Essay

Forscher, Raum & Blasenschwäche

Vier Denkschritte von Frank Milautzcki über das Prinzip "Raum"
Hamburg

Bin ich es noch, der da unkenntlich brennt?
Erinnerungen reiss ich nicht herein.
O Leben, Leben: Draussensein.
Und ich in Lohe. Niemand der mich kennt.

(Rainer Maria Rilke 1926 in den Duineser Elegien)

1

Einer der ersten Schocks, an die ich mich erinnere, ist die Beobachtung, daß ich nicht du bin, daß mein Ich offenbar alleine in der Welt steht, neben all den anderen Ichs, von denen ich nicht weiß, wie sie ticken. Ticken in dem Sinn, daß ein Ich den Moment befragt, inwieweit er mich aufnehmen und beherbergen kann, inwieweit er eine Rolle zulässt, die ich zu spielen anhebe oder wie ich Rollen zu spielen verweigere. Wenn die anderen Ichs aus ebenso komplexen Überlegungen und schwer durchschaubaren Antrieben heraus agieren wie ich, dann ist der andere für mich prinzipiell nicht fassbar, dann bleibt er ein schwarzer Raum, dem ich zwar hineinleuchte, aus dem ich aber nur vermutungsweise Informationen über die Architektur der darin wirksamen Apparatur und ihre Antriebe erhalte. Ich weiß, da ist ein Apparat, aber ich weiß nicht, wie er funktioniert, solange ich nicht selber weiß, wie ich funktioniere. Und auch dann kann ich mir nicht sicher sein, daß mein Funktionieren verallgemeinerbar ist, ob die gespürte Differenz sich nur auf erzeugte Inhalte, oder sogar auf die mechanistische Ebene beziehen lässt. Das ist das Extrem der Verunsicherung. Ich entkomme ihr am Ehesten, wenn ich Differenz erst gar nicht denke, also, indem ich mich Massenströmen einverleibe und anvertraue. Möglicherweise erlebe ich dann ein OK, das mir gemeinsame Momente aufschließt, die befragungsfrei und also unbeschwert bleiben.

»I’m in the front row with popcorn.
I get to see you – close up.«

(Alanis Morissette)

Der zweite Schock ist, daß ich ein Du bin. Daß ich für den Anderen jemand bin, den er befragt, der von mir wissen will, welche Mechanismen und Apparaturen in mir mein Äußern gestalten und warum ausgerechnet so. Ich bin der Befragte und habe durch mein Verhalten Auskunft zu geben, was ich bislang in der Welt habe entdecken können in den Gestalten des Moments. Habe ich Abgründe gesehen oder Himmel, habe ich Teufelsmaschinen am Laufen, hoffnungslos schwierigen Betrieb, oder Raum für Schwebeversuche und Abhebeerlebnisse. Muß ich mich schämen für meine Funde, für mein Denken, oder gibt es Übereinkunft und Aha – darf ich mein Scheitern offen zeigen oder muß ich es/mich verstecken hinter akzeptierten Maskeraden. Darf ich mein Gelingen feiern oder halte ich mich zurück?

Bin ich des Teufels, wenn ich den Moment nicht lächelnd begehe, begehen kann, weil meine Fragenpakete die Balance des Gesichts verziehen? Attraktiv ist das nicht, das ist schnell heraus, attraktiv geht anders. Auf alle Fälle geht es, wenn … ich schon morgens im Spiegel gar nicht hineinschau, wenn ich nach einem Kaffee Korrekturprozeduren einflechte und dann das Gesicht bewußt gerade biege, ohne die Lasten der Nacht und die Bürden der Jahre wirklich überwunden zu haben. Ich kann also dank Mimikry attraktiv sein, solange keine Situation, kein möglicher Blick aufs Nackte mich enttarnt. Welche Innenräume erzeuge ich, um mein Ich zu verstecken und was gebe ich freiweg nach außen? Es steht mir frei, mich dem Du ehrlich anzuvertrauen oder es als Bühne zu nutzen. Mein Investment ist meine Sache, der Raum, den ich um mich erzeuge, gehört zu mir und meiner Fassbarkeit ...

2 a

Mit Nietzsche hatte ich bislang nichts am Hut. Ich stoße auf ihn in unzähligen Zitaten während der Lektüre von Ferdinand Aushers Buch "Macht der Form", das ich zur Rezension bestellt hatte, um zu sehen, ob es Auskünfte bietet über die Zusammenhänge der Begriffe Form und Information; Gestalt und Gestaltung; Dasein-als-Welt und Dasein-in-der-Welt. Meine ersten Notizen (zum Umriss der Ufer) starteten & wurden zu folgender Denkbewegung:

Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach strebt,
über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen
(- sein Wille zur Macht:) und Alles das zurückstoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt.
Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen anderer Körper und endet,
sich mit denen zu arrangieren ('vereinigen'), welche ihm verwandt genug sind:
s o c o n s p i r i e r e n s i e d a n n z u s a m m e n z u r M a c h t.
Und der Prozeß geht weiter ...

(Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887-1889, 14 [186], KSA 13, 373f, Hervorhebung im Original.)

Es fällt auf, daß Nietzsche Raum denkt als einen Bereich, der sich erschließt, indem die Reichweite der eigenen Bewirkung Anwesenheit festigt und gleichzeitig andere Bewirker verdrängt.

Darin sind Grundannahmen versteckt, die es zu klären gilt. Die Rede ist bspw. von einem ganzen Raum (wahrscheinlich das Gefäß, das alles enthält?), und auch von einer Kraft, die die Ausdehnung will und des Zurückstoßens fähig ist. Raum ist in Nietzsches Lesart etwas, das man sich erobern muß und festigen. Es gilt ihn nicht nur zu verteidigen,sondern auszuweiten und seine Umweltung so zu gestalten, daß das Grunddilemma der Existenz kein Dilemma mehr ist, sondern eine gesicherte Zone. Macht würde zusichern: eine mir nicht widersprechende Welt, mich nicht verdrängend. Kraft wäre hier das Mittel zur Machtausübung, eine abstoßende Kraft, die alles fortschafft, was mich bedrängt, was nicht fähig ist mit mir zu konspirieren.

