FIXPOETRY weiterempfehlen

 


Link: http://www.fixpoetry.com

Autorenbuch Arno Dahmer Manchmal eine Stunde, da bist Du – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Arno Dahmer

Sollte Ihr Browser kein Flash unterstützen:

Manchmal eine Stunde, da bist Du


Da sitzt Du, spürst die Vibrationen des Motors, atmest feuchte Autoluft, draußen regnet es. Gerade hat Dein ältester Freund beiläufig geäußert, es sei ihm entfallen, wo und wie Ihr Euch kennengelernt hättet. Er ist nun schon bei einem anderen Thema, Du hörst nicht mehr zu und verlierst Dich in die Erinnerung an den Beginn dieser Freundschaft, die Dir plötzlich wichtig scheint, eine Herzensangelegenheit, obwohl es im Grunde eine unnötige Freundschaft ist, die Du Dich aus einem vagen Pflichtgefühl nicht zu beenden traust. Du siehst den Freund in die Spiegel blicken, mit schwerfälligen Bewegungen seines Kopfes, der mit Haar beladen ist wie ein Haus im Winter mit Schnee; Du beobachtest seine kleinen, kraftsparenden Bewegungen zur Steuerung des Autos; aber Dir ist, als schautest Du bereits darauf zurück, wie auf den unscheinbaren Schlussstein Eurer Freundschaft; der Freundschaft, die damit begann, dass Du, ein sehr junger Mann, Carl, den wesentlich Älteren, in ein Gespräch zogst, dessen Ouvertüre mit dem Satz „Wie heißt du eigentlich?“ endete. Das war ein Satz, den Du Dir für derartige Situationen zurechtgelegt hattest und den Du für einen Eisbrecher hieltest. Du erinnerst Dich, auf Carl zugegangen zu sein – vor Beginn des Gesprächs, in dem die Frage „Wie heißt du eigentlich?“ gestellt wurde –, mit etwas zu viel Spannung im Körper, ein wenig steifbeinig, wie immer, wenn Du unter Leuten warst; Du erinnerst Dich an Dein fettiges, schuppiges Haar – keine Zeit für Hygiene an diesem Tag – und dann siehst Du, sehr deutlich, Dein Gesicht, als Ganzes, dessen verhaltenen Ausdruck – da stimmt etwas nicht! – und aus der Vogelschau nimmst Du wahr, wie Du Dich auf Carl zubewegst und das Gespräch einsetzt, aber jemand hat den Ton abgeschaltet und für den Satz „Wie heißt du eigentlich?“ könntest Du die Hand nicht mehr ins Feuer legen. – Da ist etwas faul. – Und während die Frage, warum Du Dich erinnerst und Carl sich nicht erinnern kann, noch in Dir weiterarbeitet, kapituliert Dein Stolz – an was Du Dich alles erinnerst! – vor dem Gefühl betrogen zu haben, Dich selbst und auf vertrackte Art den Freund: Unbrauchbar ist Deine Erinnerung, nicht weniger erbärmlich als das Vergessen.
Faul ist auch damals schon etwas gewesen, als Du, vielleicht dreizehnjährig, mit einem gleichaltrigen Freund im Garten standest – der Weiher, das Schilf, das Gartentor mit dem messignen Knauf – und er „Ein Hubschrauber! Ein Hubschrauber!“ rief, begeistert und entgeistert zugleich, und sich ein Fernglas vor die Augen hielt. Du dagegen sahst nicht einmal auf. Die Augen des Freundes, die den Weiher zu spiegeln schienen, dessen grünbraune Farbe, ihr Blick durch den Feldstecher, Dein eigener Blick auf den Blick des Freundes – oder sogar: der Blick auf den eigenen Blick auf den Blick des Freundes: Was immer am Himmel zu sehen sein mochte, es war reizlos im Vergleich dazu.
