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Autorenbuch Dieter Schlesak Tunneleffekt 14 – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Dieter Schlesak

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14


Die Räume der Sinne und der Anschauung, ihr Agent, das Phantom Zeit als quälendes Phänomen, hatten schon für Kant etwas Beunruhigendes, Gespenstisches, da  der Königsberger Philosoph und  "Vater der Aufklärung", seinen Geist von einem anderen, einem geistigen Reich her, aber hier auf der Erde als Gefangener bestimmt sah. Er sah sich fremd  hinter einer Wand der Sinne stehen, und der Art, wie er und alle Menschen gezwungenermaßen sehen müssen , ausgesetzt.

Der Mensch ist nach Kant fremd, weil er eine Art Ebenbild  des "höchsten Gutes", des "Einen" ist, zu dem er nur mit dem "inneren Sinn" Zugang hat; dieser "innere Sinn"  aber geht über die Alltagswelt der Sinne weit hinaus, die ihn nicht zu sich kommen lassen, da schon wegen des Voranrückens von Zeit in den Außeneindrücken eine Erfahrung überhaupt nur möglich sein kann, wenn  "Zusammenhang" oder "Einheit" unseres Bewußtseins als "Gewußte" und zugleich Wissende, also Verstehen da ist.

Es gibt sogar eine Belohnung dafür, das Glücksgefühl beim blitzartigen "Begreifen" und Verstehen durch einen Ein-Fall, und dieses nicht nur beim Literaturschreiben oder beim schöpferischen Denken  in der Kunst und Wissenschaft!

Auf die Literatur übertragen heißt das (zumindest bei mir), ein Arbeiten mit einem Beziehungsnetz von Lebensfragmenten, Erfahrungsfragmenten, Zitaten, ihre Collage ergibt sich aus der besonderen Notwendigkeit der Phantasiearbeit, denn die Einfälle arbeiten sequentiell, in einzelnen kurzen Szenen und Handlungs-Stößen; vielleicht ist das bei Lyrikern so: es ist der erlebte Moment oder die Welt als Einfall, ganz "heiß" dann aufgeschrieben, tagebuchartig in "Zeithäppchen", flashs, und dann erst nachträglich zusammengesetzt zu einem Buch, einem Roman, einer Prosaarbeit, einem Gedichtband. Und zwar immer so, daß auch  beim nachträglichen Zusammensetzen alles "heiß" und inspirativ geschehen muß, es darf  keine Manipulation oder Bastelarbeit sein.

Dieses ist  deshalb so erregend, weil es wie die Simulation eines ebenbildlichen Prozesses zu sein scheint, wo Sinn sich summiert. Je mehr Einzelszenen oder  Fragmente und einzelne Gedichte in einer Struktur, wie auch in diesem Band, sich gegenseitig anziehen, dichter werden, ein annäherndes Ganzes ergeben, umso größer ist die Erregung dieser intuitiven, ganz persönlichen und doch sich selbst überschreitenden  "Sinnarbeit", die sich eben einem Unerreichbaren, einem verborgenen Ganzen annähert. Es ist ein erhellendes Verstehen, das immer näher und intensiver wird, je mehr "Bildpunkte" auf dem Bildschirm des Gedankens und dann des Buches zusammenkommen.

Ist dieses ein "Gespenstersehen"? Althochgdeutsch hieß Gespenst noch "gispanst", was eher Verlockung, Verführung, ein Irrlicht bedeutet, das einen vom gradlienigen Weg abbringt. Ein Gespenst ist auch ein "Gespinst", Stimme aus einer andern Welt, Eingebung, Ein-Fall.  Etwas, was im Alltag eigentlich nicht sein dürfte, und doch vorkommt, ortlos. Wie Kunst, wie Literatur auch.

Es ist eine komplizierte, jahrelange und sehr einsame Reise in eine Zone, wo das Unerreichbare, das platonische "Eine", vielleicht "Metapher Gott" warten. Und so wäre diese Sinnarbeit via erlebter Weltfragmente im Laufe der Zeit,  diese zerfallenen Stückwerke der Momente und Lebensphasen in ihrem anscheinend sinnlosen, daher schmerzhaften "Unten" ihrer mangelnden Bindung und des fehlenden Zusammenhanges eben das Rohmaterial  eines Ganzen, einer stimmigen schwingenden "Sprachheimat". Es ist  bisher die einzig mögliche "Sicherheit", einer fast numinosen Geborgenheit im Nirgendwo, die es für mich an der Grenze zwischen sinnlichem und geistigem Bereich noch gab, mit ihrer Tiefengrammatik des Sprachgedächtnisses als das einzige unzerstörbare Haus, das ich noch besitze.

