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Autorenbuch Dieter Schlesak Tunneleffekt 12 – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Dieter Schlesak

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12


Ein Vergleich mit bisherigen "traditionellen" Zeiten ergibt aufschlußreiche Ergebnisse. Schon im Stilunterschied zeigt sich der Zeitunterschied; früher gab es noch Realität und Natur, daher konnte auch sinnlich gelebt und geschrieben werden. Im scharfen Kontrast dazu steht die  heutige Umgebungslosigkeit, damit Verlust auch des Sinnlichen und Narrativen. Doch  noch ist Nichts verloren, nur nach innen verlegt und auf die Spitze getrieben, anstrengender geworden: wundgewordenes angeschärftes Bewußtsein tiefster Eigenheit bis zum isolierten Dasein, das an die Grenze des Wahnsinns und des Todes reicht! Wer es aushält und die gebotenen Entlastungen medialer und Konsum-Blödheit des frei Haus gelieferten allgemeinen Scheins als Leben meiden kann, kann zur nackten Wahrheit finden, zur Auflösung des Verblödend- Bekannten ins Numinose kommen, falls er die Angst überwindet, sich selbst kurz  und voller Schrecken begegnen!!

(Solch ein Traum- und Nah-Toderlebnis  als „Strukturerlebnis“ wäre nachzulesen im Text, der von solch einem Erlebnis ausgeht:

Mein Körper löst sich vom Denken, tut nicht mehr weh, ich kann mühelos aufstehen, öffne die Tür zum Garten,  gleite hinaus  fliege. Flüssiges Feuer auf den Stuhl  fällt durch den Olivenbaum Licht und Schatten flüssiges weißes Feuer wie bei Van Gogs "Stuhl" schlagen daraus Flammen und erstarre alles geschält aus dem Namen  durchsichtig schwingts, schwere Augenlider... (S.      )


Die doppelte Brechung  - lyrisches Ich, auf einer Ebene mit einem höheren Komplexitätsgrad  (Ein-Fall, Eingebung, Traum, Todesgefühle, Schreckerlebnis, Visionen, also grenzüberschreitende Metaerlebnisse) -  und das „Normale“ mit seinem empirischen und Alltags- Bewußtsein ist im Gedicht ein unerschöpflicher Inspiratiosquell. Das geht bis zum Risiko des „Spinnens“ –  sogar vom eigenen Realitätsgefühl her gesehen!  Karl Heinz Bohrer hat es das Erlebnis des Schocks und der „Plötzlichkeit“ genannt.

Es ist das Summen des Schock, wie er bei Krankheit, Tod, bei einem Unfall, in Kriegserlebnissen, aber auch im Schrecken der Diktaturen, bei Verfolgung, Verhaftung, Folter erlebt werden kann. Mein stärkstes Erlebnis der „Plötzlichkeit“, des aus der „Sukzession“ der gewohnten Zeit Herausgerissenwerdens war bei den ersten Verhaftungen und Verhören in der Stalin-Zeit. Erstaunlicherweise ist es nicht in die Lyrik. sondern in meinen Roman „Vaterlandstage“ eingegangen: „Und diese Treppe ist eine andere Treppe als sonst Treppen sind, es ist eine elektrische Nerven-Treppe, deine Füße nackt (...) Es ist nichts mehr voraussehbar, es können die schlimmsten Dinge geschehen ... es ist die Unsicherheit, die dir den Boden entzieht, du wirst ein anderer, in diesen Stunden veränderst du dich, es kann nie mehr so sein wie früher. Jede gewohnte Geste ... SIE zerschlagen dir dieses unmittelbare Erleben chiffrierter Abstraktion ... du erhältst einen Schlag: es ist wie bei einer Todesnachricht .“ „Du wirst hineingestoßen in eine innere Welt, daraus bricht dort jenes scharfe Licht, du weißt, ein Strahl, der dich versehrt bis ins Mark, bricht mit der Angst hervor.“

Der Schockbegriff bei Walter Benjamin, bei Scholem, bei Celan zielt auf den Schrecken, das Unterbrechen der Gewohnheit, der Sukzession, auf den „innern Ruck“ eines „Außer-Sich-Seins“, wo der Schleier des Scheins, die Wand vor den Augen fällt!