Doch der Anfang dieser Krankheit, spürst Du, liegt noch unbestimmte Zeit früher, im Vakuum zwischen der Schul- und Essenszeit einerseits, der Spanne handfester Nachmittagsaktivitäten andererseits, wenn Du, herumstreunend, hofftest, einem ebenfalls früh das Haus verlassenden Spielgefährten zu begegnen – eine Hoffnung, die sich nie erfüllte –, aber auch nicht wagtest, bei jemandem zu klingeln. „Heute bist du arg früh!“, hätte etwa Frau Ludwig gesagt – sie sagte ‚asch früh’ –, Essensdunst hätte in der Luft gehangen, kurz davor, sich zu verflüchtigen – im Hintergrund der Freund, über ein Schulheft gebeugt, auf eine ganz unnatürliche Weise gefangengenommen von seiner Tätigkeit.
In diesem Vakuum also, meist die Stunde zwischen 2 und 3, gehst Du an Sommertagen aus dem Haus, lässt Dich treiben durch Wolken warmer Luft, durchtränkt mit dem Geruch der Lindenblüten, und findest Dich nach kurzer Zeit fast immer in der Talstraße wieder. Du schlenderst die lange Reihe hoher Gebäude auf und ab, die gelegentlich eine Lücke frei lässt – unbebautes Gelände, Gärten, ein Hof zwischen zwei Häusern –, durch die sich Blöcke von Licht und Hitze geschoben haben, und, wiedereintretend in den Schatten, empfindest Du die Temperatur als beinah eisig. Durch die Luft, die seidenweiche, driftest Du und wie Katzensilber flimmert das Pflaster in den besonnten Passagen. Wenn Du den Blick hebst, siehst Du auf dem Gebäude des meteorologischen Instituts den Aufbau, einem Gerüst ähnlich, und ganz hoch oben, an dessen höchstem Punkt, drehen sich eine Art Löffelchen wie irre im Kreis, die den Wind messen, seine Stärke? – man weiß es nicht.  
Und in dieser Stunde zwischen 2 und 3, die mit der gleichen Stunde aller übrigen Sommertage einen endlosen Korridor durch die Zeit bildete, sagtest Du eines Tages das Wort „Er“ vor Dich hin und sofort bekam es eine aufdringliche, fast physische Präsenz, mit der aber irgendetwas gewonnen, dem Immergleichen etwas abgewonnen schien. „Er“, murmeltest Du also, und weil Dir das allein unsinnig vorkam, sagtest Du: „Er ging …“ Später fügtest Du hinzu: „… die Straße entlang“, „Es war heiß, er trug kurze Hosen“ oder „Er begegnete niemandem, niemals.“ Weitere Sätze folgten mit der Zeit. Dabei bewegtest Du die Lippen nicht, aber Dein Inneres, das Du Dir als finsteren Raum dachtest, durchschwebten wie Leuchtkäfer diese Sätze. Bald war nicht mehr auszumachen, ob Du Deiner eigenen Stimme lauschtest oder einer fremden und – wenn es Deine war – ob Du Dich als Urheber oder lediglich als Sprecher jener Sätze anzusehen hattest. Doch wer immer ihr Urheber sein mochte, des Blickpunkts, von dem aus sie gesprochen schienen, warst Du Dir stets bewusst. Und vor allem wenn Du Dich, aus der Sonne kommend, mit leichtem Erschauern wieder in den Scherenschnitt der Häuser bewegtest, fühltest Du, wie der Blickpunkt sich von Deinem Körper löste und dann meist in einer Position knapp rechts neben Deinem Kopf verharrte. Er konnte indes auch über Kopfhöhe aufsteigen oder Dich sogar frontal ins Auge fassen, Dich unversehens mit Deinem eigenen Bild konfrontieren – aber selbst wenn mitten hindurch durch Deine Augen geschaut wurde, blieb es doch eine Perspektive – die nicht mehr zum Blick werden wollte.
So kam es, dass Du – kaum ein Ich – schon ein Er warst.
Doch das ursprüngliche Spiel – wenn es denn eins war –, das nackte Er, genügte Dir bald nicht mehr; Stimmungen, Visionen traten hinzu, wie Licht in einem Lampion von Dir in Dir entzündet – auf dass Du Dir mit geringerer Langweile zusehen würdest:

