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„Es kam zu regelrechten Kämpfen im Innern der Erde gegen den wühlenden, unsichtbaren Feind, dessen Herannahen man nur unbestimmt und ungefähr an den dumpfen Geräuschen in den Eingeweiden der Berge ahnte.“ Uwe Nettelbecks Buch „Der Dolomitenkrieg“ erinnert an eine sinnlose, menschenverachtende Auseinandersetzung. Es ist neu erschienen. Das Nachwort schrieb Detlev Claussen.

Nachwort zu Uwe Nettelbecks »Der Dolomitenkrieg«

Weltgeschichte in der Nähe

Von Detlev Claussen

Giovanni (Hans) Glauber (1933-2008) gewidmet, der mich lehrte, sehenden Auges durch die Dolomiten zu laufen

…in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der g e s c h e h e n muß, was man sich nicht mehr v o r s t e l l e n kann, und könnte man es , es geschehe nicht -; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht…
Karl Kraus, In dieser großen Zeit, 5. Dezember 1914

„Unsäglich waren die Leiden in den Hochstellungen. Bei 40 Grad minus versagten alle Schutzmittel. Besonders gefährlich wurde die Kälte auch durch den Umstand, dass die Schusswaffen durch sie unbrauchbar wurden.“
(N,D,22f)

„So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts.“
Robert Musil

„Der Dolomitenkrieg“ erschien 1976 in der Textsammlung „Mainz wie es singt und lacht“ von Uwe Nettelbeck und separat erstmals 1979. In Erinnerung blieb das rosa Papier dieses schmalen, von viel Titeltext begleiteten schwarzen Bändchens aus dem Verlag Zweitausendeins, der Ende der siebziger Jahre den etablierten Buchhandel und seine Vertriebswege in Deutschland angriff. Auch Uwe Nettelbeck suchte nach neuen Verbreitungsmöglichkeiten seiner Texte, nachdem er 1969 dem in Westdeutschland etablierten Journalismus den Rücken gekehrt hatte und seine eigene „Fackel“, genannt „Die Republik“, zuerst in der niedersächsischen Pampa, später in einem französischen Landhaus produzierte. Die empirische Bundesrepublik versank, als der „Dolomitenkrieg“ veröffentlicht wurde, gerade in einer „bleiernen Zeit“ und die von Helmut Kohl propagierte „geistig-moralische Wende“ stand unmittelbar bevor. Als Zweitausendeins Uwe Nettelbecks, fern vom Schuss publizierte Texte auf den Markt warf, überrollte gerade ein Tsunami gedruckten Papiers die Republik. Zeitgleich konnte man bei Zweitausendeins Karl Kraus´ gesamte „Fackel“ preisgünstig erwerben – bis dahin besaßen in Westdeutschland nur wenige Bibliotheken Exemplare. Das gedruckte Wort war billig geworden.

Der Name Uwe Nettelbeck (1940-2007) begann in der Öffentlichkeit, als Zweitausendeins sich der Verbreitung seiner Schriften annahm und auch den „Dolomitenkrieg“ auf den Markt warf, zu verblassen. In den sechziger Jahren kam der Leser der Hamburger linksliberalen Presse kaum an Uwe Nettelbeck vorbei. Seinen Namen hatte er sich mit Filmkritiken in der ZEIT zu machen begonnen, die sich heute lesen wie Briefe zur ästhetischen Erziehung der Bundesrepublik. Es ist zu hoffen, dass Uwe Nettelbecks Gerichtsreportagen aus der zweiten Hälfte der sechziger Jahre auch bald wieder nachzulesen sein werden. Auch ihnen gebührt ein dokumentarischer Rang; denn es handelt sich um die Jahre, in der die bundesrepublikanische Justiz einen autoritären Staatsapparat repräsentierte, der sich von 1967 bis 1969 durch eine antiautoritäre Protestbewegung herausgefordert sah. Der unbestechliche Journalismus Nettelbecks geriet bald in Konflikt mit der liberalen Verlags(real)politik der großen Hamburger Häuser. Für kurze Zeit übernahm er 1969 die Chefredaktion von konkret, die von dem skrupellosen Medienmacher im Kleinformat Klaus-Rainer Röhl dirigiert wurde. Röhl war jedes Mittel recht, um sich eine Marktnische links von SPIEGEL und ZEIT zu erobern. Zu den Redakteuren zählten damals Ulrike Meinhof und Stefan Aust. Zerrissen zwischen Marktkonformismus und der Angst, links von irgendjemand überholt zu werden, ließ sich nicht nur nicht gut schreiben, sondern auch schlecht eine lesbare Zeitung machen. Uwe Nettelbeck schied aus dem Geschäft aus. Die später in eigener Regie verantwortete „Republik“ scheint die logische Konsequenz aus diesen Erfahrungen. Andere gingen andere Wege.

