Hendrik Rost

Parole

„Lass es ein Liebesbrief sein“

Krakeliger Schriftzug auf der Klappe eines Briefkastens in Hamburg

25. Juni 2015 10:02










Hendrik Rost

Vita brevis

So alt wolltest du nie werden – alter ego.
Erinnere dich an Jeanne Calment, ältester Mensch
aller Zeiten. Sie starb 1997 mit 122 Jahren.

1889 begegnete sie als 14-Jährige dem Maler Vincent
van Gogh. Er erwarb in dem Laden, wo sie verkaufte,
neue Farben. Nach ihren Aussagen stand sie einem trüben,

schlecht gekleideten und ungalanten Kerl gegenüber.
Jetzt aber ist die Zeit wie in einem Jubeljahr
zu jedem halben Jahrhundert, in der Getrennte vereint werden,

Sklaven entlassen und alte Schulden getilgt.
Noch vor 10.000 Jahren wars, als jeder Erdenmensch
im Schnitt kaum älter wurde als 10 oder 12. Mit Leib und Seele

jagten und sammelten sie Erfahrungen und verstauten sie
tief in den Genen. Das sind mit Adam und Eva
nun wir, mit Lust und Laune. Ganz ohne Mystik –

länger zu leben als die 50 Tage von Ostern zu Pfingsten,
ist schon eine Gabe. Länger als eine Zigarette,
die Jeanne erst mit 119 aufgab. Du bist nicht so weit,

nichts zu wollen. Vincent hat Jeanne übrigens nie erwähnt:
„Wir stehen vor dieser Tatsache“, schrieb er Bruder Theo,
„meinem Vorsatz, tot zu sein für alles außer meine Arbeit.“

Einem Freund zur Feier

9. Juni 2015 07:58










Hendrik Rost

Handhabe

Jetzt noch glauben an die Kombination im Innern.
Jetzt noch eine Nacht dazwischen liegen lassen.
An Zeit glauben, die über Ozeane streicht,
und dazwischen eine Nacht liegen lassen.
Daran glauben, an Metaphern und an Steinzeit,
den Zahnlosen, der das Werkzeug Ich entdeckt.
Vor allem glauben an das Gelb der Wespen,
an das Schwarz, das als Nacht dazwischen liegt,
an den Stich glauben, an Strich in der Landschaft,
Sticheln im Rachen. Eine Nacht verstreichen lassen.
Jetzt noch glauben an Erwägen. Dann weltumgoldet:
der Entschluss. Eine Nacht dazwischen lassen.
Am Morgen an Material glauben, Magritte, an Stil
als Projektil, an seine Reise durch die Nacht.
Noch glauben, dies ist die virtuose Zwischenzeit,
glauben an das neue Joch. Keine Routine lassen.
Jetzt. Und sichere Nächte keine. Keine Methode.

21. Mai 2015 15:46










Hendrik Rost

Epigramm

Lesen die Deutschen ihre Krimis lieber am Meer oder in den Bergen?
Töten sie ihre Gespenster bevorzugt
aus Liebe oder in der Erinnerung?

Unser Wolfsspitz war bissig nur an der Leine.
Beim Malen nach Zahlen habe ich mich verrechnet
und jetzt ist alles Schwarze rot, das Goldene schwarz.

Der Nachbar schlug seine Kinder mit dem Knüppel.
Zwischen den Wahrheiten, da liegt das Paradies der Kellerasseln.
Bei Gefahr stellen sie sich tot.

13. Mai 2015 16:08










Hendrik Rost

JuDo

Der Sohn, fünf Jahre alt, fragt mich, ob ich Judo kenne. Klar, sage ich. Kennst du auch YouTube, fragt er weiter. Ja, kenn ich auch, sage ich. Woher kennst du das denn, frage ich. Er: Oh, kennt doch jeder!

18. Februar 2015 20:37










Hendrik Rost

Scheinfrucht

Leise ist ein Apfel
in deiner Hand eingeschlafen,

die viele Arbeit
an der Illusion. Jetzt trägt sie Früchte.

2. September 2014 12:08










Hendrik Rost

Nach dem Stolpern

Das Wesen des Steins ist steinhart.
Ich weiß es aus eigener Erfahrung.
Aber Realismus ist keine Option,
wenn man am Kinn blutet.
Dann übernehmen andere Kräfte die Kontrolle.
Da liegt er, der Kiesel, unschuldig
seit der letzten Steinigung.
Lange lag er in einem Vorgarten –
vergessen fast,
was Kieselsein heißt.
Mir fällt nicht gerade ein Roman ein
im Übersprung, aber ohne großes Getue
spüre ich tief im Rachen die Sprache,
sie ist noch intakt, trotz gebrochener Knochen.
Die Töne ruhen da.
Das Wesen des Stolperns ist Inspiration.
Für jeden Einfall gibt es Beweise.
Für jeden liegt irgendwo ein Kiesel.

25. August 2014 11:05










Hendrik Rost

Wache

Vater, dies ist die Nacht, und ich
entscheide mich gegen –
die Bedeutung der Wörter,

Vater, ich will sie in die Welt schicken.
Nichts Großes ist zu erwarten
von mir. Ich bleibe wach,

solange ich nur den Klang liebe,
Klang des Regens, der gerade
nicht fällt, Vater.

14. August 2014 12:29










Hendrik Rost

Kleistsche Bewerbung

I
Wenn Sie mich häuten und an die Wand
hängen, dann entweder als asiatischen
Dämon oder als Papiertiger.

II
Sie können mich als abschreckendes
Beispiel einsetzen: Erfahrung wird
überschätzt. Was wirklich zählt,
ist Trotz und Gedenken.

III
Sie werden mich in dieser Welt
nicht kriegen.

17. Juli 2014 14:29










Hendrik Rost

Vom Pferd erzählen

Die Geschichten, Liebste, die du erlebt hast,
die ganze Last der Geschichten, die du
zu erzählen hast, sie machen die alt.
Das Leben, Liebste, kommt kaum über
ein kraftloses Weißt-du-noch hinaus.

Das gesammelte Gewicht aller Geschichten,
und es liegt mir schwer auf der Zunge,
Liebste. Es macht mich müde, mein Leben
als Fiktion. Was für ein Übermut, überhaupt
aufzustehen. Und doch, erlebt ist erlebt –

lange Spaziergänge mit dem Schweinehund,
die Wohnung, zugemüllt mit lauter Plänen,
wie ich verliebt war, nur nicht wusste, in wen.
Das, Liebste, sind Geschichten, ein Leben
lang erstunken, empfunden und erlogen.
Ich hab die Geschichten satt.

Verschon mich, Liebste, mit Geschichten,
wie du abgenommen hast, wie du spürst ­–
ich bin nicht mehr auf ewig jung. Es ändert
nichts an der Geschichte, was dir widerfährt,
ob du Gutes säst oder erntest, den Film
siehst oder selbst vor der Kamera stehst.

Ich kenne deine Geschichte, liebste Kassandra,
mit der du am Leben hängst und umgekehrt.
Ich erspar dir zum Dank die Sagen, die ich
in mir trage aus vielen Tausend Gerüchten
und Nachrichten – von Flucht und Städten
in Asche, leeren Geldbeuteln, Tod oder Teufel.

Lass die Geschichten ruhen. Erzähl nicht
von der Welt, die es nicht gibt. Wind weht
dir ins Gesicht und wispert, Liebste. Er sagt,
du bist frei oder nicht. Was du bist, hat ein
anderer an Bedeutung verloren. Keiner überlebt
in alten Geschichten. Hör auf, zu vernichten.

15. Juni 2014 10:32










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