Der Schweizer Poet Andreas Neeser kann mit wenigen Zeilen verschlossene Erfahrungen in uns öffnen. Dennoch wird er, wie andere Autoren auch, nach der autobiographischen Wahrheit seiner Texte gefragt. Im Gespräch mit dem Schriftsteller Eric Giebel erklärt er, was es damit auf sich hat und wie es sich zwischen Literaturförderung und öffentlicher Anerkennung lebt.
Gespräch mit mit Andreas Neeser
Großmutters Mund war ein Keller
Von Eric Giebel
Eric Giebel: Dichtung kann das Universum der Erinnerungen und Empfindungen auf kleinstem Raum versammeln. »Großmutters Mund war ein Keller«, schreibst du, darin verborgen Lehm, Schimmel, Pilze, Wurzeln, Knollen und jede Menge unausgesprochene Zärtlichkeit. Ich habe dieses Gedicht aus deinem Mund 2012 bei der Sonderveranstaltung aller Preisträger anlässlich der 10. Ausgabe des Feldkircher Lyrikpreises gehört und war ob der Authentizität des Autobiografischen sehr berührt. Du öffnest deiner Leserschaft die Tür zu einem sehr intimen Bereich, ohne dass es für beide Seiten peinlich oder beklemmend wird. Ist Aufrichtigkeit für dich der Weg, den Prozess der Selbstvergewisserung mit anderen zu teilen?
Andreas Neeser: Aufrichtigkeit ist für mich keine außertextliche Kategorie in der Literatur. Es gibt nur die Aufrichtigkeit des Textes; sie ist die einzige Wahrheit. Entsprechend ist das Autobiografische grundsätzlich nur insofern relevant, als es – falls überhaupt – im Sinne von inhaltlichem Material in einen Text einfließt. Der Text selbst aber kennt naturgemäß keinen Unterschied zwischen sogenannt autobiografischen und, sagen wir: erfundenen Elementen. Die Welt entsteht immer während des Schreibens. Und die Welt, die während des Schreibens entsteht, ist die Welt eines Textes. Das ist alles, was zählt.
Das Gedicht, das du ansprichst, hat tatsächlich die diffuse Erinnerung an die Küsse von Großmutter zum Ausgangspunkt. Und ja, ich habe ihr manchmal bei der Zubereitung von Apfelschnitzen geholfen, als ich klein war. Mehr ist da nicht; oder besser: Mehr Autobiografisches ist da nicht. – Aber da war plötzlich dieser Satz: Großmutters Mund war ein Keller. Aus diesem Satz hat sich schließlich eine erdachte Erinnerung gewissermaßen versprachlicht. Autobiografisch ist dies nicht. – Immerhin zeigt sich gerade darin, was Literatur im Allgemeinen und die Poesie im Speziellen zu leisten im Stande sind: Sie schaffen eine Welt. Und wenn sie wahr ist, dann ist sie auch wirklich. Einzig darin, meine ich, bestehe die Aufrichtigkeit von Literatur.
Deine Antwort ordnet mich, soviel Aufrichtigkeit muss sein, in die Reihe deren ein, die nach einer Lesung diese einzig brennende Frage vorbringen können: »Ja, stimmt denn das auch!? War es wirklich so?« Zu meiner schwachen Verteidigung kann ich sagen, irgendwie wusste ich schon, dass der Mund deiner Großmutter kein Keller war. Die Menschen wollen mit guten Geschichten unterhalten werden, deswegen greifen sie – wenn sie es tun – zur Literatur und nicht zur (Auto-)Biografie. Warum fällt es dem Publikum deiner Meinung nach oft schwer, auf die Authentizitätsfrage zu verzichten?
