"Nie habe ich von Pater G. erzählt, aus Angst, man könne mir anmerken, dass ich sein Kind geblieben bin." "Meine Eltern hatten mich der Gemeinschaft der Patres anvertraut, weil mich dort das Beste, das selbst sie mir nicht geben konnten, erwarten würde. Ich habe sie heimlich oft verflucht, weil sie mich nicht darauf vorbereitet hatten, was dieses Beste sei ..." Als Zehnjähriger wurde Josef Haslinger Schüler des Sängerknabenkonvikts Stift Zwettl. Er war religiös, sogar davon überzeugt, Priester werden zu wollen, er liebte die Kirche. Seine Liebe wurde von den Patres erwidert. Erst von einem, dann von anderen.
Ende Februar 2019 tritt Haslinger vor die Ombudsstelle der Erzdiözese Wien für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Dreimal muss er seine Geschichte vor unterschiedlich besetzten Gremien erzählen. Bis der Protokollant ihn schließlich auffordert, die Geschichte doch bitte selbst aufzuschreiben."
"Würdenträgern" ausgeliefert
Soweit die Verlagsbeschreibung. Mein Fall, wird zum Fall der Leserin und des Lesers; zur Betrachtung der eigenen Geschichte oder der "Gehörten" Erzählungen; zur Nachbetrachtung diverser Medienrufe über die Zeit hinweg, wo die Kirche ihren Einfluss noch weitaus mehr strecken konnte in das Leben der Menschen hinein. Für mich als Leser am berührendsten die Verlorenheit der Schüler, herausgerissen aus dem Alltag der Familie, in die Hände der "Würdenträger" ausgeliefert; da und dort nicht zuhause; geleitet von einem Erzieher, der sogar etwas "nettes" an sich hatte; nur das Nette ins Benutzt werden abgedriftet ... Schwere Kost und großen Respekt vor der Veröffentlichung des Eigenen. Danke Herr Josef Haslinger für das Buch.
Mein Fall, keine Novelle, Erzählung oder Roman - mein Fall. Verziert mit einem Jugendbild, welches am Rande des Einbandes steht und nicht zur Gänze sichtbar wird; geschniegelt und gekampelt, sowie es "damals" üblich war, Fotografien vom Fotografen des Ortsvertrauen im besten Anzug, da ja das Bild etwas besonderes sein sollte; für einen besonderen Lebensweg. Das milchige Weiß im Hintergrund als Botschaft für die Unschuld der Kirche ...
Kein Entrinnen
Das kleine S. Fischer-Emblem könnte einen nackten Mann darstellen, der ein schweres Netz, aus dem es kein Entrinnen gibt, im Rückwärtsgehen vor sich her schleppt im kreisrunden Lebenslauf. Vielleicht entreißt ein Windstoß das Netz aus den Händen und der Niederschlag der Jahre macht es brüchig und löchrig und damit einhergehend die Hoffnung auf ein "gutes Leben".
Die Möglichkeiten, mit dem umzugehen, was einem widerfahren ist, sind vielfältig - die Veröffentlichung eine große davon. Mutig sich der "Klasnic-Kommission" zu stellen und das Durchlebte wieder zu durchleben.
Verharmlosungsmodus
"..., dann ist es umso erstaunlicher, dass plötzlich in der Vorsitzenden dieser Kommission der Verharmlosungsmodus gegenüber der Vergangenheit durchbricht, der mir, auf andere Weise, nicht fremd ist. Mir kommt es so vor, als hätte er etwas zutiefst Österreichisches, weil er tatsächlich im ganzen Land anzutreffen ist."
In der österreichischen Meisterschaft des Umganges mit Althergebrachtem, ist das gut Gemeinte, an erster Stelle. "Mein Mitschüler gestand mir, wie schwer er sich im Leben damit getan habe, seine Autoritätshörigkeit abzulegen, und nannte mir Beispiele seines unsinnigen Wohlverhaltens. ... Wir seien zu Opportunisten erzogen worden, zu Gefallsöhnen, gezwungen zur Selbstaufgabe, um uns geliebt zu fühlen." Unbedingte Leseempfehlung.
JOSEF HASLINGER. MEIN FALL. S. Fischer Verlag. 2020. ISBN 978-3-10-030058-4