Andreas Louis Seyerlein

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18.02 UTC – Ich kam mit dem Zug nach Venedig, trat auf den Vorplatz des Bahnhofsgebäudes, hörte, vertraut, das Brummen der Vaporettomotoren, bemerkte das dunkelblaugraue Wasser, und einen Geruch, auch er vertraut, der von Wörtern noch gefunden werden muss. Und da war die Kuppel der Chiesa di san Simeone Piccolo im Abendlicht, und es regnete leicht, kaum Tauben, aber Koffermenschen, hunderte Koffermenschen hin und her vor Ticketschaltern, hinter welchen geduldige städtische Personen oder Furien warteten, die das ein oder andere Drama bereits erlebt hatten an diesem Tag wie an jedem anderen ihrer Arbeitstage. Und da war mein Blick hin zur Ponte degli Scalzi, einem geschmeidigen Bauwerk linker Hand, das den Canal Grande überquert. Ich will das schnell erzählen, kurz hinter Verona war ich auf den Hinweis gestoßen, es habe sich dort nahe der Brücke, vor den Augen hunderter Beobachter aus aller Welt, ein junger Mann, 22 Jahre alt, der Gambier Pateh Sabally, mittels Ertrinkens das Leben genommen. Ein Mensch war das gewesen, der auf gefährlicher Route das Mittelmeer bezwang. Niemand sei ihm zu Hilfe gekommen, ein Vaporetto habe angehalten, man habe einige Rettungsringe nach ihm geworfen, aber er habe nicht nach ihnen gegriffen, weshalb man eine oder mehrere Filmaufnahmen machte, indessen man den jungen Mann ermutigte: Weiter so, geh nach Hause! Das war im Januar gewesen, das Wasser der Kanäle kalt wie die Betrachterseelen. In diesem Augenblick, als ich aus dem Bahnhof in meinen venezianischen Zeitraum trat, war keine Spur der Tragödie dort unter dem Himmel ohne Tauben zu entdecken, außer der Spur in meinem Kopf. – stop

8.15 UTC – In der vergan­genen Nacht habe ich geträumt, wunder­bare 5 Jahre lang geschlafen zu haben. Als ich erwachte fühlte ich mich wohl, dann bemerkte ich, dass ich im Wasser stand bis zum Bauch. Das Wasser war warm, es roch nach Tang und nach Salz und nach Öl in diesem Augen­blick des Erwa­chens. Ich hörte vor dem Fenster die Stimmen spie­lender Kinder. Ich sah mich um und dachte: Was für ein schöner Anblick, all diese Lichter, es muss Nacht sein, Schiffe fahren herum, die von Vögeln gezogen werden, als wären sie Pferde. Dann erwachte ich erneut. Es war früher Morgen, anstatt Kinder­stimmen, hörte ich die hell pfei­fenden Stimmen einiger Seemöwen. Ich trat an ein Fenster, sah auf den Hof. Da waren tatsächlich Möwen. Sie versuchten Müll­tüten zu öffnen. Manche der Müll­tüten lagen auf dem Boden, andere hingen in den Bäumen. Ich fand, die Möwen waren nicht sehr geschickt im Öffnen der Müll­tüten. Plötz­lich hüpften Kinder auf der Gasse herum. Sie trugen Schul­ranzen auf dem Rücken und Tele­fone mit Bild­schirmen in ihren Händen. Immer wieder blieben sie stehen und steckten die Köpfe zusammen und lachten. Ich bemerkte, dass der Oleander vor dem West­fenster im Hof zu blühen begann. Es waren rote Blüten. Gestern Abend habe ich Menschen beob­achtet, die auf dem Markus­platz um eine Öffnung im Boden standen, aus welcher Wasser sickerte. Sie foto­gra­fierten, aber das Wasser war sehr wenig, weswegen sie heran­zoomen mussten. Auch waren da Menschen, die Tango tanzten nach Melo­dien eines Kaffee­haus-Orches­ters. – stop

> particles

20. Februar 2019 21:25










Konstantin Ames

Bresemann (Sapperlotstadt)

Stand die Frage im Raum, was reimt sich auf Deutsch

Auf Deutschland, Tom, reimt sich Leutnant Scheutland … wetten … Gleich
neben Staatlich Fachingen liegt die Akademie zum Heilwasser · Daneben
liegt Syndikalistisch Langenscheid · Hinzugehöriger Reim zu drastisch

Wir sind nicht ganz berufsjugendstilbefreit · Graefe ruft Katzbach · Von Korf
bis Rühmkorf sagen sie Landschaft · Meinen Verzierungen für ihre Stiefelschrift
Sag mal Grastisch · Spitzen spürn nix · Was bringt Raffkes Feinschliff?

Gemeinschaftsleistungen wichtiger als Leistungslyrics? Würden sie doch wissen
müssen · Wie hältst denn du das mit der Kunstrelijon (an unserm Nixnutzeteich)
mit Abwehrzauber gegen Pestgedichtgestank von Lyriklokusfluppen?

Wer Blödigkeit angeschaut mit Augen, ist dem Rufmord schon anheimgegeben

ich Sarg sag nicht gar nüscht · Bloß nicht mehr als: Ey, Lyrikfokusgruppen-
member, keiner erwartet von dir noch Mumm · Sag dein Sprüchlein · Nimm dein
gelbes Geld · Geh heim auf deine Mogelweide zu den andern Enjambements

Wir sehen uns wieder in Wessobrunn oder Rott
bejubelnd die Rehlein, von Korf bis Rühmkorf, unterm Kapott.