Nietzsche sieht das auf elementarer Ebene. Elementar gedacht, gibt es keine Veranlassung, von einem Bedrängen oder Verdrängen zu reden und von Beanspruchung eines Raumes, in dem anderes Sein „da ist“ (so wie Hyänen um einen Fetzen Fleisch streiten). Tatsächlich gibt es neben dem von mir als Elementarteil beanspruchten Raum jede Menge anderen Raum und keine Notwendigkeit, einem anderen Subjekt den Raum streitig zu machen. Im Gegenteil: An dem von mir genutzten Raum passiert etwas Eigentümliches, nämlich die Verdrängung des Raums in dem Umfang, der meiner Ausdehnung entspricht. Dort, wo ich bin, kann kein Raum mehr sein - falls Raum, wie in der allgemein üblichen Vorstellung verankert und in den geometrischen Theorien der Relativität betoniert, eine Entität eigener Existenz ist.

Wenn es die Eigenschaft gäbe, daß Materie sich spontan selbst erzeugt (was eine Interpretation der Mathematik der Quantenphysik impliziert), und einen Raum drum herum, der nicht fortweichen kann, sondern im Gegenteil aufreißt als kreatives Vakuum, dann lebten wir in einem kosmologischen Kochtopf. Der Raum, immer noch als Entität gedacht, sollte also so beschaffen sein, daß er dem Subjekt weicht und dadurch nicht unter Druck kommt. Andernfalls veränderte das Subjekt durch seine Anwesenheit die Dichte des Raums. Ein fixes Raster wird unter Druck kommen, und seine Linien werden um den Eindringling herum verzerrt, und zwar gestaucht. Ein nichtfixes wird dem Ding ausweichen und bleiben wie es ist. Ein Raum, der dem Ding in die Schwere folgt, würde gedehnt. Raumforscher fänden ein reiches Betätigungsfeld, aber das Thema ist von den Physikern anektiert und jede Poesie weggedrängt in einen Bereich für Spinner und Idioten.

Ich persönlich denke, der Raum ist weder eine Entität, noch begrenzt. Es gibt ihn schlicht nicht. Schon der Mathematiker Bernhard Riemann, auf dessen nicht-euklidischen Geometrien Einstein seine Relativitätstheorie aufbaute, formulierte 1854 in seiner Habitilationsschrift eine anstehende Entscheidung: „Es muss also entweder das dem Raum zu Grunde liegende Wirkliche eine diskrete Mannigfaltigkeit bilden, oder der Grund der Massverhältnisse außerhalb in darauf wirkenden bindenden Kräften gesucht werden.“ Einstein und die Physik haben in der Geometrisierung der Raumzeit einen dritten Weg gefunden: das Wirkliche beeinflußt den Raum so, daß es aussieht, als wirke eine Kraft.

Ausgangspunkt dabei war die Beobachtung von Koordinaten. Ein anschauliches Beispiel dazu gibt uns Siegfried Müller-Markus 1986 in „Der Gott der Physiker“: Wenn wir zwei Punkte auf ein Blatt Papier aufmalen, so bleiben die Koordinaten fixiert in einem senkrecht aufeinander gestellten System, solange wir das Papier in Ruhe lassen. Was passiert mit den Koordinaten, wenn wir das Papier wölben? Nun haben wir plötzlich das Problem, gekrümmte Bahnen zwischen den Koordinaten beschreiben zu müssen, gedachte Linien folgen gekrümmten Bahnen auf dem Objekt. Allerdings und entscheidend: wir haben nicht die Koordinaten verändert, sondern den Gegenstand, das Blatt Papier.

Einstein sagt jetzt: Die Raumzeit ist das Blatt Papier, die Koordinaten sind die Dinge. Damit macht er einen folgenreichen Sprung: Er fügt den Dingen dieser Welt einen Koordinatenträger hinzu und sagt, ihn gibt es wirklich. Ein allgegenwärtiges Zusatzding unter den Dingen, das von dem selben Beispiel eigentlich - anders argumentiert - verunmöglicht wird, da es zeigt, daß sich Koordinaten auf Dingen dann verändern, wenn sich die Dinge verändern, z.B. wenn wir Dinge bewegen. Die Koordinate steht für einen Punkt auf einem Ding, das selber - auch das ist entscheidend - niemals punktartig sein kanni - und wenn sich das Ding verändert, verändert sich die Koordinate.

Das Problem der Koordination wird dann nochmals deutlicher, wenn sich nicht nur das Blatt Papier wölbt, sondern auch relativ zu mir bewegt und ich dabei in einem Karussell sitze, während die Erde sich um sich selbst dreht. Was passiert, wenn ich das Papier zerknülle und aus meinem Sitz in die Luft werfe? Wie beschreibe ich das, was mit den zwei Punkten auf dem Blatt Papier in Relation zu einem Beobachter des Beobachters passiert? Welche gültigen Perspektiven gibt es, und wie kann ich die Veränderungen wiedergeben, die den beteiligten Dingen widerfahren? Wie kann ich ein gültiges Koordinatensystem auslegen, das alles Existierende als Koordinate erfasst? Und ist es legitim, dabei Dinge als Punkte zu idealisieren? Welchen Maßstab benutze ich, um die „Distanz“ zwischen zwei Punkten wiederzugeben? Ein Maßband, daß ich über das gewölbte Papier lege?

Weiter mit dem Exkurs, der Gedanke ist gleich zu Ende: Angenommen, das Papier wäre (nach Physiker-Lesart) der Raum, so müßte das Maßband, das ich ihm auferlege oder (am Sinnvollsten) aufklebe, jede Wölbung und jede Knüllung mitmachen, es erlebt auf der „Oberfläche des Raums“, der Papieroberfläche, jede Pore der Veränderung, jedes Bewegungsspiel, ohne kürzer oder länger zu werden, sofern die (aufgemalten) Koordinaten an ihrem Platz auf dem Papier bleiben. Aber wie fein und wie dünn muß das Maßband sein, um die richtigen Ergebnisse zu bekommen? Darf es die Erhebungen der Zellulose, die Holzteilchen im Papier, die Wasserzeichen mitmessen, die zwischen Ursprung und Punkt liegen, womöglich die atomaren Wellen und Täler – bei welchem Maß ist Raum homogen? Und würden die Punkte in der Wirklichkeitsbetrachtung von außen nicht einen wilden Parcours im Vakuum aufzeigen, der durch das Krümmen und Falten des Papiers bedingt ist?

