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Autorenbuch Manuel Falcão Malzbender Mrs. Pollock – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Manuel Falcão Malzbender

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Mrs. Pollock


Auf einem Stuhl am Fenster Mrs. Pollock: Durch die Gardine sickert Morgenlicht, die Beine schräg abgewinkelt, den Rücken aufrecht, zeichnet sie mit ruhiger Gebärde einen feinen schwarzen Strich auf ihre Lider, sie fragt "Did you sleep well...?" und senkt lächelnd Stift und Spiegel; Mrs. Pollock, undefinierbaren Alters, 30 am Morgen, 40 am Abend, wenn sie am Treppengeländer sich hinaufzieht, ihre Töchter in den Schlaf zu wiegen: Köchin, Putzhilfe, Altenpflegerin, Mutter - die Woche hat 7 Tage, doch die Nacht zählt selten mehr als 6 Stunden; zwei Töchter, lebendige Erinnerung einer kurzen Ehe, der Gatte schreibt Briefe aus der geschlossenen Abteilung einer Klinik, er kündigt die Rückkehr an, die Heilung, das Glück; dann ein Schweigen, das Monate währt, bis wieder ein Brief durch den Briefschlitz eines Reihenhauses fällt, in der Vorstadt von Cambridge: Fernab der Renaissance-Arkaden und grünenden Wiesen, die sanft zur Cam sich herabsenken; fernab der erleuchteten Fenster des King's College, hinter denen ein Professor, an den Kaminsims gelehnt, die ihm zu Füssen sitzende Schar mit Worten umfesselt: Asphaltene Vorstadt - ein Friedhof, ein Pub, ein Supermarkt, die Schnellstrasse in hörbarer Weite, und ein dutzend Strassen, ununterscheidbar: Haus an Haus, ein Betonpfad führt bis an die Tür, auf der anderen Seite ein Garten, zehn Quadratmeter groß, in dem ein Grill steht, ein von Feuchtigkeit verzogener Tisch, ein ausrangierter Kühlschrank; daneben, dazwischen, dahinter die neunjährige Tochter, Verstecken spielend, einem Ball hinterherjagend, den sie dem Besucher unermüdlich zuwirft, der Besucher ist ein ausländischer Gast (Verdienst Nr. 5) und belegt ihr Zimmer, während sie mit ihrer vierzehnjährigen Schwester das Bett teilt, die Nirvana hört und von einem Flug nach Seattle träumt; nach dem Tischgebet brüstet sie sich mit halberfundenen nächtlichen Eskapaden, Kleinstadt-Eskapaden - kichernde Rendevous' an der Tankstelle, Schneeballwerfen auf vorbeirasende Autos, die erste Zigarette entzündet an einem zitternden Friedhofslicht; Mrs. Pollock wendet einen tadelnden Blick ab und zieht im Flur vor dem Spiegel den Lidstrich nach, strafft mit den Händen die müden Wangen und geht arbeiten, es ist 10 Uhr abends. Am Morgen dasselbe Geschehen, auf einem Stuhl am Fenster Mrs. Pollock, durch die Gardine sickert das Morgenlicht, "there's tea for you in the kitchen"; flüchtige Gespräche, abgebrochen von Verpflichtungen, keine Zeit für Philosophien im Hort der Musen: "Are you a Christian?" "No, I'm an atheist." "A nihilist?" "No, an atheist." "...Are you sure?" - und ein Lächeln wendet das Gespräch zurück auf Wesentlicheres, draußen kratzt die ältere Tochter das Eis von den Scheiben eines rostigen VW-Bullis, während der Motor rasselnd sich warmläuft und die jüngere Schwester mit Luftsprüngen einen rauhreifüberzogenen Papierdrachen zu erhaschen versucht, der sich an einer Strassenlaterne verfangen hat; man bringt den Gast zum Bahnhof: Arkaden, Kopfsteinpflaster und Wiesen, auf denen in der Morgensonne der Tau schimmert, vor den Schaufenstern der Antiquare verharrt mit gefrierendem Atem ein Student, die Bücher an den Leib gepresst. Dann ein kurzer Abschied, halb angedeutete Umarmungen, durch das Fenster gereicht eine Blume, als der Zug sich in Bewegung setzt, Mrs. Pollock winkt lächelnd und sagt "You're too kind".

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