Hendrik Rost
Kettenreaktion
Ich hab vergessen, die Alten
zu fragen, was das Geheimnis ist.
Jetzt sind sie weg
und ich trage es in mir.
Frag mich.
Ich hab vergessen, die Alten
zu fragen, was das Geheimnis ist.
Jetzt sind sie weg
und ich trage es in mir.
Frag mich.
Evolution I
Meine Tochter ist stolz, dass sie schwimmt. Sie sagt: „Ich kann schon tauchen.“ Ihr kleiner Bruder ist noch stolzer. Er behauptet überzeugend: „Ich kann schon unter Wasser atmen.“
Evolution II
Jede Geschichte hat
einen Anfang,
aber sie beginnt nicht,
dafür haben wir sie schon
zu oft gehört.
Immer häufiger sehe ich Menschen, die ihre Augen verdrehen. Ein Telefon klingelt im Zug: Einer verdreht die Augen. Die Verkäuferin versteht die Frage der Kundin nicht: Sie verdreht die Augen. Ich trete versehentlich auf den Radweg: Der Radfahrer verdreht die Augen. Ein Kind wird laut: Augen werden verdreht. Es hat eine seltsame Wirkung, dies Verdrehen. Die Selbstbeherrschung ist perfekt bis auf die Augäpfel, die sich in den Höhlen verwinden. Ungefragt nimmt sich der Verdreher das Recht, sein Missfallen oder seine Überforderung abschätzig mitzuteilen, eigentlich subtil, aber überdeutlich und immer unangemessen. Es ist für die, die das Verdrehen mitansehen müssen, nicht schön, den anderen derart leiden zu sehen. Ist es so schlimm? Ist das alles wirklich so schlimm?
27. Februar 2013 10:18Der Bettler mit der Krücke, den ich täglich auf dem Gänsemarkt stehen sehe und dem ich öfters schon etwas Geld gegeben habe, obwohl er es für Branntwein ausgibt, lief heute aufrecht und beschwingt über den Platz. Entgegen kam ihm eine Frau an zwei Krücken mit einem amputierten Unterschenkel. Er sah aufmerksam zu ihr und betrachtete das fehlende Bein. Womöglich kam ihm der Gedanke, dass, egal, was man auch tut und aufbietet, es gibt immer noch jemanden, der besser ist. Das ist nicht nur eine Tatsache, sondern auch ein Trost, denn ich kann ihm Geld geben, ohne wissen zu müssen, was er dafür leistet oder ist. Vielleicht kommt ja heute sogar niemand zu mir und verlangt zu wissen, ob ich mein Geld wert bin. Ich tu, was ich kann. Aber noch ist alles dran.
20. Februar 2013 15:32Sobald wir aus dem Windschatten der Hotels
auf den Strand treten, ist es zehn Grad kälter.
Die See, absolut spiegelglatt. Eine Postkarte.
Am Wasser liegen Seegras und Blasentang.
Ich scharre mit den Füßen darin herum.
Warum? Ich komme mir vor wie jemand,
der in fremden Schubladen wühlt. Ich finde
einen Bernstein und lasse ihn liegen –
ich suche nach etwas Neuem, das erst noch
versteinern oder verhärten muss. Schließlich
kommen wir an den Hafen. Letzte Boote liegen
im Wasser vor der Winterpause. Eine kindliche
Energie bewahrt sie vor dem Sinken: Naturgesetze.
Wir gehen zurück, Köpfe in Mützen wie Schätze.
Ein böser Husten, der alles verurteilt.
Trance bei der Tagesschau,
wie lange war ich weg?
Der Nachbar muss auf den Balkon
mit Zigarette. Der Rauch zieht zu uns,
markierter Atem.
Das Leben kennt nur Liebkosungen.
Gratulation zu dem Mut,
an der falschen Stelle zu lachen.
Seid froh, dass es Gott gibt,
sagt die Vierjährige,
weil der auf die verlorenen
Kinder aufpasst.
Im Frühjahr sehen wir einen Buchfink,
aus dem Nest gefallen.
Kindlicher Rebell, zerzaust,
mit Glubschaugen, die um Hilfe betteln.
Was wird daraus?, fragt die Kleine.
Wir gehen weiter.
Nach ein paar Schritten zupft sie an meiner Hand.
Ich weiß, sagt sie. Das wird ein großer Vogel.
Alles, was ich je wollte, war jemand,
der sagt, du kannst das. Du kannst
das Messer nehmen und seine kalte Schärfe.
Ich wollte die Streichhölzer einzeln anzünden,
die ganze Schachtel, eins, zwei, drei …
Du hast es mit Zahlen, auch das sollte jemand sagen.
Stattdessen war kaum zu unterscheiden,
ob ich mich schnitt oder ob ich blutete.
Was tat mehr weh, die Kruste abzuknibbeln
oder der Haut beim Vernarben zuzusehen?