Die Entfernungen auf dem Blatt würden sich nicht verändern, sofern das Papier selber sich nicht dehnt oder zusammenzieht. Das Bewegungsspiel der Koordinaten wäre bedingt rein durch Veränderungen des Papiers, auf dem sie aufgemalt sind. Ob das Papier als zerknüllte Kapitulation in hohem Bogen aus dem Zelt des Feldherrnlagers fliegt, bleibt genauso ohne Einfluß auf den Abstand der aufgemalten Punkte, wie die Veränderungen, die das Papier erfährt, während es der Feldherr wutentbrannt zwischen seinen Händen staucht und zur Kugel formt.

Das aufgeklebte Maßband macht all diese Manipulationen mit. Der Außenstehende allerdings, der das Blatt Papier nicht sieht (immerhin ist es der unsichtbare Raum), würde „zufällig“ zwei Punkte in nächster Nachbarschaft durch die Luft tanzen sehen, die in statischer Wahrheit – auf dem Papier – weit voneinander entfernt liegen und dort sichtbar immer noch lägen, wenn man den Raum glättete.

In diesem Beispiel verändern wir das Blatt Papier und erzeugen damit Bewegung der Koordinaten.

Welche Kraft sollte aber in Feldherrenmanier das Papier zerknüllen können? Wir sind hier sofort wieder im „Herrschaftsbereich“, einer Zusatzannahme von Göttlichem, die nicht bewiesen werden kann. Deswegen rettet sich Einstein in folgende Überlegung: Die Dinge selbst verändern den Raum, und zwar so, daß alle Existenz, selbst Licht, in Gegenwart großer Massen, großer anderer Existenzen, gekrümmten Bahnen folgen muß. Die Koordinaten selbst verändern das untergelegte Blatt Papier und verstrecken oder schrumpfen das Maßband.

Das bedeutet nichts anderes als Flexibilität. Eigentlicher Raum wird nach dieser Lesart von anderer Existenz verformt. Dies entspricht dem gern und viel benutzten Gummituchbeispiel zur Verdeutlichung einer Gravitation, die als geometrische Verformung einer Raumhaut beschreibbar ist. Masse verändert den kürzestmöglichen Weg, den Dinge nehmen können, weil sie die Haut verändert, auf der die Dinge reisen. Die Einbettung der Masse wiegt sich in der Raumzeithaut aus, das ist das Konzept der allgemeinen Relativitätstheorie. Die Koordinaten haben plötzlich Gewicht und verziehen das Papier. Sie drohen durch die Haut des Existierens zu fallen, und wenn sie schwer genug sind, tun sie das auch und hinterlassen ein schwarzes Loch. Dann führt kein Maßband irgendwohin, sondern flieht ins Unendliche.

Ich kürze jetzt doch ab: das Koordinatenproblem ist (mit dem in ihm enthaltenen Gleichzeitigkeitsproblem) d i e Herausforderung der Physik, die Einstein zu beantworten versuchte. Jeder Raumforscher sollte das Problem von dieser Seite aus immer wieder von neuem aufrollen und betrachten. Mir persönlich wird dabei jedesmal relativ deutlich, ohne es hier im Detail begründen zu wollen, daß die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie nicht endgültig die „realen Verhältnisse“ii spiegeln, und der durch sie definierte Raum wohl nur eine Beschreibungshilfe ist, die wir nutzen, um stimmiger relativ denken zu können. Worauf ich hinaus will: In realiter ist Raum weder ein Wasser (= eine dreidimensionale Haut), noch ein Raster. Er entsteht als Eigenschaft bei der Ortsvergewisserung eines Subjekts und wird dadurch zur Formwahrheit im Anderen. Das Subjekt verdrängt nichts, wenn es feststellt, es ist da, aber es formatiert durch sein Dasein die Möglichkeiten (auch des Kontaktes) alles Anderen. Insofern ist Eigenraum immer auch Formmitteilung, Information nicht nur über ein relatives Wo, sondern auch über ein spezielles Wie.

Und zurück zu Nietzsche: Es ist ein Unterschied, ob ich etwas wegdrücke, oder ob ich mich ausdrücke. Das Subjekt wird zum Ort des Daseins und des Potentials, es kapselt seine Bewegung in ein formales Angebot, nurmehr vor Ort oder besser: als Ort zu geschehen. Das Subjekt ist ein Ort eigener Anwesenheit und kann keine zweite Anwesenheit aufnehmen, es wird dem Anderen seine Identität nicht rauben, aber es kann dessen Anwesenheit zulassen, wenn dessen Formwahrheit in die eigene Ortsvergewisserung passt. Es sind dann zwei Subjekte anwesend, ohne daß das eine das andere verdrängt. Als Ensembleiii machen sie ein viel weitergehendes Angebot, als sie es als Solisten könnten. Potential weitet sich aus, Reaktivität, Attraktivität, wenn man so will. Das Ich, das sich verortet, wird zum Du, das verortet wird.

2 b

Die Tatsache, daß ich diese Sätze schreibe, zeigt zu genüge, was Nietzsche „Conspiration“ nennt, nämlich die Tendenz zueinander zu finden „einander zu verstehen“, Stabilität zu arrangieren, letztlich sogar als Leben unterwegs zu sein. In Nietzsches Denken klingt irgendwie eine Verschwörung mit, die hilft, Bedrohungen abzuwehren, Machtbereiche zu behaupten oder auszuweiten, man hört einen darwinistischen Ton, ich würde eher von Versöhnung und Verbrüderung reden. Die Art und Weise, wie Moleküle ein Miteinander eingehen, hat nichts mit egogetriebenem Machterwerb zu tun, sondern mit überlebenswichtigem Formschluß, dem schlichten Fakt des besseren Überlebens im Meer der Information, wenn Überleben Anwesenheit heißt. Wer nicht als Licht auseinanderfliegen will, sondern einen Ort behaupten, der muß sich um Stabilität kümmern, und sei es, daß er sich dabei um eigene Achsen dreht oder sich in ein anderes Vorhandenes verhakt - etwa durch rhizomatische Verflechtung.

