Manifeste 14 ist eine zunächst lose Ansammlung von Manifesten der Künstler Jos Diegel, Tarik Goetzke, Norman Hildebrandt, Gian Spina und Jonas Englert zur Relevanz von Kunst. Im nächsten Schritt soll eine Symbiose entstehen, die die Rechtfertigung beziehungsweise Infragestellung der Existenzberechtigung von Kunst zum Inhalt hat. Die Manifeste materialisieren sich in Text, bewegtem Bild und Ton.

Die Probleme, die die eine Generation erregen, erlöschen für die folgende Generation nicht, weil sie gelöst wären, sondern weil die allgemeine Gleichgültigkeit von ihnen absieht.

Cesare Pavese (1908-1950)

Manifeste 14 wurde von Jonas Englert initiiert.

manifeste 14

Mütter, lasst uns wieder nach Hause kommen!

Diese Freiheit macht uns Angst.

Von Jonas Englert und Norman Hildebrandt

Ist der Autor ein Embryo, ein fünfzehn Wochen altes, so sind seine Augen bereits in Gänze ausgebildet. In der siebzehnten Woche hört er die Gedärme der Mutter arbeiten. Zwei Wochen später nimmt er ihr akustisches Umfeld wahr. Mit siebenundzwanzig Wochen sieht er die Sonne. Er sieht rot. Vier Monate später, als narrationsaffine Tabula rasa entbunden, öffnet sich der Vorhang. Das Bach’sche Präludium zur Förderung seiner postnatalen Intelligenz setzt aus. Die Vorstellung beginnt.
Nach zweimonatigem Theater können seine Augen fokussieren. Die Narration ist jetzt synchron. Farben primär primär! Gegenständlich erzählendes Vorhalten beschleunigt Farbdifferenzierung. Und dann schaut er auf die Bühne, aus sich heraus, in den Erzählraum. Tief. Er interagiert und greift nach dem Erzähler aus. Mikronarration setzt ein. Sieht er nur einen Teil eines Objektes, so kann er im nächsten Monat dessen Gesamtheit kognitiv erschließen. Er expandiert in kleine, dinglich narrative Versteckspiele auf mittlerweile pastellfarbenem Hintergrund.
Mit acht Monaten ist der Autor erwachsen. Machten seine Sehkräfte zuvor nur maximal vierzig Prozent aus, so hat seine Weitsicht eben den narrativen Klimax erreicht.

Und jetzt, jetzt sitzt er da – seit einem dreiviertel Jahr. In der Zuschauerwiege der Menschheit. Er zieht sich seine smartoperativen Schlittschuhe an und flaniert. Er flaniert, er streicht über den starren See, in den es hineinzuhandeln gilt. Da kreist er, auf dem Touchscreen, und ist kurz vorm Durchbruch, dem Einbruch. Je verdichtender er sich kreisend seiner Erzählermitte nähert, seiner Autorenidentität, desto eher läuft er Gefahr, unter die Benutzeroberfläche seiner eigenen Historie gezogen zu werden. Der Antithese, seiner emotionalen Sollbruchstelle.
Doch dann – dann beginnt er zu erzählen:

Sehr geehrte Damen und Herren, dieser Text berichtet von einer Generation, welche, unverdrossen dem Mutterleib entsprungen, unmittelbar mit dem Verfremdungseffekt konfrontiert wurde. Mit sich selbst, wie sie sich beim Wahrnehmen zuguckt. Oftmals spricht man bei solch diffusen Erscheinungen von Wolken – und der westliche Erzählhimmel ist bewölkt. Doch es regnet keine Heterotopie. Partiell notwendig, kaum existenziell, die unterleuchteten Eisschichten. Lange haben wir uns danach gesehnt. Hin. Hin zum lang ersehnten embryonalen Widerstand. Wider Verstand.
Mütter, lasst uns wieder nach Hause kommen! Diese Freiheit macht uns Angst.
Wir müssen uns unbedingt in unsere Luxusvilla zurückziehen. Unsere Real Estate Immobilie. Mit Blick aufs Meer. Die Sonne geht unter. Rot. Wir alle sitzen berührt am Strandscreen. Touché. Und wir alle fassen uns an unseren digitalen Herzenden – und enden als Streichelware in einer ganz großen Dialektikshow, einer 37,5°C wohltemperierten Narration.

Mom, Can’t We Please Come Home?

This Freedom Fills Us With Anxiety.