"Einheit der Apperzeption (oder des Bewußtseins)." "Einheit der Synthesis in der Mannigfaltigkeit" nannte Kant diesen Kernpunkt auch seiner Philosophie. Das Zauberwort dieses Vermögens heißt bei ihm "synthetische Urteile" oder die berühmte "Einheit der Synthesis in der Mannigfaltigkeit".

Es geht eigentlich nur um die erwähnte Teil-Habe  des inneren Menschen am "Einen" via Lebenserfahrung und Lebensfragmenten, um das Sich-Annähern an das "Gottes-Ebenbildliche" in uns, das jedoch nicht zum Zuge kommen kann, weil wir uns selbst fremd geworden sind, genau wie die Dinge uns  fremd bleiben, als in den Körper Gefallene unbekannt bleiben müssen, solange wir - wie es ja heute fast zu einem verinnerlichten Diktat unserer außenweltorientierten Zivilisation geworden ist - nur ge¬trennte (materielle) Körper sehen, eine Art Sündenfall, weil wir so im Körper und unseren Sinnen - also dem Schein und der Illusion -  gefangen bleiben! Ja, einer Kultur des Scheins, nicht des Seins, zu huldigen gezwungen sind!

Und es ist erstaunlich, daß nun nach den Gedächtnislücken, den Zerstörungen und innern und äußeren Verheerungen, der Hang zum Verstummen in der Lyrik nun von außen, als eine andere künstliche Einheit und Synthese via Computer und Computerisierung droht; und da Lyrik „deutlicher als andere Formen die zerebrale Seite der Kunst“ zeigt, und „empfindlicher reagiert auf  jede klimatische Veränderung in der von Gedanken zerfurchten Welt... unabsehbar die Choreographie ihrer Redefiguren“ (Grünbein) zeigt, ja., lang schon dem Abschied voran, im Virtuellen, in der Neuromantik zuhaus ist, muß sie den Bruch auch heftiger spüren „nur daß aus den Weiten ihrer lexikalischen Räume jede Fischschuppe, jedes Haar, jedes Sandkorn immer aufs neue unversehrt zurückkehren wird“ (wirklich?). Wird sie in diesem Sog, fast wie der Körper selbst, nur umfassender, schmerzhaft zusammenzucken und in einem unergründlichen Sog umgedreht und zum Grund gezogen werden in ihrem „babylonischen Hirn“ (Baudelaire)? Und ist daher nicht gerade die Lyrik, die zerbrechlichste und dauerhafteste Brücke in der obsessiven Grenzüberschreitung und im Zukunftsgang beim Ausprobieren dieser neuen Einheit ganz vorne im „Virtuellen“? Und gleichzeitig ein Schock, ein Erwachen aus dem täglichen solipstischen Dauerschlaf des täglichen Gebrabbels, das alles zudeckt?! Wobei das neue Gebrabbel der multimedialen Scheuklappen, das Dauergesumme der Sprüche und der Computerdiktatur und Internetverführung als angeblich wirklichere Wirklichkeit, trotz ihrer Berieselungen Hirnnähe mimt, aber ein Erwachen erstickt, verpappt, erstrecht verhindert!

Was zum Ganzen kommen könnte, zum Einen, verhindert diese angebliche Hirnnähe der neuen Künstlichkeit von „Kunst“! Das neue Mögliche auch im Fensterwesen und der Collage mithilfe des Freundes PC, Springen und Montieren am Bildschirm, der Schreibprozeß „aufgespalten in kleine und vielfältig verwendbare Einheiten, die auf jede nur vorstellbare Weise zusammengesetzt werden können. Oder könnten, wenn das Unbehagen daran für mich nicht immer größer würde“ (Brigitte Oleschinski), weil das erfrischend Kreative, Spontane, Schöpfen aus dem Nichts „die unwillkürliche Anteile am Schreiben“, das Hinabtauchen ins Ungekannte, Ungewußte,  also auch Rätselhafte, Geheimnisvolle, abgenommen hat?! Überall ist dieser Transformationsprozeß, diese globale Metamorphose erkennbar, am sensibelsten im Gedicht,  im „Verfügbarmachen von Faktoren, die aus ihren traditionellen Bindungen herausgelöst und zu neuen synthetischen Mustern zusammengesetzt werden“. Das ewig angesterbte große Eine nun also total erreicht? Ja, erreicht aber als sterile Künstlichkeit, als ein geschenkter, fixundfertiger Standard. Wird so die Einheit parodiert, Glück des höchsten Verstehen, also „Gott“, verhindert?