Den „ganzen“ Raum kann man weder denken noch finden, denn es gibt Raum erst, wenn sich etwas als Inhalt anbietet und sich verortet. Überall, wo ich bin, trage ich meinen Raum mit mir und habe ihn zu behaupten gegen andere Räume, die um mich sind. Raum ist kein abstraktes Konzept für topologische Beziehungen, sondern vielmehr ein real gelebter Verhalt. Der Raum, der mein Überleben in einer kleinen, schäbigen Kiste in einem Stapel gleicher kleiner schäbiger Kisten erlaubt, in der ich mich vor Schergen versteckt halte, die einer so kleinen Kiste keine Beachtung schenken würden, und der Raum, den ich als Gipfelstürmer auf dem Mount Everest für mein bloßes Überleben benötige, bemißt sich nicht nach Volumen, das ich fülle, sondern zeigt auf, wie ich Informationsmassen kumuliere, wie sich mein Wissen und mein Verstehen abbilden und in die Dingrealität fügen. Wie die Anwesenheit auf dem Gipfel des Mount Everest nur das Endglied einer lange Kette der Raumermöglichung sein kann, die sich das Wissen und die Erfahrung vorhergehender Bergsteigergenerationen zunutze macht, ist der Bretterverschlag ein Raum, der meine durch jahrzehntelang erworbene Menschenkenntnis gestützte Spekulation um die Suchvorlieben der Schergen abbildet („da passt doch keiner rein“). „Mein Raum“ ist in beiden Fällen der Bereich, den ich mit in die Welt bringe, angefüllt mit ausgelesenen Informationen der Vergangenheit, die mir helfen sicher durch die Welt zu kommeniv. Die Plätze, Außenräume und Bühnen, die ich dafür benutze, sind und bleiben auch ohne mich das, was sie sind. „Der ganze Raum“ ist ein Dickicht aus Eigenräumen, die sich ineinander verzahnen und verschrauben, ein Dschungel der Anwesenheiten, der nicht nur aktual gefährlich ist, sondern potentiell. Hinter dem Baum lauert ein Etwas, wofür der Baum nichts kann. Potential ist ein Bestandteil jeder Adresse.

Beim Überleben im Dickicht kann der zweckmäßigste, mächtigste Raum, den ich beanspruche, auch ein durch Verstecken minimierter sein. Es macht Sinn, Raum nicht als zu eroberndes Außerhalb zu betrachten, sondern als Schachzug des Inneren im Spiel der Kernattitüden. Welcher Gesamtraum dabei entsteht, ist zunächst zweitrangig, es wird sich weisen, ob er auch mit meiner Anwesenheit stabil ist und im Idealfall auch bleibt. Bleibt er es nicht, so war mein Raumbeitrag entweder ungeeignet oder zu anspruchsvoll.

Wenn der Appetit auf einen Burger dazu führt, daß ganze Lebensräume abgeholzt werden, so stimmt etwas mit meinem Anwesenheitsanspruch nicht. Dann fordert meine Art der Anwesenheit Räume, die deutlich über das hinaus gehen, was notwendig ist. Denken wir die Evolution als natürliches Prinzip, das Raumansprüche nur so lange stabil halten kann, wie sie respektvoll erhoben werden (im angelsächsischen Sprachraum heißt der Gegenbegriff abuse, also Mißbrauch), dann können wir uns vorstellen, wo unser Anwesenheitsanspruch und unsere Lebenserfragung enden.Wenn wir Lebensraum denken, dann fragen wir notwendig: Wie definiere ich meinen Raum und werde unkündbar?

Im Falle des Menschen ist das ein sehr komplexes Thema, das sich in den Gesellschaften mit zugewiesenen Rollenspielen beantwortet. Damit eine Gesellschaft überleben kann, müssen ihre Mitglieder auch Teilnehmer sein, der gemeinsame Raum will bespielt sein mit den An- und Einsprüchen aus den Eigenräumen. Dabei ist es klug, diese Ansprüche zu lenken, die Menschen anzufüttern wie ein umherstreunendes Rudel Hunde und dann einzuzäunen, sprich: die Eigenräume zu definieren, Mindestmaße festzulegen. Erwählte Menschen, Politiker, arbeiten hier den Geldmenschen zu, unter dem Mantel der Gleichheit findet die Masse das vereinheitlichte Futter. Dort gibt es kein Dasein in der Welt mehr, sondern Dasein als Welt. Ein großer Schwindel unserer Zeit ist ja, daß wir zugewiesene Eigenräume als Welt verkaufen und exportieren. Die Welt ist das, was WIR leben, alles andere dient dem nur. Wenn wir die Welt erleben wollen, müssen wir sie beherrschen, müssen wir in ihre Räume vordringen und uns darin behaupten.

Dies ist der Ratschluß aus Nietzsches Analyse, der konspirative Akt unter Menschen. Daß Nietzsche dabei die Mitexistenz an sich bedachte, das In-der-Welt-Sein als gemeinsame Verschwörung hin zum gemeinsamen Leben darstellen wollte, adelt seinen Gedanken als musikalischen, der den Einklang sucht (lat. cōnspīrāre = im Einklang stehen, zusammenwirken). Von dieser Konspiration ist nur wenig wiederzufinden. Wir reden heute von Freisetzen und Neoliberalismus und meinen damit Hemmungslosigkeit, Abbau von Grenzen bis hin zur Globalisierung und damit auch von hemmunglosem Weltverbrauch.

3

„Der Humanismus ist der Fundamentalismus unserer Kultur, er ist die politische Religion des globalisierten okzidentalen Menschen, der sich für so gut und klarsichtig hält, daß er sich gern überall nachgeahmt sähe.“ Sloterdijk (2001). Eine Analyse, die bei falschem Lesen reichlich Empörungspotential hat, aber bei genauem Lesen und Nachdenken einen der Hauptgründe für das Entstehen bspw. des Dschihadismus benennt.

