Christine Kappe
Stadt Strand Petersburg
Gegen Abend würden die letzten Wolken über dem Meer verschwinden und einen anderen Kontinent sichtbar werden lassen. Was hier angespült wird – die letzten Dinge. Auf jeden Fall eine Krankheit – die Sommersprossen auf den Wellen. Nichtzerplatzende Blasen, zögerndes Geschäum. Mal hierhin fallend – mal dahin, hinüber. Fäden einer geheimen, sich unaufhörlich selbst schreibenden Schrift. Der Müll? Verändert szenenartig seine Lage. Ist Statist. Tanz der Hüllen am Strand. Tanz auch von etwas Unbestimmbarem, was die Möven ausgepickt haben, Schalenleben. Der Übergang zwischen Luft und Wasser bleibt Geschichte des Meeres. »Über austrocknende und nichtaustrocknende Pfützen.« Dazwischen ein rostiger Wasserhahn, aus dem der Wind sich einen dünnen Strahl zieht.
12. Juni 2019 14:00Christian Lorenz Müller
DREI APHORISMEN FÜR EHEMÄNNER
Sie war seine Sonne. Wie erstaunte er, als er bemerkte,
dass sie sich selbst verzehrte, um ihr Licht auf ihn zu werfen.
Die Ehe ist eine Prüfung. Nicht selten gibt ein Partner,
der keinerlei pädagogische Fähigkeiten besitzt,
ganz besonders strenge Noten.
Der Hochzeitstag birgt die Erinnerung an ein Versprechen,
aber nicht jeder Ehemann, der ihn vergisst, hat es gebrochen.
12. Juni 2019 08:20
Björn Kiehne
Der sechste Kontinent
Du hast ein schweres Herz
hat man mir gesagt
geh niemals schwimmen
du ertrinkst
Aber ich bin in immer
kleinere Häuser gezogen
leichter geworden bis ich
in diesem Körper ankam nur
noch den Geist als Fenster
Ich riss es weit auf!
Nun liegt er vor mir
die Inseln wie Trittsteine
in seine Freiheit
der sechste Kontinent –
das strahlende Meer.
Samos, Sommer, 2019
11. Juni 2019 10:05Julia Trompeter
Immer bei Regen ziehen Schwaden von Zigarre
vom Innenhof hinauf zu mir und den Meinen,
die mir nicht gehören, und vernebeln unsere Luft,
die wir abwechselnd ein- und ausatmen, ein und aus, und ich frage mich:
Wer im Hinterhaus raucht hier Zigarre?
Das lesbische Paar mit den winzigen Töchtern, die nie schlafen, ist es nicht
Der Geiger mit der Armprothese, der unendlich üben kann, ist es nicht
Die verräterische Oma mit dem Veilchenparfum ist es nicht
Die Stadtreinigung ist es nicht
Auch Bob Dylan ist es wahrscheinlich nicht
Bleibt noch der Hofhund wider Willen
Bleibe noch ich, vor Jahren
Bleibt noch
x
6. Juni 2019 19:52Christine Kappe
Regenschirm, Taschenlampe, Taschenmesser
Landkarte nicht vergessen
An der Trampe wartet schon
die Dunkelheit auf mich
Gleich das erste Auto hält
Zwei junge Typen, kaum älter als ich
Sie fahren wie die Henker
Und nur bis zum nächsten Dorf
Aber dann habe ich schonmal ein Stück geschafft
Hätten wir bloß nicht meine Cousine überholt
Sie wird mich verpetzen
Aber erst nach der Tagesschau
(work in progress: Kindheitsgedichte)
6. Juni 2019 09:25Hans Thill
Die orphischen Dörfer
DAS NÄCHSTE DORF so dahingesagt und dann wieder weggequatscht. Hat man es verstanden, ist es ein Wald vor lauter Bäumen oder eine Liebe, die mit ihrem Tüchlein in der Lichtung steht. Das Dorf der Tiere? Anderswo. Frag einmal Marie Laurencin mit dem Blauen Denim aus Nîmes. Frag einmal die Hutfrauen, eine nach der anderen, ob ihnen die Obacht schwer fällt.
4. Juni 2019 09:47Hendrik Rost
Vorletzte Dinge
31. Mai 2019 14:28Küss mit, wo geküsst wird.
Stirb mit, wo gestorben wird.
Stell Thesen auf, wo eine Vase ist.
Christian Lorenz Müller
UKRAINISCHE FELDER
Einheitlich marschieren sie
morgens hinaus auf die Felder,
alle in Gummistiefeln
und mit der Hacke über der Schulter,
der wirkungsvollsten Waffe
gegen das Unkraut seit Jahrhunderten.
Gewinkeltes Bajonett,
fährt sie blitzend in die Erde.
Bald werden Karotten und Rote Rüben
auf den Beeten exerzieren,
werden Erdäpfel stramm in Reihe stehen
während weit im Osten
der Spelz der Patronenhülsen
auf dem Boden liegt,
sich die leeren Schalen der Granaten
wie ausgehöhlte Kürbisse
neben den Geschützen stapeln.
Wer dort zur Hacke, zum Spaten greift,
sät mit den Minen Tod und Verderben
oder gräbt eine notdürftige Stellung,
Ackerfurche der Angst
in schwarzer, fruchtbarer Erde.
Hans Thill
Die orphischen Dörfer
DAS NÄCHSTE DORF trocken wie Reis, bevor ihn die Mäuse fressen. Dicht an dicht bei den Säcken die Sicherheitsleute, im Ohr einen Knopf, die Fäuste in die Hüften gedrückt. Dahinter zählte man das Geld und stopfte die Patronen. Die aufrechten Männer, schwarz und muskulös wie Traktoren. Im Zwischenraum ein lockiges Wesen, das keiner bewachte. Mariezibill hätte anders ausgesehen. Man glaubte ihr Bild auf den Banknoten zu sehen, aber das war schon so verschwommen. Das Reisig band man zu Besen, denn plötzlich regnete es Rost. Oben in den Alpen, oben in den Alpen.
29. Mai 2019 17:03