Hendrik Rost
Initiativverweigerung
Alles, was jetzt noch kommt,
ist Bonus. Das Wichtigste
im Leben habe ich erreicht:
bin geboren, nicht
verzweifelt. In Teams
bin ich verloren – meine Stärken
liegen im Betrachten
der freien Stellen.
Alles, was jetzt noch kommt,
ist Bonus. Das Wichtigste
im Leben habe ich erreicht:
bin geboren, nicht
verzweifelt. In Teams
bin ich verloren – meine Stärken
liegen im Betrachten
der freien Stellen.
Werde welcher du bist erfahren
Im Land für Freunde und erschöpfte Feinde,
wer hier lebt, der steht über dem Gesetz,
dass alles, was du tust, jemandem nützt.
Du bist weder der eine noch der andere.
Das Wetter ist schön auch ohne das Volk,
im Wald stehn junge Bäume als Kommentare
auf die alten. Du hast geliebt, und der Erfolg,
dich einzuklinken ins Leben, trägt für Jahre.
Im Land für Freunde und erschöpfte Feinde,
wer dort lebt, der steht über dem Gesetz,
dass alles, was du tust, Reiz ist und Reflex.
Lass gut sein, Pindar. Es ist Wochenende.
Nichts ist entschieden, Athen oder Theben.
Du wirst als eine von allen Fakten leben.
Ungefähr alle 11 Minuten …
… ist Liebe plakatiert und käuflich.
… bellt ein Dackel im Hunsrück.
… fällt ein Schnitzel in Bratfett.
… prügelt ein Kerl seine Geliebte.
… fällt ein Urteil im Strafgericht.
… ist der Wille frei – so gar nicht.
… macht ein Präsident verbal klar Schiff.
… verfällt eine Welt in Panik.
„Die richtige Erklärung ist aber die, daß ein großer Teufel in ihm Platz genommen hat und die Unzahl der kleineren herbeikommt, um dem Großen zu dienen.“
Franz Kafka
11. Januar 2017 14:56Wir werfen Heringe auf die Terrasse
und hoffen, Albatrosse werden sie holen.
Bitterkalt ist es heute, wir fahren
zum Einkaufszentrum, lassen kurz
das Kind im Wagen, es will weiter Fleurs
hören. Zurück auf dem Parkplatz, da steht
eine Traube Menschen am Auto, Polizei –
sie holen einen erfrorenen Hund
aus dem Wagen neben unserem.
Das Kind wedelt mit den Armen,
imitiert die gigantischen Antarktissegler.
Sprache nutzen wir fast nur, um
über Verständigung zu spotten, Blubb,
oder Meinungen, vermischt mit Fakten,
als Grimasse aufzusetzen: Demütigung
und Verschleiß. Wir müssen Furchtbares
aushalten, austeilen, um den Alltag zu genießen.
Seit dem Ende der Sterndeuterei
wird unsere Liebe von Matrosen bedroht.
Wir sind träge, ein gemaltes Schiff
auf einem gemalten Meer. Der Wind
bläst gut und weiß schäumt die Flut.
(neue Version)
6. Januar 2017 15:29Die toteste Zeit im Kalender,
wir hängen Meisenknödel
in den Schmetterlingsflieder.
Ein heller Stern steht anonym
südlich überm Garten.
Im Hochnebel hollern Gänse.
Pica pica schwadroniert
durch den Jahreswechsel –
ihr Schwarz weiß es schon.
Der Garten rotiert um den Knödel.
Ich halte mich am Kraut
der Goldrute fest; Sentimentalität,
Fett und Getreide vermengt.
Der Abend wetzt seine dunkle
Klinge am nicht zu leugnenden Jahr.
Es riecht nach Wolken.
Wir fliegen auf, auf zu den Meisen.
Ein Ort, den es schon gar nicht mehr gibt und den ich nie vergessen kann, ist der Arbeitshühnerstall von Rutger Kopland. Hier in diesem Verschlag in seinem Garten, einem langen und schmalen halb verwilderten Stück der Niederlande, saß er in einem vollständig durchgesessenen Ledersessel. Es gab einen öligen Schreibtisch, Bücher an den Wänden und Zeitschriften, die nach einem komplexen Chaosprinzip aufgeschlagen auf jeder freien Fläche lagen. Drei große Fenster zeigten nach Westen, Norden und Osten. Ein uralter Holzofen bollerte halb übellaunig, halb gutmütig. Kopland sprach immer mit Bedenkzeit – er hörte schlecht, aber er wusste auch, dass es wichtig ist, sich jede Antwort kurz durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn er von anderen Autoren sprach, dann aus Bewunderung. Wenn nicht Bewunderung, dann Respekt – vor den Hühnern, die früher hier gegackert haben, dem Bahndamm hinterm Haus, auf dem die Menschen dahinreisen, dem Abdruck eines zwiespältigen Gedichts in Ausgabe XX der Literaturzeitschrift von 1987. Für den professionellen Traumforscher ist es selbstverständlich ein Stilprinzip, die calvinistische Vernunft und die nächtlichen, mitunter bedrohlichen Gespinste, eigene und die anderer, wertzuschätzen. Dieses lebenslange Lesen und Schreiben so vor sich hin ist sicher eine Remedium gegen den allgemeinen Hang zur Ablehnung. Ich hatte die ganze Zeit das seltsame Gefühl, eine lange und tiefgreifende Kränkung zu erleben, die mit dem Leben zusammenhängt und seinen Anforderungen, Fehlschlägen und literarischen Hackordnungen. Und diese Kränkung war allmählich zu einem Teil des Erfolgs geworden, zu zahllosen eigenen Büchern und zu einer Grundhaltung, die aus einem alten, sterbenden Dichter einen bewundernswerten Schelm macht.