Als Uwe Nettelbeck das zumindest im Niveau sinkende Schiff des westdeutschen Kulturbetriebes verließ, glich sein Handeln einem publizistischen Freitod, der ihm schon damals empörte Nachrufe eintrug. Leute, die an Deck blieben, warfen dem über Bord Gesprungenen, ein paar ärgerliche Worte hinterher oder weinten ein paar journalistische Krokodilstränen, die schon beim Schreiben wieder trocknen. Aber Totgesagte leben länger; die Hefte der „Republik“ wirken wie eine Armada von Rettungsbooten des freien Schreibens. Mit „Mainz wie es singt und lacht“ zeigte Uwe Nettelbeck in den siebziger Jahren allen, die es nicht wissen wollten: „Meins bleibt meins“. „Der Dolomitenkrieg“ heißt Uwe Nettelbecks schönstes Rettungsboot, das aber bei Zweitausendeins am Rande des Maelstroms der Vermarktung entlang trieb. Zu Werbezwecken nutzte man gute und böse Worte der weiterhin abhängig Schreibenden. Sie finden sich am Ende und auf dem Rücken der Einzelausgabe von 1979. Beim heutigen Lesen 2014 hat jedes Kollegenwort über den Totgeglaubten etwas Nekrologisches.

Hellmuth Karasek, Jahrgang 1934, 1968 als Theaterkritiker der ZEIT Kollege von Uwe Nettelbeck, später Stichwortgeber des medialen Literaturpapstes im exemplarischen ZDF-Literaturunterhaltungsprogramm „Das literarische Quartett“, nahm sich im „Spiegel“ (17/1976 „Eine Scherbenwelt aus Zitaten“) des Vergleiches Nettelbeck und Kraus an – Karasek glaubte sogar entdeckt zu haben, bei „Mainz wie es singt und lacht“ handele es sich um „die mit fremden Zitaten belegte Autobiographie des Autors“: „Und – wie bei Kraus – sind die Zitate meist mehr als nur ein hämisch gedrehter Strick für den, der sie abgesondert hat. Sie sind zugleich generalisierende Kommentare zur Gegenwart. Nettelbecks Buch ist die verletzende Kulturgeschichte eines Verletzten.“ Diese gönnerhaften Relativierungen von der Brücke des Infotainmentdampfers lassen den einsam Rudernden als Epigonen erscheinen, ein vergiftetes Lob – „ein Nachfolger von Karl Kraus“. Da kann der neidische Kollege Wilhelm Bittorf (1929-2002) sogleich im „Spiegel“ (42/1976 „Karl Kraus, klein geschrieben“) nachhaken: “Was der Vergleich zwischen der >Fackel< und der >Republik< vor allem offenbart, das ist nicht nur der Abstand zwischen den beiden Herausgebern, sondern weit mehr noch der Kontrast zwischen den Erscheinungszeiten zwischen dem ersten und dem letzten Viertel dieses Jahrhunderts. Wo gibt es heute schon eine Gelegenheit wie die Mobilmachung von 1914?“, fragt Bittorf 1976 mit kühner Rhetorik. Bittorfs publizistisches Todesurteil über den Herausgeber der „Republik“ verdient es zitiert zu werden: „Kohlhaasiade eines Selfmade-Märtyrers der Publizistik“.