Eine Beunruhigung befällt Dich zuverlässig, wenn Du bei jenem Haus vom Fahrrad steigst, dem Haus mit den beiden tannengrünen Türen. Groß ist die eine, klein die andere und versehen mit einem Milchglasfenster: meist dringt ein goldener Schein hindurch. Nur: Welche der Türen ist die ‚richtige’? Klopfte man an die falsche, das ist klar, geschähe etwas Schreckliches. Lieber auf sich beruhen lässt man es deswegen. Vielleicht willst Du es auch von vorneherein auf sich beruhen lassen, des Geheimnisses halber – denn womöglich geschähe gar nichts Entsetzliches, sondern etwas höchst Triviales: ein mittelgroßer Mann in einem Tweedjackett könnte öffnen, in ungehaltenem Ton etwas äußern und die Tür wieder zuschlagen.
:
Und am Eingang des Parks liegt das Aroma der frühesten Kindheit bereit, gewissermaßen; in Gestalt eines Kanaldeckels, der dieses einst angenommen hat und immer noch abgibt: Eine runde Platte aus schwärzlichem Metall, deren Durchmesser die Länge eines Erwachsenenschritts hat. Läuft man darauf herum, entsteht ein Geräusch ohne Hall, ein gleichsam taubes Geräusch. – In Ermangelung anderer Begriffe nennst Du, was Du hier siehst, ‚Kanaldeckel’. Aber es könnte ebensogut der Eingang zu einem Luftschutzbunker sein, zu Katakomben, zu im Boden verborgenen Raketen … Dort jedenfalls – Du musst zwei oder drei Jahre alt gewesen sein – warst Du einmal mit Deiner herz- und freudlosen Kinderfrau, der, so Deine Erinnerung, nichts anderes einfiel, als Dich auf dem Kanaldeckel im Kreis laufen zu lassen. Zuerst behagte es Dir nicht, das taube Geräusch Deiner Schritte war Dir unheimlich; dann fühltest du Dich frei; Dein Kosmos war der Kanaldeckel und die Kinderfrau eine randständige Figur, einem abdankenden Herrscher vergleichbar. Und Du liefst und liefst im Kreis herum und nicht einmal schwindlig wurde Dir.
:
Schwarz ist der Kanaldeckel, schwarz, wie Dir auch das unweit gelegene Wäldchen erscheint, vielleicht im Kontrast zu den hellgrünen Wiesen ringsum, schwarz wie die Verzweiflung, die Du dort in Dir wachsen siehst – angesichts eines unabwendbaren, einsamen Tods im Dschungel. Zweige knacken unter Deinen Schuhen, auch wenn Du noch so sehr zu schleichen versuchst wie ein hochgesinnter Apache, – dies verrät Dich: namenlose Monster fallen über Dich her und verwandeln Dich im Nu in einen blutigen Fetzen, aus dem das Denken langsam schwindet. In einer Mischung aus Hass und Übermut schleudern sie Dich in einen Baum hinauf, wo Du zum Schrecken künftiger Abenteurer hängenbleibst.
:
Weiter geht’s, an Rosenbeeten vorbei, bis Du in einen Weg einbiegst, der immer ein wenig gekrümmt ist, so dass man sein Ende nicht sieht, stets nur die nächsten Meter. Unter Bäumen führt er entlang, das dichte Blattwerk schirmt ihn gegen die Sonne ab. Der Hintergrund eines Bildes – so scheint Dir –, dessen Vordergrund Du selbst bist. Einer von diesen Bildhintergründen, die, zunächst übersehen, die Aufmerksamkeit bannen, einen zuletzt aber unbefriedigt zurücklassen. Gern hätte man gewusst: Wohin führt der Weg? Hinter der Scheune, dem Waldstück, was verbirgt sich dort? Doch nie wird man’s erfahren. – Hier ist es, wo Dich eine rostbraune Melancholie überkommt – rostbraun wie das Laub, das schon im Sommer den Weg zu bedecken beginnt –, wo Du, nicht ohne Lust, zu der Einsicht gelangst, dass Du alt bist, sehr alt – welk wie das Laub, durch das Du fährst –, dass Du erlöschen wirst – wie das Licht erlischt, je länger Du diesen Weg entlangrollst und je dichter die Bäume stehen, die ihn flankieren: ja, reif ist die Zeit, zu entsagen, den Klammergriff ums Diesseits zu lösen. Und der Blick unter den tiefhängenden Zweigen hervor auf den leuchtenden Wiesenstreifen ist vielleicht das, was Deine Melancholie erst zur Melancholie werden lässt, sie unterscheidet von der Verzweiflung, die noch in Dir zittert.