Ich kann mich an viele Beschimpfungen erinnern, denen Peter Sloterdijk ausgesetzt war und ist (auch unlängst wieder verortete man ihn plakativ als Argumentelieferer der AfD) - hauptsächlich von altlinksliberaler Seite, die nicht fähig ist, Denkurteile ohne Linientreue auszulegen und lieber in Denkblasen verbleibt, als sich auf unbekanntes Gebiet zu trauen. Solche mittlerweile gut eingebürgerten, im Versorgtsein angekommenen Ex-Rebellen „ … machen sich nicht klar, daß sie sich benehmen wie kleine steife Leutnants auf den Erleichterungshügeln. Sobald man an den tragischen Raum rührt, schreien sie los und meinen, sie haben den Feind gesichtet, dann sehen produktiv experimentierende Autoren … aus wie Fünfsternegeneräle der neuen Düsterkeit“, läßt uns Sloterdijk dazu im „Selbstversuch“ (1996) wissen.

Tragik und Drama existieren nicht mehr in der gleichberechtigten Welt des geteilten Futters. Daß es Syrien gibt, liegt daran, daß es Syrien gibt. Wäre Syrien ein Teil der befreiten, erleichterten Welt, dann gäbe es auch dort keine Tragik mehr. Das easy livin' der Moderne ist hier überdeutlich im Kern der westlichen Gesellschaftsdenke verankert, mit den großen Begriffen des Humanismus verknüpft und gilt als überallhin übertragbares, ja unausweichliches Prinzip. Schwere ist rückständiges Gebundensein an die Erde. Die Moderne hilft uns den Rückstand zu überwinden, macht uns unabhängig und schwebend. Fortschritt ist Raumoffensive und für Rekorde haben wir Red Bull.

Wer da an die nackte Existenz denkt und existenziell, wer nicht mit intellektuellen Picknickkörben unter toskanische Olivenbäume strebt oder in schwerelose Orbits, wer das Selbstverwirklichungsprojekt aufgibt, weil er die Kategorie der Schuld entdeckt, der hat vertikal versagt und ist der Miesepeter in der Rolle rückwärts, der dem Rest der Leute den Spaß verderben will. Wer aufgehört hat sich aufzublasen, fällt zurück aus dem Sprudel.

Der quirlige Konsument von Lightprodukten, der lachende Hans im Scheinwerferlicht („wie geht positiv?“), der gutgelaunte Weißbescheid sind gesellschaftlich gewollte Typen, die auf kleinem Raum in kleine bunte Himmel finden, die sie „teilen“ im Sinn von Mitteilung, aber nicht im Sinn von gemeinsamem Raum. Gründe und Mittel abzuheben gibt es in jeder Farbe. Differenz ist eine Eigenschaft jeder Farbe, nur Weiß und Schwarz scheinen anders, endgültig, unausweichlich, unmischbar - was ich hier tippe hat eine eigene Schwere. Ich differenziere mich nicht, ich bleibe zu Hause; Trauer, Tod, Leere, rohe Gestalt sind Vabanquespiele zwischen Etwas und Nichts. Der Schreiber opfert möglichen Weltkonsum in farbigen Partys, zieht sich zurück auf Zeichen und versucht aus dem schwarzweißen Abseits die Buntheit der Welt zu zeichnen. Das sind Luftballons, die er losläßt, Sinnbeiträge aus dem Nichts, Konturen der Weltzeit, die im Dahinter tickt. Aber eben auch Raumangebote und Markierungen, Kartierungen von Minima und Maxima.

Zurück auf die Schienen des Essays: Vor ein paar Tagen beim Zappen im Fernsehen gesehen: ein Bericht über eine AfD-Veranstaltung, wo der Parteivize als Strahlemann sich in attraktiver Wichtig- und Geschäftigkeit mit Parteifreunden unterhält (und dabei ganz genau „übersieht“, wie die Kamera auf ihn draufhält). Ich schaltete sofort weg, wie ich auch abschalten würde, wenn mir dieser aufgeblasene Mensch im privaten Bereich begegnen würde.

Wenn man sagt, der eine sei ein aufgeblasener Typ, dann meint man, daß einer den Raum seines Ichs über Normalmaß ausgeweitet herumzeigt, daß er sich selbst wie einen großen Ballon durch die Gegenwartsluft steuert. In dem Satz steckt die Beobachtung, daß Menschen Eigenraum beanspruchen und manche dabei regelrechte Raumdiebe sind. Die von der Psychologie in die Tiefe verbannten Superzentren Es - Ich - Über-Ich, die ins Innere unauffindbar verbannten psychischen Reaktoren, liefern das radiale Streben, mit dem die Raumhaut gespannt wird, und die eigene Luft, den hochreaktiven Sauerstoff für das mentale Stretching.

Man kann neben einem Menschen sitzen und ihn tröstend umarmen, ohne seine Blase zu durchdringen, und man kann mit einem Menschen schlafen, ohne ihn wirklich zu penetrieren oder penetriert zu werden. Ich erreiche nur, wessen Reich sich mir öffnet, wer seinen Raumanspruch für den Moment aufgibt, um dafür einen gemeinsamen Raum zu testen. Im Idealfall können Menschen so miteinander sein, daß ihr Eigenraum aufhört, unnötig verstrebt zu sein, und dennoch nicht zusammenfällt - dadurch gibt es Platz für den Anderen, in dem er sein kann, wie er ist. Das hat mit Verzicht auf Eigenraum absolut nichts zu tun, sondern eher mit veränderter Statik. Je aufgeblasener das Ego, desto mehr Trajektorien treten auf, umso mehr müssen fixe Streben stützen und schützen (und den Zutritt verhindern). Ichmenschen müssen weit gehen, um den Anderen zu finden, und sie sind schon auf dem Weg allein. Einzelgänger, krepierte Geschosse genauso wie uneinholbare Raketen. Eigenraum bemißt sich nicht in Ster und Kubikv.

Aus diesem kleinen Beispiel könnte man eine Philosophie der Beortung entwickeln, wenn der Ort auch ein raumforderndes Ding sein darf und kein purer Koordinatentreff, also eine Philosophie der Raumsuche und -behauptung, ein Bubble-Szenarium, wie es Sloterdijk vor ein paar Jahren in seiner Sphärologie und Innenraumtheorie abgebildet hat, und wie es Astrophysiker in den spekulativen Multiversen ausmalen. Demnach wäre der Mensch ein Ort, an dem sein eigener Raum passiert.

In dem Moment, in dem wir uns von der Vorstellung lösen, daß Raum etwas ist, das sich in rein geometrische Dimensionen erstreckt, können wir Raum als etwas sehen, das gelebt sein will. Er ist nicht da und wird gefüllt, sondern er entsteht überhaupt erst mit dem Dasein und den Richtungen, die es nehmen kann. Richtungen, die als Dimensionen gelten können, Ausbreitungsversuche, die vielfach noch keine Ausweitung sind, aber immerhin Bewegungsmuster, die Auskunft geben könnten.