Wer den „Dolomitenkrieg“ gelesen hat, wird nichts von all dem finden. Was Uwe Nettelbeck bewogen hat, in den siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts ein Buch über einen Nebenschauplatz des Ersten Weltkrieges zu machen, weiß ich nicht. Aber was beim Lesen der montierten Zitate ins Auge springt, die 1914 mit der Gegenwart verbinden, sind die Grausamkeiten des Journalismus, die alle Bittorfschen „Gelegenheiten“ von 1914 bis 2014 begleiten. Karl Kraus hat es einmal wieder schon gesagt: „Der Journalismus dient nur scheinbar dem Tage. In Wahrheit zerstört er die geistige Empfänglichkeit der Nachwelt.“ Eine Hochschulausbildung für Journalisten , die noch zu Kraus´ Zeiten unüblich, aber zu Nettelbecks Zeiten gang und gäbe wurde, hat die Qualität des Journalismus keineswegs verbessert. Für gebildete bundesrepublikanische Autoren war Karl Kraus eine Autorität, die in ihren Augen – Gott sei Dank – aber längst verstorben war. Walter Benjamin, der in den siebziger Jahren gerade begonnen hatte, posthum bei Geistesschaffenden zu einer Autorität zu werden, hat das „Geheimnis der Autorität“ in seinem Essay „Karl Kraus“ ausgesprochen: „Es gibt kein Ende der Autorität als dieses: sie stirbt oder sie enttäuscht.“ Wenn aber ein Nachgeborener wie Nettelbeck Kraus nicht als toten Hund behandelt, sondern das Montageverfahren, das auch Benjamin zur Methode des eignen Opus Magnum, der Passagenarbeit, gewählt hatte, zur Perfektion vorantreibt, dann bedrohen diese einsamen Schriften von außen den journalistischen Betrieb innen. Für Journalisten gibt es keine schlimmere Schreckgestalt als eine Autorität, die lebt. „Der Dolomitenkrieg“ macht Kraus und Benjamin lebendig.

Karl Kraus hatte schon vor 1914 – er brauchte keine „Gelegenheit“ – erkannt, wie sich Worte vom Leben trennen: „Die Zeitungen haben zum Leben annähernd dasselbe Verhältnis , wie die Kartenaufschlägerinnen zur Metaphysik.“ Worte, die ihre Beziehung zum Leben verlieren, heißen Phrasen. Gegen sie hatte Kraus einen hoffnungslosen Kampf aufgenommen: „Endlich hat er seine gesamten Energien im Kampfe gegen die Phrase zusammengefasst, die der sprachliche Ausdruck der Willkür ist, mit der die Aktualität im Journalismus sich zur Herrschaft über die Dinge aufwirft.“ Uwe Nettelbeck hat diesen Kampf in „Mainz wie es singt und lacht“ wieder aufgenommen und weiter geführt. Aber ein Gebirgskrieg gegen die übermächtige Gewalt der Phrase lässt sich nicht gewinnen. „Der Dolomitenkrieg“ – ein Krieg , der sich nicht gewinnen lässt – ist ein solcher Krieg, – im Leben wie im Text. In Nettelbecks „Dolomitenkrieg“ dominiert nicht die journalistische Aktualität, nicht einmal die im heutigen Medienbetrieb beliebte Pseudoaktualität des Gedenktages. Der „Dolomitenkrieg“ reproduziert keine „Lehren der Geschichte“, nicht wird die abgedroschene Erzählung von anfänglicher Kriegsbegeisterung und späterer Kriegsmüdigkeit noch einmal strapaziert – auch gibt es keine unmittelbare Antwort auf die Frage „Wer ist schuld?“, auf die in Deutschland gerne immer noch die unverbindliche Antwort „alle“ (und das heißt „niemand“) allzu gerne gehört wird. Der „Dolomitenkrieg“ berichtet vom Verlust von zuerst Vernunft, dann von Verstand und schließlich von einem Krieg, der zur zweiten Natur wird, die eben kein Ziel kennt, sondern in der zivilisatorischen Naturkatastrophe endet. Erste und zweite Natur verschmelzen – keine Herrschaft über die Dinge, die Journalismus und öffentliche Gedenkpraxis versprechen, sondern – in altmodischer Begrifflichkeit: Verdinglichung.

