Hendrik Rost

Zeitgeist

„Da trat Petrus auf, zusammen mit den Elf! Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint:
Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. “
Buch der Taten

An einer umtosten Kreuzung
wartet einer mit seinem Rollator
im Trikot der Männer

der Spielerfrauen schwer atmend
in der Pfingsthitze. Das Gefährt
geschmückt mit Fahnen

in Farben, die wir lieben
zu verachten, dann springt
die Ampel um. Die Grünphase

dauert Sekunden. Auf alles,
was heilig ist! Siege und Lebenslagen
stecken tief in den Knochen.

9. Juni 2014 15:42










Hendrik Rost

Liebe Sprotten,

im Jahre 2002 gehörte ich zu den glücklichen Finalisten des Lyrikpreises Meran. Das allein war schon eine wunderbare Sache. Darüber hinaus habe ich dort aber auch einige Kolleginnen und Kollegen getroffen, deren Werk ich seitdem verfolge und schätze. Das ist zum einen Sylvia Geist, die damals ausgezeichnet worden ist, und die jüngst ihren großartigen Gedichtband „Gordisches Paradies“ veröffentlicht hat (bei Hanser Berlin).

Zum anderen ist es Mathias Jeschke, der ebenfalls dort gelesen hat und mir als ein ausgesprochen freundlicher und interessierter Mensch in Erinnerung geblieben ist. Wiedergesehen habe ich ihn erst über zehn Jahre später bei einer gemeinsamen Lesung im Kieler Literaturhaus. Gedichte, die er dort an den tief verschneiten Fördehängen gelesen hat, stammen aus seinem neuen Buch: „Der Fisch ist mein Messer“. Erschienen in der edition AZUR, Dresden 2014.

Mathias Jeschke tritt nun auch auf Einladung von Andreas Drescher in unseren Schwarm ein. Herzlich willkommen. Er wird ihn sicher mit seinen Texten von weltältesten Booten und anderen maritimen Ideen etwa über die See bereichern: „… und ich kann nicht anders als denken,

daß es keinen Ort auf der Welt gibt, der so sehr
ein Ort ist, den es überall auf der Welt gibt.

3. Juni 2014 15:18










Hendrik Rost

Gedicht statt eines Denkmals

Jeden Tag gehe ich in Lessings
Schatten über den Gänsemarkt,
zu seinen Füßen sitzen Figuren,
die kein anderes Obdach haben,
oder Leute aus den Agenturen
und Banken, die hier ihr Unwesen
treiben. Vielleicht hat er Recht,
der Aufklärer: Ich nicht und keiner
dieser Menschen muss müssen.
Aber jeder von uns – wir werden
einander eines Tages vermissen.

Schemen des Ruhms. Mehr Denkmal
ist nicht als dies Gedicht. Es feiert
sich und sieht keinen großen
Unterschied zwischen der Tafel
aus Bronze am Sockel der Statue
und der Pappe, auf die ein armer
Teufel gekrakelt hat: Habe Hunger.
Das ist in jedem Fall Hamburgische
Dramaturgie. Über das Mitgefühl
mit anderen die Menschen zu
verstehen, die so sind wie wir.

Auf dem Gedicht landen keine
Tauben, es rostet nicht, keine
Aussicht auf künftige Größe
verzerrt seinen Blick auf die Welt.
Was es sieht, muss keinem
gefallen, nicht mal ihm selbst.
Die letzte Phase der Evolution
macht jeder mit sich aus:
für das Menschengeschlecht
Gutes zu tun. Bettler, Standbild,
Banker – ich geb dem einen
etwas Geld. Die anderen stehen
mir im Licht. Keiner verrät, was
ihn bewegt in seiner Position.

16. Mai 2014 09:34










Hendrik Rost

Mythos GmbH

Der Rücken des Tiers,
auf dem ich reite,
ist ein Bürostuhl, Teil eines Apparats,
der Stück für Stück
Tatkraft vernichtet, die Arbeit,
die ich verrichte, hilft mir
gegen dumme Gedanken
und kontrolliert meinen Feinsinn,
ich freue mich über die Belohnung,
wenn einer Nervennahrung
auf den Tisch stellt.
Ich leiste
Stunden ab – Zeit,
die mir bleibt,
ich nutze sie fleißig,
um fester im Sattel zu sitzen.
Manchmal spüre ich den Atem
des Tiers unter mir,
das meinesgleichen verdaut.
In dieser Position
bin ich der, der seine Arbeit
in Zukunft für die Hälfte macht
oder gleich für lau.
Ich leiste mir die Rebellion,
an meiner Stelle
ahnungslos zu sein.

(Zug von Hamburg nach Ffm, 10.5.2014)

11. Mai 2014 15:41










Hendrik Rost

Frei Schnauze

Vergiss bitte nicht, alles ist erfunden,
das Aufwachen, die eigene Familie, Tiere,
das Wetter, wenn es regnet, die Zeit.

Die eigene Sprache – so was von erfunden,
sie ist ein Gespinst und die Sprache anderer
in ihr, sie ist von vorn bis hinten Fiktion.

Die Fähigkeiten sind bis ins Detail erfunden,
das Lernen erster Laute bis zu letzten Worten,
die das ganze Leben Lügen strafen –

sich selbst so lange zu zügeln, bis aus Wut
und Angst und all dem Ausgedachten
Liebe wird, die der Vorstellung entspringt.

Oder vergiss es und erfinde es wieder.
Wenn du eben noch dachtest, jetzt ist es gut,
dann wird es das, was du verachtest.

