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Autorenbuch Dieter Schlesak Tunneleffekt 10 – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Dieter Schlesak

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10


Nahtoderlebnisse (also eine Rückkehr aus einem Koma im klinischen Tod) sind durch die Intensiv-Medizin heute möglich und für die Menschheit wichtig geworden: wie im Tibetanischen, im Ägyptischen Totenbuch, wie im Totenbuch der Mayas, wie bei Dante tritt dabei eine Panoramaschau ein, wo das ganze Leben im Sterbeprozeß noch einmal wie ein Gerichtstag im Bewußtseinsspiegel des Sterbenden vorbeizieht;  und das alles in einer zeitlosen Geschwindigkeit.                         

Für den Schreiber dieser Zeilen  wird dieses Gericht (mit Materialien aus dem eignen Erleben und dem von Freunden und Verwandten) als dynamische Handlung  wie in einem unbewußten Diktat auch als eigener Text sichtbar und im Zwischenraum der Metaphern erkennbar; möglicherweise wie ein mediales Diktat oder das Auftauchen eines vergessenen und im Unbewußten gespeicherten Erlebnisses im Satz!  

Die Poesie hat dazu seltsame simultane Möglichkeiten: Eine höhere Stufe, die zur Über-Sicht führt, - In-Eins-Bindung und Überschneidung von vielen Lebensperspektiven, bis ins  Grenzenlose,  besorgt das riesige Gedächtnis der Sprache mit ihren apperzeptiven und apriorischen Formen, um das Eine, den Einen in immer reicheren Spiralen zu umkreisen, es jedoch nie ganz zu erreichen, da „er“ (Sinn, Nichts, Tao, Gott – alles ohnmächtige Wort-Annäherungen!) unaussprechbar ist, das Namenlose, das alles erst möglich macht, auch uns und die Namen, nur dann da ist, wenn wir uns und die Namen löschen!

Auch gibt es einen erlaubten Trick, nämlich die  Unsterblichkeit der Personalpronomina der Sprache, die das Bewußtsein tragen, sich weiter erinnern zu lassen, als die Grenze einer individuellen Lebenszeit oder die unseres historischen  Bewußtseins-Horizontes es eigentlich erlauben. Dieser Horizont ist,  wie wir gesehen haben, an seine Grenze gekommen, die übersprungen werden muß, um jene Partitur, die heute schon bruchstückhaft "eingegeben" wird, in reiner eks-tatischer Inspiration, richtig zu spielen. So wird die Offenheit der Zukunft in die geschlossene, scheinbar abgeschlossene Vergangenheit, eingeführt, und das bittere Fazit und Urteil ist: daß wir uns selbst dieses Leben geraubt haben, weil wir es uns haben rauben lassen. ("Doch weine nicht, wir kommen alle wieder" - zumindest im Gedicht!)
                            