Vom Dolomitenkrieg gibt es nicht viel zu erzählen. Auf ihn muss man hingewiesen werden. Die Hauptkriegsschauplätze lagen woanders. Immer wieder wurden Truppen zu den berühmten Schlachten am Isonzo abgezogen; aber gerade deshalb muss man sich fragen, warum hat man so viele Kräfte in engen Tälern und auf hohen Bergen gebunden, wo eine endgültige Entscheidung nie herbeigeführt werden konnte? Den aktiven Soldaten blieb der Sinn des Ganzen verborgen; deswegen konnten sie auch nur wenig erzählen. Ein sprachgewandter Mann wie Robert Musil, selbst aktiver Kriegsteilnehmer des Dolomitenkrieges, notierte lapidar: „So sieht also die Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts.“ Uwe Nettelbeck findet die Worte wieder, die den Beteiligten ausgegangen sind; aber es sind nicht ihre Worte, sondern die Worte derer, die über den Krieg schreiben – ohne alle Erfahrung. Die Wiedergabe der Worte in zeitlich-räumlicher Distanz zum Geschehen machen sie als Phrasen sichtbar – tote Wörter, in denen der Todesschrecken der lebendigen Teilnehmer eingefroren ist – verbale Masken des Grauens.

Erfahrungsverlust und Verstummen gehören zusammen. Erst lange nach dem Krieg haben die Zeitgenossen Worte für diese paradoxe Erfahrung gefunden; am prägnantesten Walter Benjamin: „Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, dass die Leute verstummt aus dem Felde kamen? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre später in der Flut der Kriegsbücher ergossen hatte, war alles andere als Erfahrung gewesen, die von Mund zu Mund geht. Und das war nicht merkwürdig. Denn nie sind Erfahrung gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“

Die ersten, die diese neue Sprachlosigkeit als neue Erfahrung ernst nahmen, waren Sigmund Freud und seine Schüler Karl Abraham, Sandor Férenczi und Ernst Simmel: Kriegsneurosen. Paul Parin, der nach Erfahrung bei den jugoslawischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg seine eigenen Erfahrungen mit Kriegsneurosen gemacht hatte, konstatierte rückblickend: „Die seelischen und moralischen Schäden, die jeder Krieg hinterlässt, sind ungeheuer. Kein Psychiater und kein Psychoanalytiker kann sie richtig beschreiben, geschweige denn heilen.“ bAber es gibt Unterschiede, die es zu beachten gilt: „In früheren Kriegen hatten Kriegsneurosen stets den verborgenen Sinn, einem unerträglichen Geschehen zu entrinnen. Wo es keine Möglichkeit zur Weigerung gab, Desertion mit dem Tode bestraft wurde oder allein der Gedanke an Aufhören und Flucht unmöglich geworden war, traten krankhafte Zustände auf, die die weitere Teilnahme am Kampf physisch unmöglich machten. Bei Jugoslawiens Partisanen war es umgekehrt. Vielen war es unmöglich, den Kampf aufzugeben.“

Die Erstarrten wieder zum Leben, die Verstummten wieder zum Sprechen zu bringen – das schien die Aufgabe der Psychoanalyse in Kriegszeiten. Einige hohe Herren in der deutschen Obersten Heeresleitung wollten die Psychoanalyse einsetzen und Therapien im Lazarett finanzieren, um die psychisch Verletzten wieder kampffähig zu machen. Dieses neue Interesse für die verfemte Außenseiterwissenschaft war Freud höchst unsympathisch; aber die Erfahrungen mit den Kriegsneurosen, die Simmel und Abraham in ihren Krankenhäusern gemacht hatten, führten zu einer Verknüpfung von Individual- und Massenpsychologie in der Freudschen Theorie. Der Kriegsteilnehmer Arnold Zweig überwand mit Hilfe der Psychoanalyse seine Schreibhemmung. Es gelang ihm ein Jahrzehnt nach dem Kriegsende vom Krieg im Osten und vom Stellungskrieg im Westen ein konkretes Bild zu entwerfen, in dem der Entindividualisierungsprozess in einer kriegerischen Gesellschaft sichtbar wird. Im Kriege selbst wird nicht erzählt; selbst die Tagebücher schriftstellerischer Koryphäen wie Robert Musil lesen sich dürftig und lapidar. Geschwätzig ist nur das Hinterland. Die Wiener Presse mit ihrem Kriegsgeheul brachte den verstummten Karl Kraus wieder zum Reden und Schreiben. Uwe Nettelbeck hat den Kriegsberichterstattern des Dolomitenkrieges aufs Maul geschaut; die Texte, die er montiert, sind keine Erlebnisberichte, sondern Erzeugnisse der Etappe oder der warmen Redaktionsstube.