12. Februar 2019 12:31










Mirko Bonné

Wege durch den Spiegel

Im Nachtwind Gespenster, die Äste, wie sie so
schwanken, mich erinnert das schwarze Fenster
an mein Jungsgesicht, ein Beben war es ja eher,
Gezittere, dieses Schwanken, und innen Zweifeln,

oder täusche ich mich? Ich sehe sie noch vor mir,
meine Augen, immer ist da dasselbe so rastlose
Blicken, ein Unwissen, Rätseln, Erratenwollen,

ja. Mit demselben Gesicht saß ich als Schüler
weinend auf dem Sockel des Spiegelschranks
meiner Großeltern. Blickte tief in den Schmerz,
aber half der Blick? War er poetisch? Mein Opa,

zwar tot, doch spielte eine umso größere Rolle,
er wurde erzählt, neu erfunden. Ein Vierteljahr-
hundert lang wehrte sich meine Großmutter

gegen das Erlöschen, und in ihrem Gesicht
sah ich Chemnitz, grün die Straßen vor dem
Krieg, die Tram in Lodz, verrußt ihre Fenster,
Flucht nach Westen, Flucht nach Süden, Groll

über Schuld, Flucht in Erinnerungen, Scham
vorm eigenen Dünkel, Festhalten am Osten,
Ordnen wertloser Papiere … Die See ist glatt,

bei Hohwacht Spiegel. Der goldengrüne Wald,
gewachsen bis zum Küstensaum. Alte spazieren
den Strand entlang, Enkel toben. Geister treiben im
dunklen Meer, und ich hinterm Fenster, am Schreiben.

*

11. Februar 2019 22:14










Konstantin Ames

Lasker-Schüler (Prinzengeräusch, big Guru.de-Verscheuche)

ein Leben ganz nach Rimbaud     nur liebenswert           mehr Witwe Cliquot

individualistisches Schlafrock-     ’s Künstlertum               der Haare Graues

schlaues Theben einer Prinzin        Jedermanns         Haar geht an der Kette

jeder Zahn ein Chormitglied          Intrikatesse        geht mir nicht ausm Ohr

das ist der Massenschlupf der       Kriebelmücke           in deinen Kopfofen


Festival zartester Muscheln             bloß Farben                von Interesse

Liebhaberwert ist kein sym-             Metrisches                Wort word poetry

posiastischer minister of                    in Sekt                         eingelegte

spoken Spukgeschichte           Anfang vom Lid                      Hechtin


feststeckend im Skilift.

7. Februar 2019 13:11










Christian Lorenz Müller

ROMANTIK IM ZEITGENÖSSISCHEN GEDICHT

Der kahle Baum vor dem Display,
vor der Fensterscheibe:
Unverwechselbarer Fingerabdruck
einer Linde.
Ein Gedicht öffnet sich
während der Zug anfährt,
die Landschaft zu wischen beginnt.
Dunkelnde App
eines Dezemberabends,
das Blinken des Bildschirms
oder das von Straßenlaternen,
dann das Google-Weiß einer Wiese
auf der noch Schnee liegt.
Kurz der Wunsch
etwas auf den Eingabebalken
eines Feldwegs zu schreiben, vielleicht
„Romantik im zeitgenössischen Gedicht“,
bevor ein Regenschauer
das Display spidert,
bevor es schwarz wird
weil der Zug
im Waldesdunkel stehenbleibt.

6. Februar 2019 18:07










Konstantin Ames

Ehrenstein (Eineiigkeitsideen)
Zuchttauben tropfen von den Drähten. Das nennt
Feinsinniger Regen tropft aufs äußere Tier. Das nennt
Geld, Charles, verdummt Dichter. Nennt das
Schenke. Vor allem schenke aus. Das nennt
Techné: penisbeinernes Dorf ohne Außenseiter. Nennt das doch
Rabe, ey, knabbernder Rabe, ey, futtert deine Hosen. Das nennt
Kerndörffer die Lehre vom Kleister. Das nennt
im gelben Winter man man. Das nennt
man Versschinden (weiß) im Grenzland. Das nennt
Ornament.
30. Januar 2019 17:49










Gerald Koll

Geisterinsel

Lanzarote ist eine Geisterinsel, bewacht von César Manrique.


30. Januar 2019 17:13










Julia Trompeter

Immer kein Telefon

Milchschorf, der unter den Nägeln hängt,
bange Bitten zwischen ungeweinten Tränen,
nicht geschlafene Nächte – und Tee, der
auf Zedern quellt und Blicke lenkt,
und das letzte Mal ist lange her.
Nirgends ein Zipfel mehr von dir,
nicht mal das ungemachte Bett, auch nicht
mein ungemachtes Haar, das Textchen hier,
der Anrufantwortpiepton schweigt, der Schlingel –
nur bei den Nachbarn ist noch Abendbrotverzehr.
Ich hab den Alltag in der Poesie verloren,
ich hab als Mutter keinen Sinn für die Natur,
es ist im Schornstein noch kein Qualm geboren,
ich bin so müd, ich glaub, ich träum das alles nur.

27. Januar 2019 20:08










Tobias Schoofs

IN IMOLA

leonardo erklärt den vetruvischen mann
und niccolò staunt als cesare den raum

betritt wird geschwiegen leonardo sagt
er bring uns die pläne und sie studieren
stadtbefestigung und niccolò zieht sich

zurück und bewundert im schatten der
schwärme von fliegen vorm fenster die
methoden des principe leonardo geht

später spazieren wo es weniger stinkt
und zeichnet vogelschwärme im flug

20. Januar 2019 20:47










Christine Kappe

philosophiert

Auf dem Weg zur Arbeit
im Dunkeln
philosophiert
Warum sterben wir

Wenn wir nicht stürben
wäre an uns doch irgendsoeine Art Leine
die uns mit ewigem Leben versorgt
Und die würde beim Radfahren stören

17. Januar 2019 21:15










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