By Jonas Englert and Norman Hildebrandt

Though the author is a 15 week old fetus, his eyes are already fully formed. By week 17 he can already hear his mother’s intestines rumbling, and a mere two weeks later he can perceive his acoustic surroundings. When he reaches 27 weeks, he can see the sun. He sees red. Four months later, curtain opens and he is released, a tabula rasa ready for narration. The Bach prelude, that was playing in the background in the hope of stimulating the infant’s postnatal intelligence, suddenly stops. The performance begins.
After two months of theatre, his eyes can focus. The narration is now synchronous. Colors are primarily primary. Graphically told tales expedite color differentiation. And then he looks at the stage, outside of himself, into narrative space. Deep. He interacts and reaches toward the narrator. Micro-narration begins. If he sees only part of an object, he can decode it in its entirety a month later. He expands into pastel colored backgrounds through small, concrete narrative games of hide and seek.
At eight months the author has matured. Before, his sight was only 40 percent at most; but now his field of view incorporates narrative climaxes.

And now he’s been sitting there for eight months, in the human spectator scale. He dons a sensibly operative pair of ice skates and goes out for a stroll. He strolls around, skates over the frozen lake, which is ripe for action. He circles around there, on the touchscreen, and is nearing a breakthrough, the break-in. The more closely he hones in on the core of his narrator, his authorial identity, the greater the danger that he will be pulled under the user interface of his own history. The antithesis, the nominal emotional predetermined breaking point.
But then – then he begins to tell a story:

Ladies and gentlemen, this text reports on members of a generation which, no sooner had they assiduously sprung from their mothers’ wombs, were immediately confronted with the alienation effect. With themselves, watching each other while perceiving. This kind of diffuse manifestation is often referred to as clouds – and the western narrative sky is cloudy. But there’s no heterotopic rain at all. Partly necessary, barely existential, the ice layers illuminated from below. We’ve longed for ourselves for so long. Thither. Thither to long desired embryonic resistance, and with it the resurrection of understanding.
Mom, can’t we please come home again? This freedom fills us with anxiety.
We absolutely must return to our luxurious mansion. Our real estate. With a sea view. The sun is setting. Red. And at the end, we’re all sitting in front of the beach screen, touched. Touché. Because we all cling to our digital heart-ends and end up as caressable goods in a massive dialectic show – a 99.5 degree well tempered narration.

weiterlesen:

Manifeste 14

Kommentare


Pamela - ( 05-11-2015 04:20:35 )
Hallo Jonas, hallo Norman,
ich schreibe gerade an einem Vortrag über digitale Manifeste und frage mich, wie stark eure Kommentarfunktion bei den Manifesten in Anspruch genommen wurde, bzw. ob es andere Plattformen gibt, auf denen Manifeste im Netz verbreitet werden.
Für euren Hinweis wäre ich dankbar,
mit besten Grüßen
Pamela

Kommentar eintragen









erstellt am 09.3.2014

die autoren
Norman Hildebrandt

Norman Hildebrandt

2003-2010: Studium der Visuellen Kommunikation an der Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach mit den Schwerpunkten: Freies Zeichnen und Bildhauerei.
2010-2013: Doktorratsstudium der Kunst und Kulturwissenschaften an der Universität für Angewandte Kunst Wien.

Dr. phil. Norman Hildebrandt war künstlerisch/wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HfG Offenbach im Rahmen der Biennale des bewegten Bildes (BIII) und hat seit dem Sommersemester 2013 den Lehrauftrag in „Grundlagen Kommunikationsdesign“. Seine Forschungsinteressen gelten Grenzgängen zwischen Kunst, Poesie und Ästhetik. Hierzu erarbeitete er zahlreiche Texte für Ausstellungskataloge bzw. Eröffnungsreden, Zeichnungen und lyrische Schriften. Norman Hildebrandt lebt in Offenbach und Wien.

Jonas Englert. Foto: Julia Lottmann

Jonas Englert

1989 in Friedberg geboren, studiert er an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main Kunst bei Professor Heiner Blum und Professor Alexander Oppermann. Im Wintersemester 2012/13 besuchte er parallel das Institut für Angewandte Theaterwissenschaften bei Professor Heiner Goebbels in Gießen.
2012 wurde er mit dem HfG-Rundgangspreis „Dr. Marschner-Preis“ ausgezeichnet. Zuletzt erhielt er das Johannes Mosbach-Stipendium. Für die Urauffühurng unter der Regie von Tarik Goetzke am 5. Januar 2014 erarbeitete er ein Videoprojekt für das Nationaltheater Mannheim.
Seine Arbeiten sind Teil der Sammlungen des Hirshhorn Museum, Washingtion, D.C. und Manuel de Santarens, welche demnächst im Museum of Fine Arts, Boston ausgestellt wird. Jonas Englert wird von der Galerie Anita Beckers vertreten.

jonasenglert.de