Einen frostigen Tiefpunkt erlebt der nachgeborene Leser an der Stelle, an der nicht phrasenhaft, sondern in sachlich wissenschaftlichem Jargon die Erfrierung (congelatio) abgehandelt wird. Atemberaubender kann einem das Leiden der Soldaten nicht vor Augen geführt werden. Vom Leben bleiben nur noch Nägel – ohne Sarg. In Robert Musils Tagebüchern findet man eine Beobachtung, die in ein solches Bild des Krieges passt: „_Tote:_ liegt einer ganz zugedeckt oder von Erde und Schnee vergraben und du siehst nur die Füße, nur die genagelten Schuhsohlen: an den Schuhsohlen merkst du, dass es ein Toter ist. (Dieses Starrste, Stahlnägel, ist in irgendeiner Weise noch starrer, darüber erschrickst Du.)“ Die Leichen sind verwest oder längst weggeräumt; aber wenn man dieses Buch gelesen hat, sieht man die Ruinen des Dolomitenkrieges mit anderen Augen, die inzwischen der Behandlung durch Erinnerung unterworfen worden sind – das heißt: In einem Urlaubsgebiet wie den Dolomiten muss die Erinnerungskultur ins globale touristische marketing passen. Weder Italiener noch Österreicher, die einstigen Kriegsgegner, möchten die Touristen – in erster Linie Deutsche, zunehmend US-Amerikaner, Japaner und Chinesen – durch lebendig gemachte Atrozitäten abschrecken. Grenzenlose Schrecken erfahrbar machen – das ist nur im Abstand möglich. Wer heute sehenden Auges, das heißt mit Vorkenntnissen, durch die Dolomiten wandert, sieht sich – wie auch in der Normandie oder bei Verdun – vor der Aufgabe, angesichts der Betonruinen und Kreuzewälder inmitten einer enthusiasmierenden Landschaft die Schrecken vorzustellen, die hier erlebt wurden. Der Musilschen Erfahrung von Weltgeschichte kommt man ganz nahe: Man sieht nichts.

Manches kann man auch gar nicht sehen, wenn man es nicht weiß. Der Dolomitenkrieg ist nicht nur ein Krieg von Mensch gegen Mensch, sondern auch von Mensch gegen die Natur gewesen. Die weggesprengten Gipfel kann kein Mensch mehr sehen; diese Veränderung der Landschaft war Resultat eines unsichtbaren Kampfes, der unter der Erde geführt wurde.: Ein Stollen untergrub den anderen, – „nach dem Motto, wer die Höhe hat, hat auch die Tiefe.“ (ND,142) Die Irrationalität der Kriegführung , die Menschen und Material verheizt, kommt in diesem grotesken Verhältnis von Höhe und Tiefe zum Ausdruck. Im Hochgebirgskrieg beherrscht keineswegs der das Tal, der Höhe besetzt hält.. Ihm fehlt die Deckung. Und die stolze Gipfelherrschaft ist wenig wert, weil sie unterminiert werden kann. „Es kam zu regelrechten Kämpfen im Innern der Erde gegen den wühlenden, unsichtbaren Feind, dessen Herannahen man nur unbestimmt und ungefähr an den dumpfen Geräuschen in den Eingeweiden der Berge ahnte.“ (ND, 19) Sieger und Verlierer begraben einander. Beide sind hilflos gegen die höhere Naturgewalt, Schneegestöber, Regen, Kälte und Lawinen. Der „Dolomitenkrieg“ liest sich auch als Lehrstück über die Gewalt: Die verselbständigte Menschengewalt findet ihr Ziel nicht in der Besiegung des Feindes, sondern in der Selbstdestruktion. Hatte Nietzsche nicht genau das uns vorausgesagt: „Sobald jetzt irgendein Krieg ausbricht, so bricht auch und immer gerade in den Edelsten des Volkes eine freilich geheim gehaltene Lust aus: sie werfen sich mit Entzücken der neuen Gefahr des Todes entgegen, weil sie in der Aufopferung für das Vaterland endlich jene lange gesuchte Erlaubnis zu haben glauben –die Erlaubnis, ihrem Ziele auszuweichen – der Krieg ist für sie ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen.“