Zwei meiner Bücher sind Sammlungen von Kurzprosa und Gedichten in Schweizer Mundart. Während einer Lesung in meinem Kindheitsort ging bei folgendem Satz ein Raunen durchs Publikum: «Es Museum, zhinderscht hind im Tal – und nid emol näb ere Beiz.» (Ein Museum, zuhinterst im Tal – und nicht mal neben einer Kneipe.) Ein Museum gab es (und gibt es) tatsächlich in diesem kleinen Tal im schweizerischen Mittelland. Nur: Es stand und steht eben, anders als mein Text behauptet, neben einer Kneipe. Ich reagierte spontan auf das Raunen, entschuldigte mich und sagte, in meiner Geschichte hätte ich leider keine Kneipe neben dem Museum gebrauchen können. Es gehe mir in meinem Schreiben nicht um die Abbildung von Wirklichkeit, sondern um den Text – und der habe manchmal leider (ja, das habe ich so gesagt) eine andere, eine eigene Wahrheit. – Was ich damit sagen will – und damit komme ich endlich zur Antwort auf deine Frage: Leserinnen und Zuhörer sind nicht geübt im Umgang mit textimmanenter Wahrheit; immerhin gibt es die Wahrheit, wie sie wirklich ist. Sich darauf auch in literarischen Zusammenhängen grundsätzlich (oder reflexartig) zu beziehen, das ist jedem und jeder nachzusehen, meine ich, und auch ich ertappe mich durchaus immer wieder dabei, wenn ich lese. Im Grunde ist es ja auch nicht einzusehen, weshalb einer «ich» sagt und nicht «ich» meint.
Ich bleibe an dem Wort zhinderscht hängen. Ich bin in de Hinnerpalz (Westpfalz) aufgewachsen. Hinten markiert nicht nur eine Verortung, sondern grenzt etwas Provinzielles von einem Anderen ab, das nicht zurückgeblieben ist, nennen wir es der Einfachheit halber das Städtische. Irgendwann tritt man aus der Kindheit heraus und lässt die Talenden zurück, denkt nicht mehr an sie. Oder schenkt ihr, so wie du es tust, kraftvolle Worte wie »Blau ist die Farbe zuhinterst | zuoberst im Tal | wird das Auge erst weit, die Mäander verlaufen sich | hoch auf der Ebene | geht mir der Weg aus, wir stehen | am Abgrund«. Wenn ich es richtig verstehe – ach, richtig, wieder so ein Fauxpas: Lyrik kann man ja nicht verstehen!, ist bei dir das Hinterste nicht ein Endpunkt, sondern der Anfang eines steinigen Weges mit einem unausgesprochenen Ende. Dort oben, am Abgrund, welche Bilder ziehen an deinem inneren Auge vorbei?
«Die Talenden» – ein schönes Wort! – Ich glaube, am Wort «zuhinterst» interessiert mich weniger die Konnotation der Abgrenzung als vielmehr der Superlativ: Zuhinterst geht es nicht mehr weiter. Zuinnerst ebenso wenig. Für mich ist mit solchen geografisch-topografischen Superlativen eine existenzielle Ratlosigkeit und Einsamkeit verbunden. Ob zuhinterst oder zuinnerst oder zuunterst – immer bist du vollkommen allein. – Wie im richtigen Leben.
Du bist gerade (April 2016) mit Hierba que se adentra (deutsch: Gras wächst nach innen, Ediciones De Aquí, Madrid 2016) auf einer Lesereise durch Spanien, gemeinsam mit deinem 1965 in Havanna geborenen kubanischen Übersetzer José Aníbal Campos. Morgen liest du zum Abschluss deiner fünf Stationen in der Hauptstadt. Wie kam es zu der Zusammenarbeit zwischen Campos und dir? Welche Rolle spielte die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia bei der Entstehung des Buches und bei der Durchführung der Lesereise? Wie waren die Reaktionen des Publikums und des spanischen Feuilletons?
Der Reihe nach: Als ich 2012 zum Lyrikfestival Medellín, Kolumbien, eingeladen wurde, baten mich die Veranstalter um 20 ins Spanische übersetzte Gedichte für die Festival-Anthologie. Das Übersetzerhaus Looren im Zürcher Oberland empfahl mir José Aníbal Campos, den Übersetzer der Werke u.a. von Peter Stamm und Gregor von Rezzori, der schon mehrmals als Stipendiat im Übersetzerhaus gelebt und gearbeitet hatte. (Das Übersetzerhaus Looren übrigens empfängt Übersetzer aus der ganzen Welt, die sich mit Werken von Schweizer Autor/innen beschäftigen.)