:
Doch kaum beginnst Du Dir wohlgefällig zuzuschauen, Dir, rotglühend gleichsam von dieser Stimmung, schon weichen die Bäume zurück, schon geht es steil bergauf – rhythmisch mahlen die Räder Deines Fahrrads im Kies – und dann jagst Du eine stark gewölbte, fünf Straßen überspannende Brücke hinauf. Du keuchst, zerrst am Lenker; immer weiter steigt die Brücke an, als lotse sie direkt in den dunkelblauen, mit Wolkenfetzen besäten Himmel hinein. Dann bist Du oben. Höher kann man nicht gelangen. Der höchste Punkt der ganzen Umgegend. Unter Dir das Rauschen der Fahrzeuge wie das Rauschen der Brandung. Über Dir die Sonne. Die Brücke: der Kamm einer Woge, auf der Du tolldreist segelst. Der Lenker: ein Steuerrad. Und Laternen, die Brücke und Deinen Kopf überragend: Leuchttürme ... Vom Taueziehen hast du Schwielen bekommen und Kraft wie ein Vieh. Vom Schiffszwieback wird Dir schon schlecht. Bitter die Brise aus den Wogen des Verkehrs … Drei Monate erst seit Hieven des Ankers. Doch fern und ferngerückt Dein Elternhaus. Allerdings: Wie gern Du dort ein Brot mit Cervelatwurst äßest! Aber Du hängst im Takelwerk, zitterst im Wind, in blauer Leere und im Frost der Einsamkeit.
Vom Kamm der Woge lässt Du Dich fallen, vorbei an einem Rosengarten, aus dessen Mitte sich ein schwarzer, wie verbrannt aussehender Holzpfeiler erhebt, Denkmal für irgendjemand oder irgendetwas, vorbei an einer Schachanlage, wo das dunkle Geräusch bedächtig versetzter, armlanger Figuren an Dein Ohr dringt, zurück ins Geschachtel der Häuser: ein Tunnel aus Kastanien nimmt Dich auf und führt Dich zu Deinem Ausgangspunkt, dem Haus, den beiden tannengrünen Türen. –
Grün, schwarz, schwarz, braun und blau – das war Deine Klaviatur, auf der Du zu spielen verstandest. Aber Du wusstest, dass das, was Du tatest, falsch war, denn im Grunde tatest Du ja nichts: Kopfgeburten waren das, synthetische Räusche, In-vitro-Abenteuer. Echte Abenteuer wären unausweichlich, schmerzhaft, vielleicht sogar peinigend gewesen – doch nur um zu einem glanzvollen Triumph zu führen. Deine Abenteuer dagegen führten zu nichts, waren ein markloser Kreislauf; Abbild Deines Kreislaufs von grün über schwarz, braun, blau zurück zu grün.
Von echten Abenteuern musste jenes Buch handeln – „Die letzten Abenteuer dieser Erde“ –, das bei einem Deiner Kinderfreunde im Regal stand, in der stets müffeligen, mümmeligen Elternwohnung – nie hattest Du einen Blick in dieses Buch geworfen. Doch offenbar waren die letzten Abenteuer bereits von anderen erlebt worden, sonst hätte nicht ein Buch davon gehandelt; und falls die fraglichen Akteure dieses oder jenes Abenteuer verschmäht hatten, so sagte Dir dennoch Dein Gefühl, dass es Dir jedenfalls niemals möglich gewesen wäre, sie zu erleben. Dazu hätte es eines geraden, biederen Blicks bedurft, wie er in einem redlichen Ich wurzelt, während einer, den Perspektiven umflattern wie ein Vogelschwarm, dafür katastrophal ungeeignet war. – –
Vielleicht bist Du nichts als ein Kanaldeckel, die Erinnerung daran, geht es Dir durch den Sinn – während sich das Haar Deines Freundes immer höher aufzutürmen scheint und Dir ist, als sinke sein Kopf unter dieser Last unmerklich aufs Lenkrad. Und, eingeschläfert vom Brummen und Vibrieren des Motors, hast Du die Empfindung, auch Dein Kopf sacke allmählich ab, auf die Brust. Nichts als ein Kanaldeckel – denkst Du –, dessen Schwarz heute von einem Spinnennetz aus Rost überzogen ist. An ihm haftet alles, was Du glaubst, mit Bestimmtheit von Dir behaupten zu können. Als Du auf dem Kanaldeckel kreistest, da warst Du in Dir, bei Dir; nur gab es noch kein ‚Dir’ – wo warst Du also? Trotzdem: Näher an Dir bist Du niemals gewesen. Mag sein, Du umkreistest Dich, kreistest Dich ein; umschriebst Dich – im doppelten Wortsinn.