Richtungen sind dabei selbst das Koordinatensystem, auf der die Zeit und die Summe des Erfolgs aufgetragen werden. Wer Polizist werden will, muß einen Weg gehen, der ihm diese Dimension erschließt, wer ein autonomes Leben auf dem Land anstrebt, hat eine Dimension vor sich, die er zu erreichen lernen muß, und wer als Lyriker durch die Welt will, geht seinen Weg hin zu einem Gedicht, mit dem er nach seinem Gutdünken die erhoffte Dimension erschließt.

Diese Blasenvielfalt und Blasenvielheit, dieses Sphärendurcheinander ist die Menschenvielfalt. Der Mensch ist nicht als serieller Automat angelegt, dessen Dimensionen von vornherein festgelegt sind, sondern als Raum, der geschieht. Die Weltorte, die ihm begegnen, lehren ihn, Richtungen zu erforschen, in die er gehen kann und dabei überlebt. Er entwickelt aus Orten möglichen eigenen Raum, anhand von Fremddimensionen eigene Wege. Seine Grundlage dafür ist die Wahrnehmung, die nimmt, was er findet, und Konsequenzen abschätzt. Wahrnehmen ist also eine Grundlage des eigenen Raums und damit ist es von größter Bedeutung, möglichst stimmige Schlüssel zu finden, optische Strahlen, akustische Wellen, es ist wichtig Bewegung thermisch zu fühlen und natürlich: soziale Kompetenz, Raum für den Raum anderer zu haben. Wahrnehmen steuert das Ausmaß der eigenen Blase. Man kann nicht sagen, daß der "gamer" generell keinen Raum für andere hat, aber man kann sagen, daß er ihn nicht entwickelt, weil ihm die Weltorte dazu fehlen. Er besucht sie nicht. Man kann auch den Hermetiker nicht als weltfremd bewerten, er belebt Weltorte, die anderen fremd sind. Die Dimensionen der Ichkugel spiegeln die komplexen Findungen, sich in wahrgenommener Welt bewegen zu können. Und tatsächlich: wenn etwa ein Neonazi und ein Asylbewerber sich gegenüber stehen, begegnen sich Welten.

Welten, die nur dann gemeinsame Räume entwickeln können, wenn es die Einsicht gibt in das prinzipielle Grundrecht des eigenen Raums, die Gleichwertigkeit der Menschenorte. Eben weil sich das Eigene aus zugefallenen Richtungsentscheidungen und kulturellen Wahrnehmungsmaßen seine Blase kultiviert, ist sie nichts anderes als eine Momentaufnahme an einem Weltenort und nicht mehr oder weniger wert als irgendeine andere Blase.

Der aufgeblasene Typ ist also ein Schaumschläger, der seine Oberfläche vergrößern will, auf daß er Platz hat für seine Wabenpaläste und gesehen werde weithin. Ein Potenzanmelder, der seine mißlungenen Hausaufgaben versteckt. Wenn der Schaum sich legt, bleibt das eigene Wasser zurück als schale Pfütze. Er mißachtet und leugnet die generelle Gleichheit, was ihm im harmlosen Fall mit entsprechendem Gelächter quittiert wird. Er ist eigentlich ein Angsthase, der auf diese Weise verbergen will, daß er sich an sich selbst nicht rantraut, daß er dem kleinen Raum seines Ichs nicht zutraut bedeutend zu sein und er versäumte ihn zu entwickeln. Auf ähnliche Weise ist der Neonazi ein Arschloch, weil er für seinen nur schmächtig entwickelten eigenen Raum gleich den Großraum des Volkes als Entschuldigung heranzieht. Schwach entwickelte Eigenräume sind immer problematisch, auch Islamisten fühlen sich in der Horizontale gescheitert und suchen sich dann den Weg in die Höhe. Die Blase, die abhebt, hat es geschafft, sie schwebt in anderen Sphären. Seitdem der Mensch stehen kann, ist die Vertikale ein Themavi.

4

Jedes Subjekt spinnt seine Beziehungen wie die Fäden einer Spinne
zu bestimmten Eigenschaften der Dinge und verwebt sie
zu einem festen Netz, das sein Dasein trägt.

(Jakob von Uexküll, Theoretische Biologie 1920)

Das Bild der Spinne, die die Eigenschaften ihres Netzes abstimmt auf die Eigenschaften ihrer Beute, zeigt die Zwiesprache im Einfangen von Welt. Das Subjekt hat Merkmale und wird damit zum Objekt der Merkmalsuche. Die Art, wie wir denken (gelernt haben zu denken), steuert das Aussehen der Objekte, die uns begegnen. 

Uexküll greift in seinem Denken auf den Biologen Johannes Peter Müller (1801-1858) zurück: „Es  ist gleichviel“, so schreibt Müller, „wodurch man ein Auge reizt, mag es gestoßen, gezerrt, gedrückt, galvanisiert werden, oder die ihm sympathisch mitgeteilten Reize aus anderen Organen empfinden, auf alle diese verschiedenen Ursachen, als gegen gleichgültige und nur schlechthin reizende, empfindet der Lichtnerv seine Affektion als Lichtempfindung, sich selber in der Ruhe dunkel anschauend.“ Das Auge ist wie jeder Rezeptor zunächst eine Wand des ausgesuchten Willkommens.

Unser innerer Zustand ist der dunkle Radarschirm, dem sich Verkehr auf eine Weise mitteilt, die wir als Lebewesen erworben haben, und der Erwerb kurioser Begrifflichkeit macht aus diesen Informationen Weltbilder, die wie Netze tragen. Soweit haben wir das alles auf dem Plan, nur daß wir alltäglich immer mehr Begrifflichkeit virtuell und komfortabel abgegrenzt erwerben und damit die Subjekte der Welt mit den Subjekten des Netzes substituieren. Es weiß in uns Dinge, die es nur noch im Netz gibt. Web-Orte sind Weltorte geworden. Das Web ist ein Raum wie jeder andere, in dem ich auf Merkmalsuche gehe. Die Art, wie wir denken, steuert das Aussehen der Objekte, die uns begegnen. Wir suchen im Netz, was anderen ins Netz ging und fühlen uns vernetzt und geteilt. Das Netz nimmt Unsicherheit und verhindert den freien Fall ins innere Dunkel. Dort ist Raum für endloses Spinnen oder für aufweckende Fragen.

