Könnte man Gedichte, wenn sie reif sind, von Bäumen pflücken, brauchte man keine Poeten. Da die Dichtung aber zur Kunst gehört, also nicht ohne Menschen existiert, entsteht sie nicht einfach. Sie wird von Dichterinnen und Dichtern gemacht, die deshalb von respektlosen Leuten auch ‚Verseschmiede’ genannt werden. Mit der Reduzierung auf’s Handwerk wird aber eine Art Machbarkeit der Verskunst suggeriert, die schnell zu einem verbreiteten Missverständnis beiträgt, nämlich, dass das ja jeder könne. Der Poet aber weiß um die empfindliche Balance, die die Sprache mit all ihren Bedeutungsschattierungen, Klangfarben, Doppeldeutigkeiten, Gewichtungen, Sinnlücken, Gegensätzen und ihren feinen Steuerungspartikeln erst zum Gedicht macht. Die Lyrikerin Christa Wißkirchen, die nordwestlich von Köln auf dem Land lebt, gibt im Gespräch mit Bernd Leukert Auskunft über ihre literarische Arbeit.
Gespräch mit Christa Wißkirchen
Vom hohen Ton
Bernd Leukert: Wenn man über die Verkehrssprache hinaus versucht, sich verständlich zu machen, nennt man das Kommunikation. Wäre demnach ein Gedicht die Hochform der Kommunikation?
Christa Wißkirchen: Für mich hat ein Gedicht noch immer etwas mit Rede zu tun, also mit einer Sprechhaltung, die mit Kommunikation verwandt, aber nicht gleichzusetzen ist. Wo der gedachte Kommunikationspartner ist, weiß das Gedicht nicht. Es ist im Grunde zunächst Selbstgespräch. Allerdings hat man seinen Sprachvorrat im Austausch mit den anderen Menschen erworben, und so sind sie immer noch anwesend, auch bei ausdrücklich nichtkommunikativen Äußerungen. Sprache bleibt daher Mitteilung, aber sie geht ins Ungefähre, vielleicht so wie Goethe es einmal formuliert hat: „’Hat man das Gute dir erwidert?’/ Mein Pfeil flog ab, sehr schön befiedert,/ der ganze Himmel stand ihm offen,/ er hat wohl irgendwo getroffen.“
Welche Formulierung, welche Begriffe sind denn gedichtfähig?
Das kann ich nur am einzelnen Gedicht entscheiden. Allgemeine Regeln, auch ungeschriebene, gibt es nicht mehr. Höchstens den Anspruch, dass das Gedicht in sich stimmig sein sollte.
Wie finden Sie Ihre Gedichte?
Es fällt mir etwas auf. Im unaufhörlichen Strom der Wahrnehmungen gibt es einen Anblick, eine Erfahrung, einen Gedanken, bei dem sich plötzlich eine Perspektive eröffnet, wo etwas Konkretes halb und halb durchsichtig wird für weitere Zusammenhänge. Das geschieht natürlich nicht jeden Tag.
Es gehört ein Gestimmtsein dazu?
Das Wort „Stimmung“ möchte ich nicht unbedingt verwenden, es klingt ein bisschen duselig. Aber ich mache schon die Erfahrung, dass sowohl Empfänglichkeit wie Sprachvermögen einmal gesteigert, ein anderes Mal blockiert sein können, wie Quecksilber sich verflüssigen und erstarren kann.
Dann aber gilt es, das gewonnene Material zu prüfen, zu sortieren, liegenzulassen und wieder vorzunehmen, eventuell auch zu verwerfen.
Meist gibt es eine Zeile oder Partie, die bei späteren Varianten bestehen bleibt, so eine Art Kern oder Keimzelle.
Also eine Mischung aus Einfall und Arbeit am Text?
Natürlich. Es ist immer eine Mischung daraus. Und manchmal findet man die Lösung für ein Problem erst später. Dann fällt einem auf, wie es gehen könnte, so daß es rund ist. Für mich muss ein Gedicht in irgendeinem Sinn abgeschlossen sein, als kleine Einheit.
Manche Dichter brauchen eine Regelmäßigkeit in der Arbeit. Die beginnen morgens um fünf und reservieren die ersten ein, zwei Stunden für’s Gedichteschreiben. Manche schreiben wenig, andere viel und werfen viel weg. Aber es ist die Regelmäßigkeit, die ihnen überhaupt erlaubt zu produzieren.
Das trifft auf mich nicht zu. Die Fähigkeit, sich täglich diszipliniert an den Schreibtisch zu begeben, ist beneidenswert, wie zum Beispiel Thomas Mann das konnte. Für mich wäre das nur denkbar, wenn ich eine größere Menge von Entwürfen zu bearbeiten hätte. Aber sich hinsetzen und auf einen Einfall warten, das würde nicht funktionieren. Ich möchte auch nicht in Versuchung kommen, aus allem, was mir durch den Kopf geht, ein Gedicht zu machen.
Aber Sie haben ja das Bedürfnis, Gedichte zu schreiben. Woher kommt das Bedürfnis?
Das kann ich nicht genau sagen. Schon als Schülerin war ich manchmal von Gedichten beeindruckt und hab’s irgendwann auch mal versucht. Es ist auch der Spaß, mit dem Sprachvorrat eigenständig umzugehen und nicht in diese vorgebahnten Sprechblasen und immergleichen Wendungen zu verfallen, die mich bis heute ärgern. Oder die Genauigkeit, so lange zu basteln und zu schleifen, bis man es klar genug trifft. Zum Beispiel habe ich als Schülerin mal versucht, über jede der vier Getreidesorten, die ich kannte, ein Gedicht zu machen. Oder über zwei gegensätzliche Arten, den Mond zu betrachten.
