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Autorenbuch Dieter Schlesak Tunneleffekt 9 – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Dieter Schlesak

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9


Alltagswissen - dieser flache Umgang  mit dem Leben, wird als wichtigste und ernsteste Sache der Welt von allen akzeptiert,  das Resultat:  daß jeder anstatt Sekunden der wahren Empfindung und der Dichte, des Glücks zu leben, dieses täglich bis zum Tode versäumt. So wird jeder Moment,  der uns selbst und jenem Zwischenraum, der schon an jenes Tor der anderen Zone klopft, gehören müßte, versäumt. Und der uns  umgebende Reichtum der Welt wird kaum wahrgenommen!

Daß er sich hinzieht ein Tag in den andern .../ Die Zeit aber ein Trost/ als käm etwas nach/ und es käme an/ was uns fehlte// Doch wenn sich einmal das Blatt/ wendet und sich vielleicht/ unser Blick/ verändert/ hat uns die Trösterin Zeit/ längst erschlagen// was immer schon fehlte/ hat uns erreicht. (Daß er sich hinzieht. ..).

 Uns sind heute die alten Sinne besonders geschärft, und wir spüren, daß alles noch da ist und doch schon längst vergangen; ich sehe die Reben hier in meinem Garten, das Meer, und bin erschrocken, als wäre ich ein Phantom, nein, die Landschaft ist es, sie ist "übriggeblieben". Ich aber bin es nicht. Und am alten Turm zeigt die Uhr unaufhörlich zwölf. Unerlaubt scheint das wirkliche Weinlaub. Und dann schreibe ich als Antwort diesen Satz auf, die Finger springen über die Tastatur, unter der Haut schon die späteren Knochenfinger meines Skeletts.

Heute wird  in Westeuropa keiner mehr  physisch hingerichtet, wie Giordano Bruno. Heute  werden ausnahmslos alle "von Anfang an hingerichtet", das heißt, es wäre kein Leben mehr möglich, sondern nur ein Zwischenreich der Phantome, würden sich nicht diese tieferen Lebenskräfte in Milliarden von Menschen täglich wehren, täglich neu auferstehen, und jenen tödlichen Belag, der auf der Welt liegt, immer wieder weg-leben! Heute ist jeder von Anfang an gescheitert, doch  jeder wehrt sich dagegen, daß ihm die Sehnsucht, die Liebe genommen wird, zumindest tut er es klammheimlich! Und geht in seinen Träumen jede Nacht mit dem Erlebnis von Liebe und Tod um, fliegt und erfährt alles wieder an einem Quell, der nicht versiegen kann. Jeder müßte in dieser Umgebungslosigkeit noch drastischer scheitern, ja, dieser Unterwelt erliegen, die erst das ganze Ausmaß der sinnlichen Katastrophe zeigt, gäbe es jene Kräfte in uns, Traum, Sehnsucht, Liebe, Erotik, Phantasie nicht, die uns diese greisenhafte Mattscheibenwelt entziehen will!!

Aber Ausgangspunkt dieser Gedichte ist die hoffnungsvolle Einsicht, daß alles Sichtbare  Geist ist, der nicht als Geist erscheint.

Was uns heute schon umgibt, ist eine immaterielle  Welt an einer unvorstellbaren Grenze. Unsere Umgebung ist bestimmt von lichtschnellen Geräten und Apparaten; diese beruhen auf Formeln, die einmal "Einfälle", Intuitionen von genialen Menschen waren, es sind ähnliche "Gedankenblitze", Inspirationen und Einfälle wie in der Kunst: Das Nicht-Materielle, das "Geistige" bestimmt heute mehr denn je alles, was geschieht, mentale Prozesse machen mit einer durchschlagenden Evidenz Geschichte, Denken wird "objektiv", lernt sich als mathematische Struktur selbst denken, erfährt sich als Ort, wo Naturgesetze offenbar werden, wird praktisch, beherrscht im Gerät die Natur und die Gesellschaft. Aber die Menschen der Gegenwart  bewegen sich und handeln in dieser neuen immateriellen Umgebung  weiter so, als wäre es immer noch die alte Körperwelt.

Die neue, eine Art gefährliche ontologische Grenze zu einer schon längst angebrochenen Zukunft, wird noch schärfer bewacht als die frühere politische Grenze mit Fahnen, Wachtürmen und Gewehren. Rufmord und die Seelenpolizei Psychiatrie sind heute ihre Zensoren, Agenten und Bewacher, und die Angst vor Tabuverletzung, die unbewußt jeden einzelnen bestimmt, wie früher die innere politische Zensur in den Diktaturen.

Es ist zweimal radikaler WIDERSTAND, der Hoffnung gibt! Heute ist dieser Widerstand passiv, beginnt damit, jene Traurigkeit aktiv werden zu lassen, von der Benjamin sprach, daß nämlich die Mehrheit mit den Siegern mitheult. In Zeiten, da die Dinge noch klar waren, noch "Wirklichkeit" existierte, endete der Autor eingemauert in einer wirklichen Zelle. Heute aber ist der Widerstand ontologisch, das heißt vor allem poetisch, denn die stärkste Macht jener Mattscheibenwelt und ihres Raubbaus an Natur und Seele ist der menschenvernichtende Irrglaube, daß das Sichtbare "alles", der Tod ein endgültiges "materielles" Aus sei. Und das stärkste Tabu, von der Psychiatrie bewacht, der Einsatz für das neue fällige Paradigma, wo die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben ist, die raumzeitliche materielle Welt sich als Illusion erweist, wird nur im Traum, in der Imagination, in der Sehnsucht, ja, in der Liebe und auch in der Erotik, in ihren Ekstasen, gebrochen:


Wo ist der scharfe Tanz im Geruch des endgültigen Heimwehs wo
die andere bessere Träne (lacrimae Christi) als wär sie mein Fahrzeug?
Über deine haarige Höhle hinaus in den Himmel der schreienden Lust
nicht zu verglühen kalt sein vor koitaler Wiederholung
den Tod vergessen als gäb es ihn nicht mehr in dieser Gestalt
Glanz des Jenseits sagtest Du damals in uns ist der Tote der reist
und aufersteht mit jedem stärkeren Stoß. (Poesia erotica)

Ekstasen  in der Liebe – in Diktaten der Kunst und Poesie, in grenzüberschreitenden Praktiken von Medien und Meditierenden. Und in numinosen Zuständen von dazu Begabten, bei allen aber im Traum und  in Zuständen der Gefahr zwischen Leben und Tod ist jenes tremendum des Numinosen da.

Am meisten hatte mich bei meinem  Weltwechsel von Ost nach West schockiert, daß im Westen alles "so ist, wie es ist", ein Baum, nichts als ein Baum, ein Mensch nichts als ein Passant, ein   Funktionsträger, eine Trivialität. Was mich immer stark berührt hat: es heißt, Sylvia Plath habe aus diesem Grund Selbstmord begangen. Die Entfremdung  ist total, ist ontologisch geworden, so ist auch die Revolution nur als radikale möglich: als ein  Durchbrechen durch Zeit und Raum, im Einlösen und Spielen der kommenden Partitur von Überlichtgeschwindigkeiten und mentalen Konzerten.
     
Das Gedicht verwendet in diesem Spiegel der Revolte, die in der Sprache  und weniger in den traditionellen Vers- und Gedichtformen, gespeicherten Kräfte und apperzeptiven  Sonden, um jene Zone schon jetzt probehandelnd zu erreichen.

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