Der innere Selbstbezug des Ich, der  durchbrochen wird in der Äußerlichkeit des täglichen Eigenkinos einer gewohnten Films von Außenwelt, die ja auch die eigne Person sich selbst zur Erscheinung werden läßt, zu nur noch scheinhaften Identitäten, also  eigentlich zu "Geistern", zu Phantomen macht, gilt hier nun nicht mehr auch für das "transzendentale Subjekt narrativer Synthesis", also für das Ich, den Abgrund des Einzelnen,  wie das im Postmodern-Erhabenen definiert worden ist. Denn jener Einzelne, der das Tor, der in jenem Abgrund Verbindung zu einer Metaebene ist, kann als geistiges Wesen die "Mannigfaltigkeit der sukzessiven Zustände durch Synthese narrativer Apperzeption zu einer Einheit zusammenfassen", zu jener vorhin erwähnten großen unaussprechlichen Einheit -  mit jenem Andern Blick, der nun erlebt , daß  Zeit-Einteilung mit zur Projektion (also zum Schein) gehört. Er erlebt so  jene schöne, aber auch erschreckende „nackte Wahrheit“ den befreiten innern Sinn Kants (aus der Kritik der reinen Vernunft) als kaum ausdrückbaren Bewußtseins-Lebensprozeß, das  von der Einbildungskraft oder dem reinen Selbstbezug des Ich vorausentworfene "Zugleichsein", das insoweit vielleicht  ein "Regressus" (Kant) ist, als es dieses Bewußtsein der Einheit früher tatsächlich (und sehr viel unkomplizierter)  einmal gegeben hatte, das aber auch im "zeitlosen" Unbewußten bei allen Lebenden heute noch vorhanden  ist.

Seltener in der Prosa, meist in der Lyrik -  wie in Träumen und der Meditation eben im seelischen Innenraum - möglich, bis zu jenem "Zugleichsein" und "inneren Sinn" vorzudringen! auch wenn ein letztes Ereignis von gewohnter Welt, das Ende eines Lebens oder einer Kultur, noch nicht abgeschlossen sind; denn die wichtigste Perspektive des Gedichtes ist die Zeit aus dem Blickwinkel von Liebe und Tod zu "fühlen", zu sehen, wie ein Widerschein des Überstandenen und Überstehens -  wie ein Bote aus einer uns erwartenden Zukunftswelt aufscheint! Lyrik braucht nicht wie der Roman die angebliche "Wirklichkeit", um sich "entwickeln" zu können; und auch Hegels Eule der Minerva gilt für sie nicht. Der Augenschein ist für sie das Gewesene, Vergangene, Unerhebliche; in der Prosa schafft dieses Bewußtsein nur der phantastische Roman und die Science fiction.

Ein Zeitparadoxon öffnet sich: wie kann z.B. im Schock, im Nahtoderlebnis, das meist zu einer Panoramaschau des eigenen Lebens wird, in dieser Panoramaschau zum Urteil und Gerichtstag über sich selbst führt, sprachlich erfaßt, solch eine  sich auflösende Zeitperspektive mit überraschenden Momenten als Schock dargestellt werden? Jedes JETZT erhält dabei eine unendliche Perspektive, alles öffnet sich bis ins Unheimliche. Denn es ist nicht so, daß das lyrische Ich nun nichts mehr erlebt, es erlebt nur ganz anders: Zukunft der Vergangenheit im Prozeß. Also das Bewußtsein, schon einmal gelebt zu haben, und sich hier, auch im Gedicht, schon einmal selbst begegnet zu sein!

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