Eine Schlüsselstelle des Nettebeckschen Buches, die der vom Kältetod durch congelatio korrespondiert, ist die Erzählung von Franz Conrad von Hötzendorf – ein General, der nicht dem exemplarischen Habsburger Untergangsroman „Mann ohne Eigenschaften“ entsprungen ist, sondern Nettelbeck liefert ein leibhaftiges curriculum vitae eines „der Edelsten“ von Österreich-Ungarn. Diese Erzählung hat Hebelsche Qualität (ND, 38pp). Die Blindheit, mit der dieser erfolglose Feldherr geschlagen ist, hat eine andere Qualität als die des kämpfenden Fußvolkes. Er übersieht geflissentlich den Klassencharakter des Krieges wie den prekären Zustand des Vielvölkerreiches Österreich-Ungarn, das längst von der nationalen Frage unterminiert worden ist. Der Gegner der alten Dynastie, die sich zögernd zu modernisieren versucht hat, im Dolomitenkrieg hieß Italien – ebenso wie Deutschland eine zu spät gekommene Nation, die noch nicht in sich gefestigt war – ein junges Italien, wie seine Gründerväter im 19. Jahrhundert sich bewusst waren, – ein Italien ohne Italiener.

Die meisten bunt zusammen gewürfelten Einheiten, die nur Offiziere und einfache Mannschaften ohne Unteroffiziere kannten, konnten sich wegen ihrer unterschiedlichen Dialekte kaum miteinander verständigen. Nur die regionalen Eliteeinheiten der Alpini, die auf ihrem hochalpinen Terrain kämpften, waren zu militärisch außerordentlichen Leistungen fähig, die aber in einem Massenkrieg dysfunktional sind. Vergleichbare Bergkrieger gab es auf der anderen Seite auch, sogar bei den deutschen Unterstützern der Habsburger Doppelmonarchie. Nach dem Krieg gänzlich funktionslos geworden, stellten sie sich als wertvolles Menschenmaterial dem aufkommenden Tourismus und der Unterhaltungsindustrie zur Verfügung. Der deutsche Bergfilm fand in der Zwischenkriegszeit in ihnen seine Pioniere und Helden.

Ich weiß wirklich nicht, warum ein weltläufiger Mensch wie Uwe Nettelbeck sich Mitte der siebziger Jahre den Dolomitenkrieg vorgenommen hat. Suchte er nach einer Urgeschichte der Gewalt, in der das short century von 1914 bis 1989 wie in einem nucleus vorliegt? Jedem, der die zweite Hälfte dieses kurzen Zwanzigsten Jahrhunderts bewusst erlebt hat, stand der Indochinakrieg vor Augen, in dem die alle natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen ignorierende Hauptkriegsmacht militärpolitisch in die Sackgasse des „automatisierten Schlachtfelds“ geriet, auf das schon die Kriegführung im Dolomitenkrieg hinauslief. Oder war es doch der massenmediale Reflex des Krieges im Film, dessen genauer Beobachter Uwe Nettelbeck seit Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit war? Film und Fernsehen ernst zu nehmen, gerade wenn sie heiter sein wollten, das tat nur eine verschwindende Minderheit unter den noch bildungsbürgerlich geprägten westdeutschen Intellektuellen. Für diese Minderheit wurde Siegfried Kracauer in den sechziger Jahren zu einer Autorität, dessen Filmgeschichte „Von Caligari zu Hitler“ 1958 endlich auf deutsch erschien und bald zum Klassiker geworden war. Filmproduktion wurde in diesem Buch ästhetisch untersucht und gesellschaftlich gedeutet. Es kann als absolut sicher gelten, dass der junge Film- und Fernsehkritiker Uwe Nettelbeck dieses Buch gelesen hat. Es enthält einen Abschnitt über den Bergfilm, der in den frühen zwanziger Jahren zu einer deutschen Spezialität geworden war. Der Bergfilm, von dem Geologen Dr. Fanck, der peinlichst bei den Credits auf seinen promovierten Status bedacht blieb, wurde mitten in der Inflationszeit begründet und hielt seine Ausnahmestellung bis zum Ende der Stummfilmperiode. Über den „Heiligen Berg“ schreibt Kracauer: “…die Vergottung von Gletschern und Felsen, wie sie in diesem Film betrieben wurde, ließ bereits jenen Antirationalismus erkennen, den sich die Nationalsozialisten dann zunutze machten.“