Keiner sagte, du kannst viel aushalten.
Stattdessen: nicht so schlimm. Leben geht weiter.
Das ist ein Pingpongschläger,
das ist ein Tod.
Das ist ein Spielkamerad,
der sich in den Schädel schoss,
das ein Gesicht der Mutter,
in das ich nie mehr blickte,
ohne auf den Punkt zwischen
ihren Augen zu starren.
Das sind Falten dort und das
Geflecht, das sie bilden.
Das ist Intuition, die dort sitzt.
Das die Schnittstelle zum Kosmos.
Das ist es und nichts anderes.
Das ist ein Ping, das ein Pong.
Das ist kein Tod.
Das Monster lebt ganz sicher nicht mehr. So nannten wir den Mann mit dem Kehlkopfkrebs, der auf unserer Station lag. Sein Hals war eine große offene Wunde, die auf ein Lätzchen nässte, das er um den Nacken trug. Wenn wir im Fernsehzimmer saßen und er heranschlürfte, um zu rauchen!, flohen wir aus dem Raum. Der Anblick war unerträglich: ein Sterbender, der sich die Kippe direkt an ein Loch im Kehlkopf hielt und keuchend inhalierte.
Wir lagen zu sechst im Zimmer. Auf unsere Station gab es nur Patienten mit Problemen vom Hals an aufwärts. Die Ärzte waren alle plastische Chirurgen, auf Rekonstruktion spezialisiert, die zugleich Zahnärzte waren. Keiner von uns war aus kosmetischen Gründen hier. Im Bett neben mir lag ein Mann mit zertrümmertem Kiefer. Er hatte beim Fußball ein Knie ins Gesicht bekommen. Seine Frau brachte ihm jeden Tag stumm und treu Suppe, eine köstliche, pürierte orientalische rote Linsensuppe, von der auch wir anderen kosten durften. Sie ging leicht durch den Stromhalm, mit dem wir unsere Nahrung aufschlürften. Vom Krankenhaus bekamen wir meist Pudding, ganze Karaffen voll. Nur die Schmerzmittel dämpften den Hunger etwas.
Bei sechs Leuten mit verdrahtetem Kiefer im Zimmer klingt es wie in einem Bienenstock, ein ständiges Nuscheln oder Gesumme. Das heißt, wir waren nur fünf. Der andere Patient hatte einen Tumor hinterm Ohr, und er war der einzige, der normal essen durfte. Wir möchten ihn nicht, und seine Mahlzeiten waren begleitet von unseren gierigen Blicken und der schlürfenden Stille, wenn der Pudding durch die Halme gezogen wurde. Er hatte die nervtötende Angewohnheit, den Halbliterbecher Kefir, den seine Frau ihm jeden Tag brachte und den er zu jeder Mahlzeit trank, ausgiebig zu schütteln. Das war sein Ritual.
Einmal öffnete sein Bettnachbar den Aludeckel nur ein kleines Stück und bog das Blech zurück, so dass der Becher ungeöffnet aussah. Der Esser nahm den Becher hob an zu schütteln und spritzte sich von oben bis unten voll mit Kefir. Wir lachten verdruckst durch die Drähte – und er war einfach nur perplex, wie hatte er nur vergessen können, den Deckel schon geöffnet zu haben.
Sein Bettnachbar, unser Krankenzimmerclown mit Turbanverband, hatte sich bei einer Motorradfahrt in Thailand den Schädel, alle Kiefer, das Jochbein, die Hand und noch etwas gebrochen. Er war bekifft nachts ohne Helm unterwegs, musste einem Lkw ausweichen und kollidierte mit einer Palme. Sein Kopf war auf die doppelte Größe angeschwollen und transportfähig war er keineswegs. Aber er kaufte sich ein entsprechendes Attest und flog mit den kaputten Knochen nach Hause, weil er, so sagte er, in Thailand so oder so gestorben wäre im Krankenhaus. Er wurde mit einem Schlauch durch die Nasenlöcher ernährt. Manchmal bat er mich, seine Pfeife zu halten, damit er trotz der verbundenen Hand Gras rauchen konnte. Bier goss er sich im Waschraum durch einen Trichter in die Nase. Ich weiß nicht, wie er noch leben könnte.
Einmal schlich ich mich abends aus der Klinik und machte einen Spaziergang im Park. Ich ging und hörte ein leises Klacken, das mich begleitete. Ich drehte mich um, niemand da. Kein Steinchen im Profil der Sohle. Nach einer Weile merkte ich, woher das Geräusch kam, und es lief mir kalt den Rücken herunter. Ganz leicht stießen bei jedem Schritt die losen Unterkieferstücke gegen den Oberkiefer. Es waren meine Zähne, die mir dumpf und haltlos im Munde klapperten. Ich war nichts als mein eigenes Gespenst, das um die Häuser zog.