Später, wenn die Sonne weiter in den Westen gerollt, die Zeit der Nachtische und Hausaufgaben endgültig vorüber war, konnte es sein, dass Du jemand trafst; Marco zum Beispiel, der immer Warzen an den Fingern hatte und in der Drogerie Schokolade stahl, mit Hilfe mäßig raffinierter Strategien. Etwa indem er eine Runde durch den Verkaufsraum dreht, sich dabei Schokoladentafeln in den hinteren Hosenbund stopft, und sich dann, bevor er das Geschäft verlässt, mit ostentativ leeren Händen und dümmlich-begeistertem Grinsen der Theke nähert, wo er sich einen Packen Teilnahmeformulare für ein Preisausschreiben schnappt.
Marco also. Marco ist gerade darein vertieft, mit einem endlos langen Stock den Parkweg aufzugraben, nicht weniger als Du darein vertieft bist, Dich mit Sätzen in der 3. Person zu untertiteln. „Du musst mir helfen!“, fühlst Du Dich angesprochen, ertappt und glaubst Dich für einen Moment zu erhaschen. Als entstände das Ich erst im Befangen-Sein vor dem Anderen, und vielleicht ist dem so? „Hier, komm, das wird eine Falle für Fabian und Martin, die Ärsche“, sagt Marco schnaufend, ohne seine Arbeit zu unterbrechen, „am Ende tun wir Hundekacke rein, Stöcke und Blätter obendrüber, dass sie nichts Böses ahnen … fertig.“ – „Ich muss weiter …“, hörst Du Dich murmeln und siehst durch seine Augen – doch in gleicher Distanz zu ihm wie zu Dir selbst – Deine peinlich-wichtige Miene. – Ich muss weiter, sagte er mit wichtiger Miene und ging davon, dieser Satz ist das, was in Deinem Gedächtnis stehen bleibt wie ein Haar, das die Schere des Friseurs verfehlt hat. – –
Oder Du hofftest wiederum nur, jemanden zu treffen. Fabian sei „auf der Walze“, sagt Frau Lass, in der Tür der trübe beleuchteten Wohnung stehend, mit gleichgültigem Lächeln, er und Bernd seien mit dem Fahrrad in den Park gefahren und noch etwas sagt sie, das Du nicht mehr hörst. Da wird das Ich ohnehin, das Er sogar überrannt, schon siehst Du sie auf ihren Rädern die gewölbte Brücke hinauffahren, den Park verlassen, sich dorthin begeben, wo Du noch nie gewesen bist, wo die vertraute Welt endet, in Deiner Vorstellung aber die eigentliche Welt, die des Abenteuers, erst beginnt; dorthin, wo Du Märchen und Sagen ansiedelst, in Deiner Einbildung spielen sie immer dort, jenseits der Brücke … Vater, lass uns hinausziehen in die Welt, unser Glück versuchen … Du spürst den Wind auf ihren Gesichtern, die gleißende, Zuversicht spendende Sonne, hörst ihre kurzen, heiteren Wortwechsel – und wie die Sonne auf ihren Harnischen spielt, wie die Pferde ausgreifen, wie beschwingend der Hufschlag schallt! Und ihr Horizont ist ein Horizont von Hoffnung, Sehnsucht und Verheißung. –
Frau Merz öffnet Dir, sie muss gerade gestillt haben, ihre Bluse ist flüchtig geschlossen. Fabian und Martin seien kurz hier gewesen, nun schon wieder unterwegs, sie seien noch irgendwohin geradelt. Martin allerdings hätte längst zurück sein müssen, überfällig sei er. Und die Treppe habe er auch nicht geputzt. – Ach, trügerisches Gold der Sommertage, auf deren Grund man stets die Mutterdrachen ahnte, grotesker Ratschläge, aberwitziger Verbote voll, lauernd in den finsteren Schächten der Wohnungen und Häuser, unendlich fern den Tag über und doch das Gravitationszentrum, um das man kreiste, Angelpunkt aller Fahrten, das Schwarze Loch, von dem man allabendlich verschluckt wurde. – Auf dem Treppenabsatz siehst Du Dich stehen, nach oben blicken, ein allzu ernsthafter kleiner Junge, der kaum das