Die Helden dieser Filme, die in den Bergen das Elend des Krieges und der Inflation vergessen machen sollten, hießen Luis Trenker und Leni Riefenstahl. Luis Trenker tauchte in der westdeutschen Film- und Fernsehlandschaft nach 1945 auf, als ob nichts gewesen wäre, und der einstige Liebling des Führers versuchte sich auf Kosten von Riefenstahl von seiner nationalsozialistischen Vergangenheit reinzuwaschen; Beleidigungsprozessen konnte er entgehen, weil er italienischer Staatsbürger war und weder in Deutschland noch in Österreich belangt werden konnte. Luis Trenker verkörperte immer noch den deutsch sprechenden Bergmenschen aus Südtirol, dem alle Kriege und Gesellschaftswechsel nichts hatten anhaben haben können. Leni Riefenstahl, die nach ihrer bergsteigenden und skifahrenden Stummfilmkarriere zur Chefpropagandistin der Nazis aufgestiegen war, fühlte sich zu Unrecht diskriminiert, wo doch selbst Veit Harlan, der Regisseur von „Jud Süss“, wieder drehen durfte. Sie versuchte nicht nur, Tantiemen für ihre Nazifilme zu kassieren, obwohl sie gar nicht ihr, sondern der NSDAP und damit dem Rechtsnachfolger BRD gehörten. Zu Beginn der sechziger Jahre versuchte Riefenstahl, mit ihren Propagandafilmen in die Filmkunstkinos zurückzukehren. Einem scharfen Medienbeobachter wie Uwe Nettelbeck kann dieser erneute Versuch, Barbarei in Kultur zu verwandeln, nicht entgangen sein. Auch im „Dolomitenkrieg“ taucht der Naturbursche und Kriegsteilnehmer Luis Trenker wieder auf, als einer, der, nachdem die Schusswaffen wegen der Kälte schweigen, zum mittelalterlichen Morgenstern greift. Der gesellschaftlich organisierte Krieg wird rückverwandelt in einen archaischen Kampf Mann gegen Mann. So etwas kam vor, während und nach dem Faschismus beim Publikum an…

Ich weiß auch nicht, ob Uwe Nettelbeck noch die 2002 erschienene halbkritische Biographie Leni Riefenstahls gelesen hat. die sie, eine Berliner Flachlandgöre, als „Star des Bergfilms“ schildert. Riefenstahl (1902-2003) erlernte im Januar 1925 das Skifahren am Falzaregopass , der auch im Dolomitenkrieg eine prominente Rolle spielt, unter Anleitung von Luis Trenker (1892-1990) und Kameramann Hans Schneeberger (1895-1970), die eben alle drei –äußerst langlebig – vor, während und nach dem Nationalsozialismus vor und hinter der Kamera standen. Wenn diese Produktionen schon keine unschuldige Hochkultur seien, so hieß es in der deutschen Nachkriegsideologie, dann sei es doch Unterhaltung, die diesseits aller totalitären Ideologien jeder Mensch braucht. Wenn man über die Kontinuitäten deutschsprachiger Unterhaltung nachdenkt, fällt es doch wie Schuppen von den Augen. Auf das Grauen folgt nicht nur die Unterhaltung; sie hat das Grauen schon begleitet. Der „Dolomitenkrieg“ passt genau in „Mainz wie es singt und lacht“. Exemplarischen ZDF-Historienkitsch wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ (der Titel der Serienproduktion von 2013 war schon Programm ) hatte der Fernsehkritiker Uwe Nettelbeck schon in den siebziger Jahren vorweggenommen. Mainz war Mainz geblieben; doch der intellektuelle Narrenmarsch wird in ganz Deutschland gespielt und nahm nach 1990 im vereinigten neuen Deutschland Tempo auf. Er motivierte Uwe Nettelbeck, das Land zu verlassen und eine Exterritorialität in der Nähe von Bordeaux zu suchen, die an Kracauers Exilexistenz in der Nähe von New York erinnert. Seine unbestechliche Kritik am deutschen Kulturbetrieb, die den Kitt der Gesellschaft analysiert, kam von außen. Seine Autorität beruhte auf Kennerschaft; Uwe Nettelbeck hat nicht enttäuscht. Er starb nur zu früh.

In dieser Fassung des Textes wurde auf Fußnoten verzichtet.

Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlags und des Autors.

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erstellt am 07.3.2014
aktualisiert am 20.3.2014

Uwe Nettelbeck
Der Dolomitenkrieg
Mit einem Nachwort von Detlev Claussen
Halbleinen, 152 Seiten
ISBN 978-3-937834-71-9
Berenberg Verlag, Berlin 2014

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