer), More (Meer), Cape Maybe und
ein auf Sandalen gebauter Himmel Himalaya. Neon Lyra,
Mädchen im Mandolinenslip, beim Zählen der Vögel, der
Plastikflügel über Illyrien. Hotel Donau, hier endet
Edekobe, fest stehen die Karawanken, wo der Srebrobär
sein Sägemehl frißt wie wir die Sprachwolken.
Auf deinen Augen, inneres Mädchen, rudern wir
für einen Würfelzucker, für eine Handvoll vergessener
Kirschen, für die geworfene Peperoni der Revolution.
Teheran. Genosse Absolut an die Korinther: Ha! Ha!
Upha! Gebt mir ein Blei dann rufe ich die Heilsarmee
der Worte. Johann Köhl, der die Klarinetten zählt, die
toten Fische im blauen Kaltwasser. Alte Wasser, bittere
Früchte. Wir küssen das Meer. Strah (Angst), Ime (Name),
Prah (Staub)
Begrüßungsgedicht für Tomica Bajsic, Gordana Benic, Ivana Bodrozic Simic, Branko Cegec, Delimir Resicki, Zvonko Makovic, Urs Allemann, Arnfrid Astel, Kurt Drawert, Ann Cotten, Karin Kiwus. Poesie der Nachbarn Kroatien. Edenkoben 24.6.2009
25. Juni 2009 09:43Hans Thill
Das heisse Fleisch der Wörter XXX: Abdelkebir Khatibi
Gedächtnis-Notizen (für Männer)
Er sagt: gib mir dein intimes Denken.
Sie sagt: gib mir sein Einverständnis.
Sie sagt: ich selbst bin fremd meiner Umarmung.
Er sagt: in der Reglosigkeit des Begehrens ohne ein Morgen.
Sie sagt: der Engel erscheint den Frauen nicht.
Er sagt: er erscheint und verschwindet, dabei mißt er die Entfernung.
Er sagt: ich schenke, empfange dich, indem ich dich anerkenne.
Sie sagt: stell dir vor, du wärst verfolgt, aufgelöst in deiner Kindheit.
Sie sagen: soviel Lust für eine flüchtige Nacht.
Sie sagt: jede Nacht wendet sich ab vom Tag im Aufblitzen eines Augenblicks.
Er sagt: schreib!
Sie sagt: vergiß dabei die Götter und ihre Engel.
Hans Thill
Martin Zingg
Seit der Romantik hat man sich immer wieder die Frage gestellt, was ein poetisches Leben sein könnte. Vivre poétiquement: für Baudelaire hatte der Dichter cool zu sein, Jarry fuhr mit dem Fahrrad durch Paris, eine Flinte auf dem Rücken, Brecht ließ die Zigarre nie ausgehn. Ganz anders Martin Zingg, für den das poetische Leben Engagement und unermüdliche Tätigkeit bedeutet. Als junger Mann hat er die Zeitschrift Drehpunkt begründet (zusammen mit Rudolf Bussmann), die nicht nur für die schweizer Literatur ein solcher geworden ist. Er hat in 25 Jahren 125 Nummern herausgegeben, bis ins Jahr 2006. Er ist ein einfallsreicher, verlässlicher Vermittler, Rezensent, Übersetzer, Journalist. Er schreibt konzentrierte, eigenwillige Gedichte, die man viel zu selten liest. Das soll jetzt anders werden. Willkommen, Martin Zingg, im Goldenen Fisch!
4. Juni 2009 18:15Hans Thill
Lied der Waende
Lied der Waende: Emmausjuenger
beim Schmaus darueber Christ Geburt
und Betung. Bernhard weckt das Kind
Nathan schimpft David einen Taeu-
fer da zeigt sich Magdalena
der Fuerstin von Provence Samson
schmeisst den Loewen Maenner essen
Reben. Drache mit Dame Apo-
kalypsepaar. Joseph und zwar
mit Frau Potiphar. Jakob wird
von Isaak geweiht. Peter und
Paul beten. Olifantenen-
gel. Antonius und Paulus
essen auch. Versuchung Bene-
dicti Kains Tod. Apostel
schreiben Reden auf Stein. Bauer
schneidet Brot. Einer friert einer
wirft den Rock ab. Wein wird geschnit-
ten. Einer huetet Schafe. Ein
Krieger stuetzt sich auf sein Schild. Ein
anderer maeht. Gaukler Hund Si-
rene. Schnitter. Bauer drischt sein
Korn. Bauer kippt es in die Hip-
pe. Ernte des Feldes. Bauer
sticht sein Schwein. Mann traegt alte Frau
auf Schultern. Mann haelt den Kelch mit
Wein. Omnibus in membris de-
signat decembris. Wein der Waen-
de. Blondine des Testaments
hier liegstu Stein und Estrich
decken Dich. Wir hueten Deine
Reste wie Nuesse aus dem Gar-
ten Jesse. Wir Inder mit dem
Hundekopf. Wir Rabenvoegel.
Wir Pygmaeen legen die Lei-
ter des Gebets ans Pferd. Fenster
der Nacktheit fliegen in den Him-
mel. Die leere Welt giesst sich aus
im schwarzen September Acht.