Pro Helvetia hat die Übersetzungsarbeit von José Aníbal Campos finanziell unterstützt – und unsere gemeinsame Lesereise finanziert. Ohne die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia könnten solche Lesereisen nicht durchgeführt werden, da viele ausländische Veranstalter (zumal in Spanien) weder angemessene Honorare zahlen noch Reisekosten übernehmen können. Deshalb: Es gibt wohl keinen Schweizer Autor, der für eine so großzügige Unterstützung nicht dankbar wäre.
Die deutschsprachige Lyrik unterscheidet sich formal und inhaltlich deutlich von der spanischen; umso schöner, dass sich das (glücklicherweise tatsächlich vorhandene!) Publikum auf meine bildstarken, kondensierten, sprachlich knappen Texte eingelassen hat.
Anders als im deutschsprachigen Raum dienen in Spanien Lesereisen auch dazu, das Feuilleton auf Texte aufmerksam zu machen. Die eigentliche Pressearbeit beginnt deshalb erst jetzt …
Das Feuilleton in der Schweiz hat deinen Gedichtband Wie halten Fische die Luft an, gut und zeitnah besprochen. Eine Rezension in der NZZ und eine Radiosendung («Passage 2» auf SRF 2 Kultur), in der drei Menschen über deine Lyrik sprechen, das ist gemessen an bundesdeutschen Verhältnissen, mit denen die Vielzahl der Lyrikerinnen und Lyriker hier zurechtkommen müssen, traumhaft. Trotzdem ist dein Buch vom deutschen Feuilleton bislang nicht wahrgenommen worden und es steht zu befürchten, dass auch die Aufnahme deines Buches in die Lyrikempfehlungen 2016 daran nichts mehr ändern wird, weil der Markt immer schnelllebiger, oder nennen wir es: kurzatmiger, hechelnder wird. Wie sehr nervt dich deine Begrenztheit als Schweizer Lyriker, als sei dein Werk, deine wunderbare deutsche Sprache ein Dialekt aus dem zuhintersten Tal, den man ignorieren kann?
Anders rum: Als Autor bin ich der privilegierten Situation, meine Texte – und zwar auch die Lyrik! – in einem großen, renommierten Belletristikverlag veröffentlichen zu können, der voll und ganz zu mir und zu meinem Werk steht. Wer sich im Literaturbetrieb ein wenig auskennt, der weiß: Das können nicht viele Autoren von sich behaupten, Lyriker erst recht nicht. Insofern ist dieser Zugang zu deiner Frage absolut nicht zynisch gemeint.
Aber klar, als Autor wünscht man sich natürlich nicht nur, von der Kritik wahrgenommen, sondern auch von ihr gelobt zu werden. Insofern ist das großmehrheitliche Schweigen des deutschen Feuilletons über meinen Gedichtband, zumal nach dem sehr schönen Verkaufs- und Besprechungserfolg meines Romans «Zwischen zwei Wassern» (2014), durchaus frustrierend. Wobei die Lyrikempfehlung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ja nicht ohne ist. Alleweil eine Ehrenmeldung – aus Deutschland!
Und dann gibt es für das erwähnte Schweigen selbstredend zahlreiche Gründe: Auch in Deutschland wird das Feuilleton gesundgeschrumpft, österreichische Verlage haben es traditionell schwer, in Deutschland wahrgenommen zu werden, Lyrik kommt auch in den deutschen Feuilletons nur noch im Zusammenhang mit den ganz großen Namen vor etc.
Es liegt in der Natur der Sache (oder doch der Autoren), immer mehr zu wollen. Das ist bei mir nicht anders. Doch mit zahlreichen, ausschließlich lobenden Pressestimmen aus der Schweiz, Deutschland, Österreich und Südtirol steh ich mit meinem Lyrikband pressemäßig weitaus besser da als viele Romanautoren.
»Bei mir geht es auch in den Romanen ums Verdichten und um Bilder, die ich mit Sprache zu gestalten versuche«, sagt du im Interview mit der Basellandschaftlichen Zeitung (bz). Deinen Roman Zwischen zwei Wassern habe ich noch nicht gelesen. Klar, muss noch nachgeholt werden! Auf die Gefahr hin, dass die Frage sich durch die Lektüre deines Romans von selbst beantworten würde: Wie gelingt es dir, zu erzählen, also auszubreiten und doch zugleich zu verdichten, zu komprimieren, sodass am Ende ein »Roman eines Dichters« herauskommt?