Was aber war bisher das Ideal dieser letzten Einheit (die uns nun verstellt wird?). Carl Friedrich von Weiz¬säcker hat den anderen – nun dieser Computereinheit radikal entgegengesetzten - Kernpunkt der Wirklichkeit sehr schön am Beispiel der heutigen Theorie der Physik, der Quantentheorie gedeutet, die von Kants Denken gelernt hat: Die von uns sinnlich wahrgenommene Vielheit der Dinge - so Carl Friedrich von Weizsäcker - sei "letztlich nicht wahr." Isolierte Ob¬jekte bedeuten nur "mangelnde Kenntnis der Kohärenz ...der Wirklichkeit.  Wenn es überhaupt eine letzte Wirklichkeit gibt, so ist sie Einheit. Vom Standpunkt dieser Einheit aus gesehen ... sind die Objekte nur Objekte für endliche Subjekte (d.h. für Subjekte, denen gewisses mögliches Wissen fehlt)... (d.h. sie sind individuelle Seelen unter den Bedingungen der Körperlichkeit)."

Und Alexander Kluge formulierte es so: "...die Aufhebung der Trennungen gehört ja zum Realistischen. Ein Realist bohrt. Er ist darin unangenehm. Er neigt z.B. dazu, einige Dinge auf  Null zu stellen."  Denn realistisch ist nur das, was wirklich ist, und wirklich ist niemals nur ein Ausschnitt, sondern immer das (undenkbare) Ganze (das niemals denkbar ist mit Hilfe eines „Rechners“!), und ebenfalls gehört zur tieferen Wirklichkeit der Unsicherheitsfaktor Beobachter,  das  Zentrum unserer Welt:  das Subjekt, das am intensivsten in der Liebe, der Musik und in der Lyrik zur Sprache kommt!
    
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Die Gedichte dieses Bandes stehen in der Tradition der "Poesia metafisica"  der "Metaphysical Poets" um John Donne - und  auch in der Tradition  jener "älteren deutschen Lyrik"; sie sind beeinflußt von den neuesten Tendenzen  einer metaphysischen Dichtung vor allem in Italien und Rumänien, auf dem Hintergrund des Schocks historischer Erfahrung in unserem Jahrhundert. Und: sie gehen davon aus, daß nicht ein ganz neuer Stil im sich öffnenden virtuellen Bereich der Welt und des Posthumen der Literatur eine Überlebenschance sichern kann, sondern nur ein Anknüpfen an eine bestimmte Tradition, die einfach "vergessen" wurde, und wie der Tod, seit einigen "gescheiten Jahren" ausgeklammert wird:

Es geht nicht darum, Neues zu erfinden, sondern im Licht dieser neuen Erfahrung das Beste fortzuschreiben, um den Bestand der Tradition nicht zum Werkzeug der neuen Sieger werden zu lassen, die ja die Erben jener sind, die immer schon gesiegt haben; daher ist das Zitat so wichtig, wie der heftige Querschläger und Erkenntnisblitz kurzer Form; als würde er jenen Moment des Aufstandes, wo Millionen den flash als Uhr einer unbekannten Zeit empfanden, auch nach  der Niederlage dem Vergessen entreißen.

Schreiben ist nicht nur der Diktatur verwandt, indem es die Welt einzusperren versucht, seit einiger Zeit überschreitet es die Grenze, läßt Welt und Text inei-nanderfließen, Schreiben ist zwiespältig, es ist versuchte Todesverdrängung; da aber Tod und Leben zusammenhängen, ist es zugleich Lebensaufschub und Totengespräch.

Auch die deutsche Poesie könnte (wie Poesie in all den Jahrtausenden auch) Grenzereignisse einbeziehen, um der Wissenschaft nicht  hinterher zu hinken, sondern ihr, wie noch im vorigen Jahrhundert, voraus zu sein, indem sie nicht den Abgrund, Schutt und Wortschutt der Außenwelt ins Gedicht nimmt, sondern den Abgrund des Rätsels Subjekt, die tiefste Wirklichkeit unserer menschlichen Welt, die immer schon das Zentrum der Poesie war, wieder als Brennpunkt zuläßt!

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