Sie sprachen von der Perspektive auf größere Zusammenhänge. Könnte man sagen: Weltzusammenhänge? Oder noch weiter gehend: Metaphysik? Denn es gibt ja auch unter Lyrikern zwei Parteien. Die eine sagt, ich muß die Metaphysik aus der Lyrik heraushalten. Und es gibt die anderen, die sagen, ohne Metaphysik gibt es keine Lyrik.
Es ist die Frage, ob Weltzusammenhänge schon Metaphysik sind. Mit dieser Bezeichnung wäre ich vorsichtig.
Ja, sie läuft bei den Christen doch immer auf den lieben Gott zu. Aber es gibt auch eine Metaphysik, die sich im Sinne von Lukrez auf eine totale Physik stützt, die das Ganze zusammenhält: die Naturgesetze.
Dass es wie bei den Barockdichtern die unvermeidliche und ehrenfeste Ausrichtung auf Gott und Ewigkeit gibt, ist wohl so geradezu nicht mehr möglich. Eine Metaphysik der Naturgesetze – für diese philosophische Frage fühle ich mich nicht recht zuständig. Man müsste beim konkreten Text nachschauen, ob sich dergleichen ergibt. Anstreben würde ich es nicht.
Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg, wie auch schon einmal in den 1920er Jahren, eine Neue Sachlichkeit, die bei solchen Fragen eine Rolle gespielt hat.
Ja, die Sachlichkeit als Antihaltung, als dann nicht mehr abgehoben und blumig, sondern konkret gesprochen wurde und Alltagsdinge wie das Butterbrot vorkommen durften. Aber das macht es nicht unbedingt aus. Es waren im Unterschied zu früher nun andere Dinge verboten, zumindest verpönt, eben der sogenannte hohe Ton in der Lyrik. Vielleicht kann man das vergleichen mit der gegenständlichen Malerei oder der tonalen Musik. Aber da könnte eine Täuschung vorliegen. Ich denke, so brutal oder rotzig sich ein Gedicht auch geben mag, es ist immer etwas von hohem Ton dabei, weil es eine Ausnahmesituation des Sprechens darstellt. Ob da die Gossensprache, die Amtssprache oder eine technische Terminologie vorkommt, finde ich zweitrangig. Es ist trotzdem hoher Ton. Ich gebrauche mal einen Vergleich: es versteht sich, dass Klavierstücke höchst unterschiedlichen Charakter haben können. Dennoch handelt es sich jedesmal um Klaviermusik.
Die Geschichte der Lyrik ist von Anfang bis heute mit Verboten belastet. Und zuweilen war das Nadelöhr, durch das man überhaupt noch dichten konnte, so eng, dass es kaum noch ging. Aber es gab auch immer wieder Rebellionen gegen diese Einschränkungen. Es gibt also immer ein Verbot und eine Befreiung davon. Es sind sehr oft die Jungen, die die Doktrinen aufstellen, schon, um sich abzusetzen von den Alten.
Und dann wieder die neuen Jungen, die die alten Doktrinen durchbrechen wollen.
Ja, – die das nicht mehr interessiert, was vor ihrer Geburt maßgeblich war und sagen: Wir haben uns mit unserer Lebenszeit auseinanderzusetzen.
Also, wenn Sie damit auch die alten Formen ins Spiel bringen, muss ich sagen, für mich sehe ich darin keine Option. Das heißt nicht, dass ich die Lyriker tadeln will, die sich auf diese Formen beziehen. Ich habe das einzige Sonett meines Lebens als scherzhaftes Spiel zu einer bestimmten Gelegenheit geschrieben, auch mal eine Elegie in Distichen. Das waren aber Fingerübungen. Andererseits bewundere ich die alten Dichter, etwa Annette von Droste-Hülshoff, Schiller etc., die, eingebunden in das Korsett dieser Vorgaben, Unglaubliches geleistet haben. Nur wenn ich heute in Anthologien immer wieder Gedichte sehe, die im Druck wie ein Sonett aufgeteilt sind – vier plus vier, drei plus drei – oder in Terzinen-Anordnung, frage ich mich, ob das wirklich aus poetischer Notwendigkeit geschieht.
Wie entsteht die Form bei Ihnen?
Aus der Bemühung um einen logisch und klanglich überzeugenden Verlauf. Was dabei zuerst kommt, kann ich nicht genau ausmachen; es geht nur beides miteinander. Die Balance zwischen begrifflicher oder bildlicher Genauigkeit und Klang muss gelingen. Natürlich darf man dem Klang nicht alles opfern, aber wenn ein Wort an einer Stelle partout nicht klingen will, versuche ich eine andere Lösung. Ein Gedicht ist weder ein Musikstück noch ein Ausschnitt aus einer Erzählung oder Diskussion, obwohl es Elemente davon enthalten kann. Jedenfalls, ob es nun argumentiert, stottert, murmelt oder aufschreit – es ist eine menschliche Äußerung. Womit wir wieder bei der Kommunikation wären.
Mein Ideal, wenn man so sagen kann, wäre eben doch, dass das eine oder andere Gedicht „irgendwo getroffen“ hat, so dass jemand im blauen Nirgendwo es anhört, vielleicht sogar im Ohr behält, weil es ihm etwas „sagt“. Aber das kann man nicht als Pfeil auf ein anzustrebendes Ziel richten, weshalb Goethes Metapher, mit Respekt gesagt, eigentlich schief ist.
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erstellt am 23.9.2016

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