Par respect pour se site ne
pas se tenir aux grilles.
Hier haelt man sich nicht an Gittern:
Do Mi Si La Do Re. Haus des
Herrschers aller Noten. Lied
der Waende.
Hans Thill
Der Barbar von Vézelay
Erinnert sich an eine Geschichte, in der eine fliegende Hand durchs Fenster kommt. Er ueberlegt, womit man so eine Hand fuettern koennte, doch daran erinnert er sich nicht
Er steht vor einem Haus, liest sein Fachwerk Balkenalphabet. Er befragt den Buchstaben e
denkt an den Reissnagel auf Perecs Schreibmaschine, er klappt das Buch zu wie Kublai Khan seinen Atlas
Der Sohn des Pharao wird von einem Racheengel getoetet. Moses und das goldene Kalb. Angreifende Elefanten
Er denkt an die verschiedenen Formen des Fallens, zaehlt sie auf. Aus der Autotuer, dem davonrollenden Pfirsich hinterher. Die Stufen eines Podiums hinauf, einen uebergrossen Blumenstrauss in den Haenden, im Begriff, eine Festrede zu halten. Kinder im Arm, alt und mit einem Kopftuch. Die Wolken fallen der Sonne entgegen. Graeber fallen den Himmel hinauf usw
Er liest, fuehrt ein Selbstgespraech korrigiert gesagte Dummheiten, schaemt sich fuer Vergangenes. Er denkt den Satz: Das geht mir nach. Tröstend die getunkte Magdalena aus einem eigenen Gedicht
13. Mai 2009 16:03Hans Thill
Der Barbar von Vézelay
Liest Hinweisschilder als Befehle. Staedte waeren Brunnen, Doerfer haetten einen heiligen Schaedel. Entfernungen sind Kombinationen eines Geheimdienstalphabets
Er hat eine Ahnung. Er beruehrt keinen Pilz, keine Schraube, keinen Strassennagel
Legende der heiligen Eugenia. Der Basilisk und die Heuschrecke. Das Begräbnis des hl. Paulus
Er sieht die Baeume welken, die Steine zerbrochen unter den Flechten, er weiss nicht, was das fuer ein Zeichen ist und ob er es befolgen soll. Er sieht in der Kirche einen dicken Mann singen, neben ihm eine maechtige Frau im schwarzen Haengekleid, die ploetzlich ebenfalls zu singen beginnt
Er sieht ein, das Wissen hat die Voelker traege gemacht. Es hat ihnen die Hosen gekuerzt, die Schenkel wurden fetter. Er sieht die Wissenden den Berg hochrennen mit wippenden Rucksaecken. Er vergisst in einer ungeheuren Anstrengung alles, was ihm eingepraegt wurde und wischt sich mit einer herrischen Geste die Nase aus dem Gesicht
2. Mai 2009 12:00Hans Thill
Stele
Idea Vilariño
(1920 – 2009)
Gedicht Nummer 19
Ich möchte sterben. Ich möchte
Keine Glocken mehr hören.
Glocken – was für eine Metapher –
o Sirenengesänge
o Feenmärchen
Märchenonkel – gehen wir.
Ich will einfach keine
will einfach keine Glocken mehr hören.
(eigene Übersetzung)
29. April 2009 23:30Hans Thill
Der Barbar von Vézelay
Liest jetzt ein anderes Buch, das ihn langweilt, aber voll von Woertern ist, aus denen etwas wachsen moechte. Er sieht neun Gesichter mit jedem Auge und im linken noch als gruenen Fleck den Rest eines Insekts. Er sagt sich, er gehe durch einen Traum, aber es ist nur das langweilige Buch mit den wachsenden Namen, das ihn aengstigt
Er hat eine Ahnung. Er beruehrt kein Kabel, keine Ader, keine Wasserleitung. Ein Sonnenstrahl macht noch keine Wueste. Eine Luft macht noch keinen Hurrikan
Die Befreiung des hl. Petrus. Der Kampf des Guten mit dem Boesen (Kopie). Die Hinrichtung von Sauls Moerdern
Er findet eine Tastatur fuer lange Saetze, Komma und Semikolon sind leicht zu finden, der Punkt muss generiert werden. Sein Code ist das Haus des Herrn in Notensprache: Do Mi Si La Do Re.
Er sieht den Himmel als Teppich. Den Garten als Grundriss des Himmels. Er hoert wieder Stimmen. Die Sprache der Wespen
Kublai Khan und Marco Polo zwei Penner im kurzen Hemd mit grosser Plastikflasche, einer schwarzen Tinte und einer Tuete zermahlener Kekse, bedraengt von Sheriffs in den unterirdischen Kanaelen Frankfurts Rohrpost
Er sagt: Vézelay ist ein Esel in Burgrund. Ein kahler Ruecken, gekroent von Steinen. Er sagt: Reime sind Insekten. Er sagt: der Morgen haengt an meinen Fersen, an meinen Fersen haengen Wolken, ein Duesenjaeger springt mit Laerm durch den Himmel, der ein Teppich ist
13. April 2009 10:12