Diese Entscheidung müssen wir selbst treffen. Ich bin dafür, daß wir all unsere Antworten, aus denen wir unsere Lebensräume gestrickt haben, nochmal und nochmal hinterfragenvii. Wenn es Raum für uns auch in Zukunft gibt, dann entscheidet unsere Lesart darüber, wie er aussieht. Dann darf es keine Reserviertheiten geben und keine Begriffsburgen, an die sich nurmehr Spinner herantrauen. Wir sind alle Spinner, oder, wie Monika Rinck sagen würde: Idiotenviii.

Schließlich: Was der Dekonstuktivismus meinte, war nicht die Verneinung (allen Sinns), sondern die fortgesetzte Befragung, die Ausweitung der Frageerlaubnis. Und was er dem Positivismus entgegenhielt, war nicht das Besserwissen, sondern das Andersfragen, was auch das idiotische beinhaltet, das wagemutige und/oder das poetische, das Raumforschen auf eigene Art.

La poésie ne s'impose plus, elle s'expose

sagt Paul Celan. Poesie übt das Ansehen von Koordinaten als Sagen von Möglichem. Poetische Menschen, selbst solche mit offensichtlicher Blasenschwäche, sind idiotische Raumforscher und politisch unverzichtbar.

Frank Milautzcki, 22.12.-26.12.2015

 

i Chaosforscher Friedrich Cramer in „Der Zeitbaum – Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie“ (1996):

Den Punkt gibt es nicht. Die Annahme des Punktes ist die größte und fundamentalste Täuschung, ja Verführung des logischen Denkens.

Es betrifft nicht nur den Punkt, sondern eine ganze Reihe mathematischer Konstrukte mehr wie etwa die Null. Es gibt ganz reale fundamentale Denkprobleme, denen man sich heute (wieder) stellen muß. Ein ganzer Eimer voller alter Fische stinkt nicht nur bis zum Himmel, sondern weit über ihn hinaus, bis in Singularitäten, dunkle Materie und Multiversen hinein. Friedrich Cramer erwähnt einige Ersatzkonzepte, die uns sinniger durch die Welt begleiten: Cantor-Staub, Fehlerschauer, Schneeflocken, Mengerscher Schwamm, Raum-Zeit-Schaum, fraktale Teppiche. Das sind mathematische Bilder für komplexe Daseinsaspekte und dort realitätsnäher als die simplen Nullen, Nichtse, „Zufälle“ und Unendlichkeiten, die uns die Mathematik bislang anbot (und die bei genauer Analyse in den Weltfakten als Realität nirgends aufzufinden sind). Ein neuer Realismus (Gabriel & Co.) sollte hier beginnen und damit die Dekonstruktion vollenden: frische Fische schwimmen lassen.

ii Verhältnisse sind real, wenn sie feststellbar sind. Das Konzept ihrer Erklärung allerdings greift dabei auf Annahmen zurück, die nicht immer beweisbar sind. Ein Konzept muß nicht „wahr“ sein, bloß weil es etwas Reales stimmig erklärt. Wenn ich gleichwertige Konzepte erstellen kann, die bei selber Reichweite dieselbe Stimmigkeit haben, dann haben wir unentscheidbare Alternativen, aus denen wir meistens per Glaubenssatz präferieren. Echte Gleichzeitigkeit ist aufgrund einer notwendigen Signallaufzeit niemals herstellbar und auch nicht nachweisbar, aber sie deswegen als Begriff zu opfern, erscheint mir fatal eindimensional: Können die Subjekte nicht gerade deshalb mit einem Signal ihr Dasein teilen, weil sie zur gleichen Zeit auf dieser Welt sind? Muß dieses Signal nicht auf einer gedachten Membran des Hier und Jetzt laufen, die von allem Seienden geteilt wird, ganz gleich welche relativen Sende- und Empfangsprobleme innerhalb diverser Interialsysteme herrschen? Gleichzeitigkeit hat nichts mit Synchronizität zu tun, sondern sie spricht von der Zeitigkeit der Dinge, die von aller Existenz geteilt wird, die genau jetzt mit uns das Weltall bildet. Zeitigkeit ist die Eigenschaft der Existenzen während der eigenen Existenz in Kontakt mit anderen Existenzen treten zu können, egal wie lange das dauert. Es mag mit uns nicht-gleichzeitige Universen geben (die dann eine eigene Gleichzeitigkeit haben), das werden wir aber nie erfahren. Diese Spekulationen sind nur Futter für die populärwissenschaftliche Fütterung.

iii Gäbe es den Raum als Entität, dann bedürfte es einer enormen Kraft, einen solchen Vielfachort wieder aufzutrennen, weil das hieße, verlorengegangenen Zwischenraum dort zu reinstallieren, wo es keinen Raum mehr gibt, zum Beispiel zwischen den Quarks. Man darf bei diesem Satz an Kernkräfte denken und Massenverlust. Die Idee dabei wäre, daß die Verschränkung von Teilchen, die den Raum eliminiert, nur aufgelöst werden kann, wenn zwischen sie wieder Raum installiert wird. Dazu bedarf es die Überwindung des Vakuums (des Raums ohne Raum) - es muß Raum (ist er verdünnbar?), der sich über das ganze Universum erstreckt, in einen Spalt „gesaugt werden“, damit der Vielfachort sich wieder vereinfacht. Insbesondere bei vibrierenden, rotierenden Dingen, die ineinander wie verschraubt sind, ist das keine leichte Angelegenheit. Das könnte ein Hinweis sein, warum die starke Kernkraft so stark ist und spräche dann beschreibungstechnisch wiederum für die Entität.

