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Autorenbuch Willi Achten Die florentinische Krankheit – FIXPOETRY.com

Gewählter Autor: Willi Achten

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Die florentinische Krankheit


Manchen Städten – ich weiß es von Lissabon, von Tanger – nähert man sich am besten vom Meer aus. Florenz aber, sagte Sophia, müsse man zunächst aus der Luft entdecken: im Drachenflug über die Ziegeldächer und den Fluss gleiten. Ein Fluss wie ein Spiegel. Kein Boot, kein Fisch furcht das Wasser. Eine Stadt, die streng sei, die nichts von den fiebrigen Träumen Tangers, nichts von der Melancholie Lissabons wisse. Ob ich mich erinnere, fragte sie eines Abends. Eine absurde Frage. Wann erinnerte ich mich nicht! An Lissabon. An Tanger. Ein Winterabend. Vor vier Jahren. Die Stadt feucht und klamm. Ein Empfang im deutschen Konsulat. Für unser Team, das in der neurologischen Klinik Ärzte fortzubilden hatte. Ich hatte sie im Foyer gesehen. Dunkles Haar, dunkler Teint, ich hatte sie für eine Einheimische gehalten. Später sprach sie über maghrebinische Kunst und die Kulturgeschichte Tangers. Eine tiefe, ein wenig heiser klingende Stimme. Ein schön geschwungener Mund. Meine Augen ließen die Rednerin nicht los, dieser leichte Schmerz in der Zwerchfellgegend, wenn sich unsere Blicke trafen. Noch während des Applauses am Ende des Vortrags machte ich mich auf, hielt auf das Rednerpult zu und fragte sie, und sie lächelte – ein wenig spöttisch, sagte zu, mir die Kunst und die Stadt zu zeigen. Vom Meer her müsse man sich Tanger nähern.
Schon am nächsten Abend fuhren wir hinaus, sie stand an der Reling, die Gischt spritzte, und der Regen fiel in bleistiftdünnen Strichen vom Himmel. In den Ohren das Pfeifen des Windes und das Klatschen der Wellen, wenn der Bug einen Wellenrücken nicht zeitig genug hinaufritt und ein Wellenkamm die Bordwand mit Wucht traf. Die Stadt, kubisch und weiß, dann grau, bis die Silhouette vor meinen Augen verschwamm, als Sophia, breitbeinig, um auf den Planken das Gleichgewicht zu halten, meine Hand nahm, sie an ihre Wange legte, einen Augenblick lang, bevor ich die Augen schloss und in den Füßen das Vibrieren des Schiffsmotors spürte.
Später an Land besorgte Sophia einen Wagen und einen Fahrer. Er fuhr uns hinaus in die Nacht, er fuhr in den Morgen und den Abend, das Land war fruchtbar und der Ozean blau, und manchmal schlief sie, ihr Kopf sackte in das Polster des Citroens, der uns über die Landstraßen schaukelte, die, je tiefer wir in den Süden kamen, unbelebter wurden. Auf dem Asphalt am Ende der Sous-Ebene unterhalb der Südhänge des Atlas, dann die Luftschlieren der Hitze, Eselkarren und rußgeschwängerte Lastwagen, im Straßendreck kauernde Kinder, in den Bäumen Ziegen, die von Ast zu Ast kletterten auf der Suche nach winzigen grünen Blättern, Hirten, die zu Füßen der Stämme hockten, regungslos, wie verzaubert von der Hitze, die Sprenkel weißen Lichts auf Sophias Wange warf, und wir schauten uns an und sprachen kaum, und manchmal zog sie die Vorhänge an den Fenstern und zum Fahrer hin zu, und dann saßen wir in einer flaschengrünen Dunkelheit, die uns vor allen Blicken schützte, während wir staubige, trostlose Ortschaften passierten, in denen, sobald der Fahrer hielt, um zu tanken oder eine Kleinigkeit zu essen, Trauben von Kindern den Wagen umringten, ihre Finger klopften gegen die Scheiben, zart und rhythmisch wie Regen, der hier seit Jahren nicht mehr gefallen war, und manchmal öffnete sie die Wagentür, stieg aus, und die Kinder wichen zurück, sie warf ein paar Münzen in den Dreck, und die Kinder schwirrten zu Boden wie Fliegen, die ein Stück Aas entdeckt hatten, woraufhin sie wieder in den Wagen zurückkehrte, der sich auf fast schnurgeraden Straßen, immer häufiger von Sandverwehungen behindert, seinem Ziel näherte, bis endlich der Asphalt einer Piste wich und der Fahrer Reifenspuren und den Stümpfen abgeknickter Telefonmasten zu folgen schien und sich allmählich am Horizont aprikosenfarbene Höhenzüge aus dem Glast schälten, Trugbilder, weiche, geschwungene Linien, die, je näher wir kamen, an Intensität, an Klarheit gewannen. Der Wagen hielt vor einem heruntergekommenen Lehmbau, ein burgähnliches Gehöft mit vier niedrigen Wachtürmen, wir stiegen aus, liefen hinaus in die Dünen, die nun ein Orange trugen, da die Sonne unterging, der Wind trieb Staubfahnen über die Kämme, die wir erstiegen, unsere