Bei den gleichaltrigen, älteren oder gar bei den jüngeren deutschen Kollegen stößt solch eine Poiesis und Poetik auf Unverständnis, ja Ratlosigkit, obwohl diese Poetik zur großen Tradition der Poesie gehört; nicht etwa nur der deutschen Romantik, Klassik und bis 1968 (bei Paul Celan besonders ausgeprägt) – sondern es sind weltliterarische Überlebenszeichen (bis hin zu Dante und Petrarca oder Shakespare!), die sich in diesen Räumen bewegen! So kam etwa beim Gespräch zwischen Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski und Peter Waterhouse (in „Die Schweizer Korrekur“, Hrsg. Urs Engler, 1994), zu Grünbeins schön formulierten Gedanken-Gängen dazu, daß „im Paßgang von Denken und Andenken ... sich das lyrische Sprechen eine Gegenwart jenseits des Todes   und diesseits der historisch verhafteten Zeit“ schaffe, daß darin die „anthropologische Dimension der Dichtung“, jetzt liege, „ die man vielleicht erst heute erkennt, im Moment der Synthese verschiedener Denkformen und nach dem Heimgang der Philosophie;“ daß sich erst in der Dichtung „die ältester Empfindung mit dem jüngsten Einfall ... in einem Akt blitzartiger Imagination“ treffe, -  bei Oleschinski außer einem „mhmm...“ nur eine weiße leere Seite steht, und bei Waterhouse nichts als das Wort „ kein Meta-Ort“. Und bei Grünbeins Bemerkung, daß sich in den „verdichteten Bildern ... die Vorstellung des Einzelnen synchronisiert mit der Weltwahrnehmung aller – solange es Überlieferung gibt.“ Die es gar nicht mehr geben darf? Denn zur treffenden und tiefen, einer zum Grunde gehenden Passage Grünbeins, die das Zugrundegehen unse-rer Welt mit in sich enthält, ja erklärt, daß nämlich „jenseits der protokollarischen Einzelheiten eines Menschenlebens und über alle Stilepochen und       Kunstidale hinweg“ „das Gedichtwort Verbindung zu den Gedächtnisgründen, den im Erdreich versunkenen Zivilisationen, den allgegenwärtigen Toten“ halte! Fällt Oleschinski nichts und Waterhouse nichts als die flache Bemerkung:  es sei ja das alles „nur ein Bestandteil dieses Lebens“ ein !(?) Nämlich genau an jener Stelle, wo Grünbein die entscheidende Frage stellt: „Woher sonst rühren alle die vielen Déjà-vu-Momente, die endogenen Symbole und Leitmotive, die soetwas wie eine anthropologische Blickweise überhaupt erst ermöglichen?“

Und hör die Stimme nur im Wort / die jetzt beginnt: du bist bei uns/komm sei uns näher/ als dir bewußt.

... steh still und atme noch// Ein Augen Blick war ganz bei ihnen/ kehrt jetzt zurück ich staune wieder/ daß ich noch bin.
                        
Spanisch? Ja, das erinnert mich  an die Giralda in Sevilla, als wäre  mir und andern jetzt alles spanisch. Das Leben ein unbeschreiblicher Traum? Vor Jahren auf  einer Spanienreise in Sevilla, da gab es an jenem Tag ein katholisches Fest, überall Kitsch, Tribünen, heilige Bilder, Fahnen. Wirklich blieb nur die gotische Kathedrale mit dem neunzig Meter hohen Turm, der Giralda. Eine Palme, ein Augenbild vor mir, doch irgend etwas  hatte mein Bewußtsein aufgebrochen und dieses fächerte schmerzhaft weißes Licht auf die Plaza de la Falanga Española. Es war "stehengeblieben", ich absent hier, und als ich "aufwachte", war das Außenbild schon "weitergerückt", ich kam nicht nach. Ich dachte durchzudrehen und rannte davon, in einer Osteria stürzte ich mehrere Glas Rotwein hinunter, um meine Angst zu betäuben.

Euer Bewußtsein ist wie ein Glühwürmchen, aufleuchtend, einen Augenblick bewußt also bei euch (auf der Erde), dann aber wieder bei euch absent und so für einen Augenblick eben hier (bei uns den Toten), ihr sterbt in jeder Sekunde und werdet dann wieder geboren, ohne daß ihr es wirklich merkt.

Die unsichtbare innere Form einer bestimmten Art von Gedicht, die ich bevorzuge, geht von diesem Noch-Nicht (dem sekündlichen Tod im Zeitvergehen) aus, das aber schon da ist. Darauf baut eine sich selbst aufhebende Ringkonstruktion; diese arbeitet mit Abaelards SIC ET NON; Passage für Passage wird das Gesagte, das ja schon da ist, zurückgenommen, um das Kommende möglich zu machen, so frißt sich das Gedicht selbst auf, und damit auch den Namen als Handelnden. Im besten Fall  berührt diese Form die negative Mystik: Jener Name wird gelöscht, der die Welt, in der jüdischen Überlieferung als Baum vorgestellt, durch Sprechen  erschaffen hat ( "Im Anfang war das Wort").

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