Geländer überragt; eine kuriose Figur, zur Unzeit am falschen Ort; unbeholfen hörst Du Dich Worte hervorbringen: werde sie suchen, sie schon finden, ihnen Bescheid sagen. – Es scheint, als schliefe Frau Merz, im Stehen. Ja, mein Gott, wie müde sie ist! Und wie nächtlich bereits das Licht im Treppenhaus! Die Mütter stillen schon ihre Kinder … Verflucht, wie spät es sein muss!, denkst Du, spürst das Saugen des Schwarzen Lochs, siehst Dich die Treppen hinabspringen, aus dem Blickfeld der Mutter geraten, und er wäre gern das steile Geländer hinabgerutscht, wie es Martin mit todesverachtendem Tempo und unübertroffener Grazie zu tun pflegte, aber das wagte er nicht, er hatte Frau Merz die Tür noch nicht schließen hören.
Wieder aufs Fahrrad; das Pflaster strahlt Wärme, die Dich emporzuheben, zu tragen scheint; ein letzter Schuss Sonne lässt das ohnehin rote Pflaster blutrot leuchten, blutrot wie der Sonnenuntergang leuchten mag, den man von hier aus nicht sieht.
Fährst Du aufs Geratewohl? Ja, und auch nein. Du hast eine Witterung dafür, manchmal, wann man sich wo versammelt. Einfach rollen lässt Du Dein Rad … Und nach Bitternis und Erregung schmeckt der Abend. –
Da sind Fabian und Martin und auch Bernd, auf Sattel und Lenker ihrer Fahrräder gestützt, lässig ein Bein übers Oberrohr gehängt. Hier, am Eingang des Parks, hast Du sie aufgetrieben, wo unter zwei großen Platanen kamelhaarfarbener Kies in ziegelroten Parkkies übergeht, eine leicht ansteigende, wenig befahrene Straße vorbeiläuft und einsam eine Litfaßsäule steht, als wollte sie das Ende der bewohnten Sphäre anzeigen, den Anfang der Wildnis. Du stoppst, mit so scharfem Bremsen, dass sich Dein Fahrrad quer stellt und Du, ohne größere Nachhilfe, in die gleiche Position gerätst – ein Bein auf dem Boden, eins überm Oberrohr – wie Deine Freunde. „Und jetzt?“, sagt Fabian nach einiger Zeit, in den rauchblauen Abend hinein. Du spürst: In den anderen ist dieselbe Unruhe wie in Dir, dieselbe Unruhe in diesem Moment kurz vorm Verlöschen des Tages; es ist, als würdet Ihr selbst verlöschen, als würdet Ihr für alle Zeit in ein taubes Dunkel eingehen, wenn Ihr jetzt nach Hause führet, pflichtgemäß. „Man müsste noch was machen! Irgendwohin fahren!“, presst Martin heraus und stößt sein Vorderrad rastlos gegen Deines. – „Spinnst du? Und unsere Eltern? Ich hätte schon vor zwei Stunden zu Hause sein müssen“, sagt Bernd. – „Zu meiner Großmutter könnten wir fahren“, bringt Martin langsam hervor, „die redet uns da schon irgendwie raus … und Kuchen hat sie auch meistens auf Lager …“ – „Wie weit ist es bis zu Deiner Großmutter?“, fragst Du. – „Weit“, sagt Martin, „Sehr weit. So weit sind wir noch nie gefahren.“ – –
Und das sagte er – wenige Meter neben dem Kanaldeckel, wie Dir jetzt erst zu Bewusstsein kommt, an den Quellen Deines Ichs, dort, wo Du Dich umschriebst; aber ob Ihr gefahren seid – oder nicht –, dessen kannst Du Dich nicht entsinnen – und Du fragst Dich, ob beides – der Ort und das Nicht-Wissen – etwas bedeutet.
War die Fahrt ein ‚letztes’ Abenteuer? Eines, das man nur als Ich bestehen kann? Das keinen Schatten wirft, keine Sätze ins Gedächtnis? Also seid Ihr gefahren?
Ganz in Dir, ganz bei Dir, ganz Ich wärst Du auf dieser Fahrt gewesen und vielleicht, nein sicher, wärst Du es dann immer geblieben; aber Dich glauben zu machen, Du würdest Dich an den Beginn einer alten Freundschaft erinnern – dazu wärst Du nicht fähig geworden. Gefahren seid Ihr also nicht?