Schuhe hatten wir längst abgestreift. Manchmal blieben wir stehen, außer Atem, schauten über dieses gefurchte Meer und in mir der Wunsch, immer tiefer in dieses Labyrinth der Grate und Klippen, der Senken und Wannen zu verschwinden, es zu durchwandern, bis die Erschöpfung mich würde umkehren lassen, aber es kam nicht dazu. Auf einer Anhöhe, der Wagen, das Gehöft, winzige Punkte nur noch in der scheinbaren Endlosigkeit der Wüste, fasste sie meine Hand, zog mich zu sich heran, dann sanken wir auf den Sand, sie strich über meine Wange, küsste mein Ohrläppchen und meinen Mund, ihre Zunge fuhr meine Kehle hinunter, sanft drückte sie mich zu Boden, über meinem Kopf ein Schwall aus Haar, das meine Haut kitzelte, so dass sich mein Gesicht zu einem Grinsen verzog, das Sophia bemerkte, und sie zunächst irritiert innehalten, dann ihre Bemühungen verstärken ließ, ein Missverständnis, da ich längst begonnen hatte sie zu entkleiden. Langsam, Stück für Stück nahm ich ihr, was sie am Körper trug, bis sie nackt auf mir lag, ich sie von mir herunterschob, ein Fisch im Sand, der sich drehte und wand, der leise bebte unter meinen Berührungen, der still wurde, als ich in sie hineinkam. Ihr Atem stockte, dann hechelte sie, schwamm durch den Sand, der ihren Rücken panierte, sie flüsterte meinen Namen, ich sah mich selbst in ihren Augen, schimmernd in der untergehenden Sonne, noch ohne die Qual, sie verlieren zu können, noch ohne das Gestrüpp des Kummers, in welchem man sich verfängt und aus dem man nicht mehr herausfindet. So früh fürchtet die Liebe noch nicht den Verlust, so früh ist sie ihrer selbst gewiss, weiß sich ins Ziel kommen, kennt noch nicht die Bleigewichte von Zweifel und Sehnsucht, die an den Füßen baumeln und unseren Gang behindern. In der Liebe muss man schnell sein, muss den Augenblick nutzen. Aber wer ist leichtfüßig, wer vermag zu fliegen mit dem Gewicht des Schmerzes?
Sophia japste nach Luft, schlang ihre Beine um meinen Rücken, ihr Atem stieß in mein Ohr, sie bäumte sich auf, riss an meinem Nacken, als gälte es, ihn an die Schwerkraft zu erinnern, bevor sie kam und das Regengrün ihrer Augen sich einen Moment lang verwischte.
Später Lissabon. Ob ich mich erinnere, an jenen Moment, als das Schiff den Tejo hinauffuhr und wir die Stadt sahen. Sophia war schön, eine Schönheit, die man wie einen Schmerz fühlt. Splitter blauen Lichts, das die Bordbeleuchtung warf, tanzten auf ihrem Haar, und ihre Zähne leuchteten weiß und seltsam grell in die beginnende Nacht hinaus, es war jener Moment, da die Stadt, der Quai vor uns schon eindunkelten, aber der Himmel noch fast blau war. Ich tauchte mein Gesicht in ihr Haar, in der Ferne der Pfiff eines Zuges, ein gestreckter und spitzer Ton, meine Hände fuhren ihren Rücken hinunter, und ich schmeckte den Duft ihres Haars, dieses nicht eigentlich dauerhaft schwarzen Haars, das im Süden immer ein wenig ins Brünette aufhellte, und sog ihn ein, den Duft, in die Spitzen meiner Lungen, in die Verästelungen der Kapillare, wo er die Blutschranke passierte und also in mir gegenwärtig blieb, da irgendein Speicher in meinem Hirn ihn dann archivierte – jener Duft, der Sophia ist.
Der Quai füllte sich, die Motoren wartender Autos drehten im Leerlauf vor sich hin, Koffer und Taschen wanderten in Kofferräume und auf Rückbänke. Ich wollte, dass er blieb, dieser Augenblick, dass die Zeit für Sophia, für mich, dieses eine Mal, auf einem Schiff auf dem Tejo, eine Ausnahme machte, aber die Zeit kennt keine Ausnahmen, und so verringerte sich allmählich die Intensität unserer Umarmung, der Druck der zueinander strebenden Körper, und wir verließen als letzte das Schiff und gingen hinein in die Stadt.
”Nichts bleibt, wie es ist”, meinte Sophia an jenem Abend und biss kleine Stücke von der gegrillten Sardine ab, die ich ihr hinhielt, als sei sie ein Tier und ich der Dompteur.
”Masaccio”, sagte sie, ”was meinst du, hat man ihn mit einem Fisch vergiftet?”
Ich blickte auf ihre Kehle, in der die kleinen Bissen verschwanden.
”Der Fischgeschmack ist so ausgeprägt, wer spürt schon, wenn man einem Fisch etwas beimischt”, fuhr sie fort.
”An welches Gift denkst du?”, fragte ich.
Sie lächelte und antwortete: ”Erzähl ich dir später.”
Später dann Florenz. Ohne mich. Studien für ihre Dissertation. Monate blieb sie dort. Als sie letzten Herbst zurückkehrte, war alles anders zwischen uns.
 

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