Schreiben ist ja (auch) ein Handwerk. Nicht alles aber kann man lernen. Ich meine, es gebe so etwas wie eine literarische Prädisposition, die man nicht ignorieren kann. Ich kenne Prosa-Autoren, die sind begnadete Fabulierer (etwa Rolf Lappert), andere, wie Klaus Merz oder Alois Hotschnig, werden wohl nie einen 400-Seiten-Wälzer zustande bringen – und es auch nicht wollen. – Persönlich hat mich die Leerstelle schon immer interessiert, die Welt zwischen und hinter den Buchstaben, die Luft im Text. Meine Romane sind zwar durchaus erzählend, da gibt es einen Plot, eine rekonstruierbare Chronologie der Ereignisse, und ich schaffe auch mehr als 200 Seiten. Ein Fabulierer bin ich aber eben nicht. Das Episodische, die Miniatur im Großen, die Reduktion auf die Essenz (bis hin zum Fragmentarischen) auch im Erzählen von Geschichten ist mir wohl irgendwie eingeschrieben. Prädisposition.
Als wir 2012 in Feldkirch zusammenstanden und unsere Gedanken austauschten, kamen wir auch recht schnell auf ein Thema, das ich mal mit dem pädagogischen Auftrag von Literatur umschreiben will: Schreibseminare für Jugendliche und Schullesungen. Du hast das Literaturhaus in Lenzburg (Aargau) aufgebaut und von 2003 bis 2011 geleitet. Gerade kam im Uschtrin-Newsletter der Hinweis auf die aktuelle Ausschreibung der Textstatt – Förderwerkstatt für 17- bis 25-Jährige. Welche Themen sind für dich zentral, wenn es darum geht, der jungen Generation Möglichkeiten und Grenzen von Literatur aufzuzeigen? Wie sind die Jugendlichen anzuleiten, damit sie ihre Welt autonom und souverän erzählen oder verdichten?
Es gibt keinen pädagogischen Auftrag der Literatur. Es gibt Pädagogen, und es gibt die Literatur. – Ich habe damals ein Angebot gemacht, in der Hoffnung, es entspreche einem Bedürfnis. Die Tatsache, dass das Workshopangebot im Aargauer Literaturhaus 12 Jahre später noch immer das ganze Spektrum von den 5-Jährigen bis zu den Senior(inn)en umfasst, zeigt, dass es vielen – eben auch jungen – Menschen wichtig ist, eigene Wirklichkeiten zu gestalten, sich sprachlich mit sich und der Welt auseinanderzusetzen. Was mich dabei interessiert, ist nicht mal so sehr das rein Literarische (denn die Wenigsten haben die nötige Kompromisslosigkeit, sich der knallharten Arbeit am Text zu stellen). Mich fasziniert zum einen, was Jugendliche von heute beschäftigt, was sie umtreibt, wie sie im Leben stehen; zum anderen ist es spannend, während der Textarbeit mitzuverfolgen, wie sich das Sprachbewusstsein der Jugendlichen verändert. Wie sie mit einem Mal begreifen, dass das Blau des Himmels möglicherweise viel blauer ist, wenn ich «Himmel» schreibe, als wenn ich von einem «blauen Himmel» schreibe. Das Bewusstsein für die Wirkung einzelner Wörter nachhaltig zu verändern, für die Wirkung von Sprache überhaupt – dies in der Textarbeit mit Jugendlichen zu erreichen, meine ich, ist mehr als man erwarten darf.
Kommentare
Paula C. Georges - ( 07-07-2016 11:50:45 )
prima Interview!
erstellt am 01.7.2016

Zur Person
Andreas Neeser, geboren 1964, lebt als Schriftsteller in Suhr bei Aarau (Schweiz).
Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg.
Für sein vielfältiges literarisches Schaffen wurde er mehrfach ausgezeichnet.
Jüngste Publikationen:
„Fliegen, bis es schneit“, Roman (Haymon 2012), „Zwischen zwei Wassern“, Roman (Haymon 2014), „Ravi & Oli in Grünland“, Erzählung für Kinder ab 6 Jahren (Orell Füssli 2015), „Wie halten Fische die Luft an“, Gedichte (Haymon 2015).