Die orphischen Gedichte der niederländischen Dichterin Anneke Brassinga handeln von Verstorbenen, aber sie sind keine Grabsteine. Sie wirken wie dem Leben entnommene Clips, die das Erinnerte verwandelt vergegenwärtigen. Der Versuch des zaubrischen Sängers Orpheus, seine angetraute Dryade Eurydike, die nach einem Schlangenbiss verschied, aus der Unterwelt wieder ins Leben zu führen, war nur möglich unter der Bedingung, dass er sich auf dem Weg nach oben nicht nach ihr umdreht. Wer Brassinga in die Details ihrer Requiems folgt, wird die stille Verschiebung der Sprachbilder bemerken, die knappe Inszenierung der Sprachgestik, allerdings auch die Umkehrung des orphischen Motivs: Die sich sonnenwärts bewegt, sollte sich nicht umdrehen. (-ert.)
Text und Audio
Anneke Brassinga
Orphisch
I
Geliebte, Zwiebelgewächs, für das wir ein Schlupfloch suchen!
diese verstockte Faulenzerei von dir wird
langsam infam: beflissen und von Gebeten begleitet
wurde die Fahndung ja eingeleitet. Tu jetzt nur nicht so, als
würdest du nie mehr blühen, während wir, uns brüderlich
ins Zeug legend mit schweren Schubkarren mühen, um Licht
zu werfen unters Erdreich. Achtung, stillgestanden,
wir, die wir nach der Minne graben, legen ja auch nicht
die Hände in den Schoß! Geht die Perspektive flöten, darf man
dann nur noch Tränen sprühen, meschugge vom
klassischen Kummer? Herbstzeitlose und bittre Traube o
steht uns bei im zittrigen Gestrauch
des Stotterns hier, damit du, Allerliebste,
als Lilie des Lebens glühend dem Schlick
entspringst, dich sonnwärts schlingst
und nicht nach uns umblickst, wenn’s sein muss.
II
Weg mit den dreckigen Fingern – was es ist,
das Leben, sollte unergründet bleiben, egal wie
allenthalben gegenwärtig beispielsweise
jetzt, wo im Gebäum geölt eine Bombe
aus Licht absackt, und das Umflutete sich vernagelt zu
Granit und Schwertlilienwiderschein. Auf einem Flügel
Will man Hämmern, je falscher, desto besser, Blätter
Flattern lassen voll steinharter Schrift, helle
Nägel geschlagen schellen – doch nur
Sternbilder entstehen, rund um die Weiten, wo du,
das sanfteste Gegenteil ihres unverfrorenen
Gleißens, nicht atmest, noch schläfst, schlichtweg
Vergehst: weitestreichender Inhalt bleibst,
deine kleine Form in der Erde zwischen Bäumen,
jetzt, wo es Nacht ist und wir noch immer nicht
verstehen, warum unsre Hände so schwer.
III
Wie am schwebenden Schrei des Bussards,
für den, der auf dem Felde steht und lauscht,
lässt sich an der webenden Stille
die Strecke schätzen,
die unbegangen. Das Regiment,
brach auf im Morgengrau’n,
erklomm den Horizont
und stieg, mit Flöten und Trompeten,
dahinter ab
Richtung Felder des Vergessens,
kein Laut
dringt herüber.
Und mein ganzes Leben
werd’ ich warten
dass mich ruft von dort
was schweigt.
IV
Der Himmel erinnert sich an unsere Bewegungen
schlägt Orkan
aus jenem Atem, deinem letzten.
Ein Blatt im Wind:
Taggefunkel und
emsiges Aufsaugen
des Augenblicks. Die Weiten des Früher
und Später drumrum verteilt.
Das Quellwasser, klar
wie Tränen. Doch sieh, jetzt lachst du mich aus,
trinkst mir zu am Küchentisch –
Fürstin der durchwehten Sphären, in denen
kein Mensch mehr lebt. Tot sein
kann ich noch lange, sagst du, schenk
nur ein. Dem Schicksal entgangen,
brechen wir das Brot der Erinnerung, prosten uns zu.
(Deutsch von Ira Wilhelm)
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erstellt am 17.8.2015

Anneke Brassinga Foto: Peter Wesly
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