9. Dezember 2016 14:25Deine Freunde schreiben dir Wolken
aus den Ländern, in denen sie vielleicht
wohnen. Dem Regenland und dem Land
der Physik. Sie schicken in Tropfenform
kleine Gemeinsamkeiten: das Wasser,
das den Weg allen Wassers geht.
Sie schreiben dir, das Ende endet nie.
Es beginnt an einem beliebigen Punkt
in den Luftbriefen oder den Kapillaren
der Bäume. Du kannst uns ja lesen,
schreiben sie in Kumuli. Lies bitte,
was wir über die Wiese hinterm Haus
wissen. Lies auch den Angstwald
zwischen den Schulterblättern. Schreib
zurück von deiner Suche mit dem Gesicht.
Deinen zweifelnden, wissenden Augen,
denen wir trauen. Hier, das Liebeswürdige.
Deine Freunde schreiben dir Leben,
schreiben, weil es dich gibt. Ameisenähnlich
prickelt’s dich im Fuß – dein Herz,
es erhebe sich. Sie schicken dir Zuversicht
ohne Grund, diese Freunde. Diese Luft,
in ihr findest du Wetter, Briefe und Physik.
Du kannst ja lesen. Du kannst ja, wissen Wolken.
Der Polit-Pirol zieht ein in die Hauptstadt
der Abenddämmerung, alles ist wieder aus
für immer. Er zwitschert auf dem Schwert
des Washington Monuments, in den Ort
gerammt wie die Nadel eines Sammlers
in ein seltenes Exemplar, halb verheert
von den Rassenriots der 60er. Der Himmel
überm Kapitol ist immer wolkenlos klar,
ein Hologramm von infinitem Format.
Auf der National Mall stehen greise Vietnam-
veteranen, beten: MIA – Prisoner of War.
Bleibst du etwas zu lange stehen und schaust,
huscht ein Cop an und fragt, was du willst.
Schütze deinen Trotz, wäg ab, was du singst.
Die Sowjetunion gab es noch damals und die Sorgen der weißen Mittelschicht in der Hauptstadt, soweit ich für ein Jahr eingeladen war, sie zu teilen, kreisten um die Frage, wer in dieser Woche wann zum Psychiater geht. Jeder für sich. Mein Vorschlag, einmal miteinander zu reden oder gemeinsam zu demselben Therapeuten zu gehen, fiel auf vollkommenes Unverständnis, nein, wurde eher als ein Angriff auf die Hoheitsgewalt des Einzelnen über seinen Kummer (den immer andere verursachen) angesehen.
Jeden Abend gab es Salat, der einzeln in kleinen Schüsselchen für jeden vorbereitet wurde. Meine Gastmutter entdeckte an einer ihrer Tomaten während des Essens dann einen Stielansatz, den ich in meiner ganzen Unbekümmertheit beim Zubereiten übersehen hatte – ihr Gesicht entgleiste. Als ihr Mann versuchte, sie zu beschwichtigen, warf sie die Tomate quer über den Tisch in seine Richtung. Sie klatschte an die Wand, und wir Kinder aßen still, wie betend vorübergebeugt weiter, während die Eltern sich enthemmt anbrüllten. Auch an diesem Tag beendeten wir das Abendessen mit wild schlagendem Herz, dröhnenden Ohren und der Gewissheit, dass wir uns von Gewalt ernähren.
An Thanksgiving kamen Verwandte vom Land. Virginia war ein anderer Planet, südlich der Hauptstadt. Der Mann trug ein Truckercap und Dickies Arbeitshosen. Er sagte Sätze wie: He don’t care, und brachte Steaks von selbst erlegtem Wild als Gastgeschenk. In der Mitte des Tisches thronte ein Truthahn, groß wie ein dreijähriges Kind, und wartete geduldig darauf, dass wir unser Gebet, das einzige des gesamten Jahres, zu Ende gesprochen hatten, um ihn zu zerlegen.
Mein Gastvater präsentierte mich, den deutschen Gast, irgendwie als Beleg seiner heldenhaften Vergangenheit in der Armee. Er hatte sein Dienst während des Koreakriegs mit einer Blinddarmentzündung in einem Heidelberger Militärhospital verbracht. Den Schneid hatte er sich äußerlich bewahrt und wenn er abends zunehmend betrunken seinen immer gleichen Crooner-Songs lauschte, glich er dem Reagan aus Der Tod eines Killers. Und so wie Reagan diese Rolle später bereute, so würde dieser Mann, der schon zwei Familien zerstört hatte, morgen für wieder vom ersten Moment an versuchen, jeden von uns so lange zu erniedrigen, bis er gestärkt für einen Tag im Büro das Haus verlassen konnte.
Der Mann aus Virginia sprach mit später beim Digestif, Bier, an: Er komme eigentlich nur in die Hauptstadt, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Zum Essen etwa, als wäre dies ein Ersatz für einen Jagdausflug. „Junge“, sagte er, „das ist nicht Amerika hier.“ Und fügte hinzu: „Die Leute leben in ihrer eigenen Welt: fancy houses, fancy problems.“
Meine Gasteltern sprachen dann doch noch mit einem Therapeuten: Sie brüllten von verschiedenen Stockwerken per Konferenz in die Hörer und baten den zugeschalteten Shrink, dem jeweils anderen auszurichten, wie nasty, also gemein er wäre.
Ich blieb in diesem Haus zu Gast, statt auszubrechen, vielleicht nach Virginia oder Amerika, weil ich den anderen Kindern nicht zeigen wollte, dass man hier nicht leben kann. In so einem kapitalen Luxusproblem.
7. November 2016 12:00