8. März 2014 20:44











Hendrik Rost

Nach dem Kindergeburtstag

„Dann mach ich etwas ganz Böses. Dann schreib ich ganz böse Gedichte, die sich gar nicht reimen.“ – Pumuckl

Das Gedicht, dieses und jenes, kommt nie aus dem Verstand. Wenn ich nachdenke und etwas verfassen will, dann wird daraus nichts. Sprödes und Ödes. Wenn ich abends aber lese, eigentlich schon zu müde, und dabei auf etwas stoße, das nicht nur ausgedacht, nicht nur empfunden ist, dann fällt mir oft ein Name ein – vielleicht ein Titel oder eine Phrase – und die wirkt dann über Nacht und wächst. Am Morgen brauche ich oft nur noch zu notieren, was daraus geworden ist. Der klare, kalte Verstand hat dabei kein Recht. Die Unterscheidung in „Mag ich – mag ich nicht“ ist gut für Kinder. Wenn sie aber gelernt haben, ihre Angst vor Neuem zu verstehen und vielleicht sogar die Bedrohung und die Einsamkeit dahinter zu genießen, sind sie plötzlich reif, wie viele Erwachsene es nie werden konnten. Das Neue ist das, was bleibt, wenn ich nicht über andere urteilen muss, nicht beeindrucken will.

27. Januar 2014 09:38










Hendrik Rost

Omen

1. Auf dem Gehweg am Johannes-Brahms-Platz steht ein ausgebranntes Fahrzeug einer Sicherheitsfirma im leichten Schneefall.

2. Eine Idee, in die ich immer mehr Aufwand investiere, wird nicht zwangsläufig immer besser – sie gewinnt nur an Masse, wird träger und ist irgendwann nur schwer wieder aufzuhalten.

3. Die Idee selbst war perfekt.

4. „I don’t have the drugs to sort ist out“ – The National

23. Januar 2014 09:15










Hendrik Rost

Nutzlose Erinnerungen an eine nutzlose Kindheit

50 Pfennige versprach die Großmutter auf Besuch, wenn ich es schaffte, eine halbe Stunde Mittagsruhe zu halten. Ich lag auf dem Bett und verfolgte den gelähmten Zeiger des Weckers. 50 Pfennig für ein Leben, das sich seitdem in zwei Teilen misst, der Zeit vor der Zeit, in der es nur Unruhe gab und Bewegung und auch Müdigkeit ohne Maß, und die Zeit, die sich auf Dauer nicht lohnt.

Aus Wut darüber, das Zimmer aufräumen zu müssen, kam mir die Idee, die Fische aus dem Aquarium zu saugen. Erst als der Staubsauger hinten Schaum ausspuckte und stotterte und dann aussetzte, kam mir der Gedanke, dass ich keinen der Fische erwischte, bevor mir eine glaubwürdige Erklärung für den Zustand des Saugers einfiele. Überrascht sah ich in den Augen meines Vaters bei der erwarteten Bestrafung Erleichterung darüber, dass weder mir noch den Fischen etwas passiert war, und eine Art heimlicher Verbrüderung unter Tunichtguten.

Als jüngster einer Reihe von Brüdern war meine einzige Reaktion auf meine Mutter, immerzu „Hunger!“ zu brüllen, wenn ich sie sah. Immer wieder „Hunger!“, um etwas abzubekommen und ihrer Aufmerksamkeit keine Gelegenheit zu geben, sich abzuwenden. Hunger als Oberbegriff aller Bedürfnisse, die ich gar nicht kannte. Hunger noch, als ich mich als Jugendlicher längst auf Astralmaße abgeschmolzen hatte, der nicht gestillt wird. Nicht von euch. So nicht. Vielleicht im zigtausendsten Gedicht.

27. Dezember 2013 09:40










Hendrik Rost

Disorder (Joy Division; für Mirko)

I’ve been waiting for a guide to come and take me by the hand,
Could these sensations make me feel the pleasures of a normal man?
These sensations barely interest me for another day,
I’ve got the spirit, lose the feeling, take the shock away.

It’s getting faster, moving faster now, it’s getting out of hand,
On the tenth floor, down the back stairs, it’s a no man’s land,
Lights are flashing, cars are crashing, getting frequent now,
I’ve got the spirit, lose the feeling, let it out somehow.

What means to you, what means to me, and we will meet again,
I’m watching you, I’m watching her, I’ll take no pity from you friends,
Who is right, who can tell, and who gives a damn right now,
Until the spirit new sensation takes hold, then you know,
Until the spirit new sensation takes hold, then you know,
Until the spirit new sensation takes hold, then you know,
I’ve got the spirit, but lose the feeling,
I’ve got the spirit, but lose the feeling,
Feeling, feeling, feeling, feeling, feeling, feeling, feeling.

PS: Wer kann und mag, lese noch „Nie mehr Nacht“ und erlebe selbst ein großes Buch über einen nicht normalen Mann und seine Geschichte.

24. September 2013 09:46










Hendrik Rost

Essen auf Rädern

Wie ich mit angehaltenem
Atem in diese eine Wohnung stürmte,
den lauen Schmaus in die Küche
stellte, mit Augen verfolgt wurde
von jemandem, der nichts wollte,
außer vielleicht Hilfe und Nähe,
und wie ich beim Ausatmen
„Schönen Tag“ hervorpresste,
nur einmal nicht anders konnte,
als demjenigen wieder in den Sessel
zu helfen und dabei ganz tief
inhalieren musste: Ableben
und Festhalten. Das geht
nie mehr raus.

3. September 2013 16:22










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