* * *

Wir jagen dahin, im rauchblauen Abend. Fabian, ächzend, geduckt überm Lenker, schiebt sich nach vorn. Aufholjagd. Fast berührt mein Vorderrad Fabians Gepäckträger. Das Japsen der andern im Nacken. In einer Linie wieder. Das Rauschen der Reifen auf Asphalt. Durch Straßen, die keiner kennt, gehüllt ins rauchige Blau des Abends. Mit leuchtenden, gelben Riesenfrüchten winken uns Bäume aus Gärten. Wir schmettern ein Lied, als metallisches Echo kommt es von irgendwoher zurück. Wir rauschen dahin, schneller und wilder, und je dunkler es wird, desto schneller … Die Kameraden im Schmuck ihrer Waffenröcke. Aus dem Gehänge die Schwerter, juchhe! Wir bluten aus zahllosen Wunden – aber wer, der darüber nicht lachte? … Wir schlagen, berstend vor Lachen, an unsre Schilde … Glück auf, die Großmutter ist uns gewogen! Und Kuchen wird sie uns auftischen bis zum Überdruss! Täteretä! Wir rauchen dahin, durch rauschende Straßen, wir blauen im Rausch des Abends. Wir schmettern dahin, des Liedes Echo, Echo des Abends, liederlich. Wir jagen das rauchende Blau, die Jäger des Abends sind wir. Wir lachen, im Blut unsrer Wunden, in Lachen von Blut; das Lachen birst: an unsren Schilden, im Lachen birst: unser Blut. Der blutige Rausch unsres Lachens. Wir fliegen dahin, täteretä, hilfreich die Großmutter, holdrio! Nah sind die Freunde; in finsteren Kammern Mütter fern.



 

weiterempfehlen

zurück

Autorenarchiv

  1. A
  2. B
  3. C
  4. D
  5. E
  6. F
  7. G
  8. H
  9. I
  10. J
  11. K
  12. L
  13. M
  14. N
  15. O
  16. P
  17. Q
  18. R
  19. S
  20. T
  21. U
  22. V
  23. W
  24. X
  25. Y
  26. Z