iv Die Umweltung, schreibt Jakob von Uexküll 1931 in „Die Rolle des Objektes in der Biologie“,

ist mit für uns unsichtbaren Gegenständen bevölkert, die aber für das fremde Subjekt die gleiche Realität besitzen wie die Gegenstände unserer Welt für uns. Die Gegenstände unserer Umwelt erfahren in den Umwelten der Tiere die mannigfachsten Umwandlungen: In der Hundewelt gibt es nur Hundedinge, in der Libellenwelt gibt es nur Libellendinge, die kaum einen Zug mit unseren Menschendingen gemeinsam haben. Es war ein Irrtum zu glauben, die menschliche Welt gebe die gemeinsame Bühne für alle Lebewesen ab. Jedes Lebewesen besitzt seine Spezialbühne, die genauso real ist, wie die Spezialbühne des Menschen. Durch diese Erkenntnis gewinnen wir eine ganz neue Anschauung vom Universum. Dieses besteht nicht aus einer einzigen Seifenblase, die wir über unsern Horizont hinaus bis ins Unendliche aufgeblasen haben, sondern aus aber-millionen eng umgrenzter Seifenblasen, die sich überall überschneiden und kreuzen. … Die Spinne webt ihren Faden so dünn, daß er im groben Ortemosaik der Fliege unsichtbar wird. … Wohin wir schauen, erblicken wir solche komplementären Einpassungen paarweise aufeinander abgestimmter Umwelten. Man kann sagen, das Universum ist erfüllt von einem Konzert aus Duetten, Terzetten, Quartetten und Chören. Das eindringlichste Duett liefert der nimmer ermüdende Wettgesang zwischen Männchen und Weibchen. Aber auch die leblose Natur ist vollauf an dem Konzert beteiligt, in der Form von Wasser und Flosse, Luft und Flügel, Erdboden und Fuß und all seinen hundertfältigen Variationen.

Man kann Uexkülls Feststellung hinein nehmen in den Satz: Raum wird begangen. Er ist in seiner ganzen Komplexität, aber auch seiner speziellen Beschränkheit, erst vorhanden, wenn ein Begehen stattfindet, nicht in dem Sinn, wie man in eine Halle eintritt, sondern wie ein Schritt aus mir raus das eigene Verstehen aufzeigt als Ge bäude. Verstand heißt Position beziehen, hinstellen mit der eigenen Wahrheit. Wenn ich verstehe, begehe ich Raum. Gilles Deleuze hat diesen Komplex in seinem Spinoza-Buch (1988) so beschrieben:

Beziehungen und Vermögen haben für jedes Ding einen eigenen Umfang, eigene Schwellen (Minimum und Maximum), Veränderu ngen oder Transformationen. Sie selektieren in der Welt oder Natur, was dem Ding korrespondiert, d.h. was das Ding affiziert oder von ihm affiziert wird, was sich bewegt oder durch das Ding bewegt wird. … Jeder Punkt hat seine Kontrapunkte: Pflanzen und Regen, Spinne und Fliege. Demnach ist kein Tier, kein Ding jemals zu trennen von seinen Beziehungen zur Welt: das Innere ist nur ein selektiertes Äußeres, das Äußere ein projiziertes Inneres: Schnelligkeit und Langsamkeit des Metabolismen, Wahrnehmungen, Aktionen und Reaktionen verketten sich, um solch ein Individuum in der Welt zu konstituieren.

Konstitution als Folge der Konditionen, Eigenraum als Passversuch in die Umweltung. Wirkwelt als Folge der Merkwelt. Deleuze geht dabei schon über Wahr-Nehmen und Verstehen - über die Raumerzeugung - hinaus und bringt Beweglichkeit ins Spiel, dynamische Ontologie, spezielle Relativität.

v Wobei die Eremitenklause eine weiter ausgedehnte Blase darstellen kann, als die Zelle im Knast - sie übt Solistentechnik, wo der Knastbruder familiär zu agieren lernen muß, weil Egomanie nur mit dem Recht des Allerstärksten erkauft werden kann. Foucault hat solche Extremorte „Heterotopien“ genannt. Wir reden heute von Parallelgesellschaften und Welten im Schatten - im Grunde gibt es so viele Heterotopien, wie es Grenzziehungen gibt.

vi Die Beschaffenheit unseres Körpers und der Bewegungsraum, den er uns eröffnet, gibt uns unsere Dimensionalität. Wir stehen senkrecht auf der Ebene wie ein Koordinatensystem und können mit unseren Händen formen (wer kurz innehält und ein paar Raumspiele vor seinem Gesicht vollführt, wird schnell merken, wie er sich selbst als Bezugspunkt benutzt, und, daß es eine Distanz zum Gesehenen gibt, eine Abstandssicherheit, ein Subjekt-Objekt-Verhältnis, um nicht zu sagen eine gedachte, distanzierte Objektivität). Inwiefern senkrecht aufeinander stehende Achsen ausgezeichnet sein sollen, ist mir nie verständlich geworden. Sobald ich rotiere ist nurmehr der Ursprung, das Zentrum der Kugel, ein stimmiger Bezug. Kosmisch kann ich also gar nicht von links, rechts, oben, unten, von irgendeiner Richtung sprechen, sondern nur von meinem eigenen Körper her - wenn Dimensionen mögliche Ausbreitungsrichtungen sind, dann müssen wir jede mögliche Ausbreitung als Dimension anerkennen und damit in letzter Konsequenz n Dimensionen. Während einer Rotation wird das Unten zum Oben und das Linke zum Rechten, wir befinden uns im leeren All, Richtung macht ausschließlich Sinn „in Bezug auf“ etwas. Wir aber denken von uns fort, zentrieren uns an uns selbst aus. Ein dreidimensionales Weltbild ist eine anthropozentrische Ordnungsstruktur, der in realiter keine Realität zukommt.

vii Galilei in Brechts „Das Leben des Galilei“, 9. Szene:

Wir werden alles alles noch einmal in Frage stellen. Und wir  werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Mißtrauen ansehen. … Nehmt das Tuch vom Rohr und richtet es auf die Sonne!

viii Udo Kawasser in seiner Besprechung von Monika Rincks Streitschriften „Risiko und Idiotie“ auf fixpoetry:

Der Idiot als Randfigur beharrt auf seinem Sosein und wird dadurch widerständig. Allerdings kann man diese Position nicht selbst wählen. Es sind immer die Anderen, die einen zum Idioten machen. Hinzu kommt, dass der Idiot nicht nur einer ist, der nichts versteht, sondern einer ist, der die Dinge auch anders versteht.

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