"weil stammheim meine mutti lutscht"
weil stammheim meine mutti lutscht 1
Der frühe Tod von Matthias Holst, der zu einem Dichter des Untergrunds avancierte, ließ die Legenden zu seiner Person und seinem Wirken seit dem »kurzen Sommer der Anarchie« wilde Blüten treiben. Die Sekundärliteratur zu »Matthias« BAADER Holst umfaßt Dutzende von Zeitungsartikeln, Rezensionen, Ausstellungskritiken, Interviews und Kurzportraits. Bei der Sichtung dieser Materialien gewinnt man schnell den Eindruck, der nonkonforme Lebensstil des Protagonisten habe den Blick auf sein Werk verstellt. Zwar existieren diverse Zeugnisse der Auseinandersetzung mit BAADERs Leben und Werk, die sich nicht in oberflächlichen Zuschreibungen erschöpfen. Fast immer sind dies Aufzeichnungen von Weggefährten und Förderern, wie der Text Erich Maas über Matthias BAADER Holst auf thing.de[2], die Kurzgeschichte BAADERS Nähe von Su Alois[3] oder die im vergangenen Jahr im Hasenverlag Halle/Saale erschienene Festschrift Das Desinteresse von Peter Wawerzinek[4]; außerdem drei unveröffentlichte Magisterarbeiten von Martin Brinkmann, Ronny Gärtner und Erik Steffen[5]. Es finden sich aber auch massenweise Beschreibungen, die das Bild eines schrillen Außenseiters der Kunst erzeugen.Die überzogene Darstellung der spektakulären Aspekte von BAADERs Schaffen folgt einer (bewußten oder unbewußten) Strategie der »Entsorgung von unangepaßten kreativen Lebens- und Widerstandsformen«[6] im Zeitalter der Kommerzialisierung der letzten Dinge: »wahr ist was aus toten hosen rieselt / was bei licht nach hirnschwund / riecht«[7]. Diese »Entsorgungsstrategie« verhindert eine angemessene, sachliche Auseinandersetzung mit den Texten. Eine Annäherung an das Werk von »Matthias« BAADER Holst ist aber nur zu haben, wenn man sich seiner Radikalität stellt.
Im vergangenen Jahr publizierte der Hasenverlag zum 20. Todestag von BAADER die Neuauflage seiner bis dahin veröffentlichten Schriften unter dem Titel hinter mauern lauern wir auf uns. Das Buch, herausgegeben von Tom Riebe, der auch das »Matthias«-BAADER-Holst-Archiv in Jena betreibt, umfaßt 160 der ca. eintausend Texte des BAADERschen Gesamtwerkes, einige Zeichnungen sowie als Beilage eine DVD mit zwei Filmen. BAADER, der »großgewachsene Junge«, war kein »kleiner schmächtiger traumverwalter«[8], er war ein Traumverweigerer: »wer an etwas glaubte wurde erschossen«[9]. Die Endzeitstimmung in der DDR der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war die Brutstätte jener surrealen Untergangsszenarien, für die BAADER den Plot schrieb. Für einen Künstler wie ihn war das Überleben an die Verneinung des Bestehenden gekoppelt. Künstlerische Freiheit gab es nur jenseits der herrschenden Dogmen, und dort war sie naturgemäß schwer zu behaupten. Seine Werke hatten keine Chance, in offiziellen Publikationen gedruckt zu werden. Verbreitung fanden sie in illegalen oder subkulturellen Zeitschriften und Künstlerbüchern (Samisdat). Die einzigen offiziellen Abdrucke von BAADER-Texten zur Zeit der DDR gab es nach dem Mauerfall in den Heften 5/1989 und 1/1990 der Zeitschrift Temperamente.
Im August 2011 ist in dem zweiten Heft der neuen Lyrikreihe Versensporn der Jenaer Edition POESIE SCHMECKT GUT eine Auswahl von BAADERs Gedichten erschienen, darunter zehn bisher unveröffentlichte Texte. Sprache ist ein Privileg – das wußte BAADER aus eigener Erfahrung. Und er wußte: »verschweigen [ist] ausmerzung«. Er vermied formelhafte, ›privilegierte‹ Klischees, die dem staatstragenden Literatentum vorbehalten sind. Mit scheppernder Wortwahl und Grammatik trieb er seine Verse voran, und selbst wenn er Metrik und Reim bemühte, war ihm jegliche ästhetische Verpflichtung fern: »ein sommer kommt und strömt / vergeben / das flüsterblut der tyrannei / die lippen kalt / doch hier! / das streben / ein müder schnitt / und du bist frei«[10] Seine Mission war nicht die Ver- oder Betextung von Wirklichkeit und Zeitgeschehen, und dennoch schuf er eine brutal zeitgemäße Dichtung, die bis heute aktuell geblieben ist. Seine Ambition war die Auflösung jeder Gewißheit (»nirgends eine hand im feuer«[11]); sein Ausdruck: bissig, verzweifelt, gehetzt; seine Mittel: Neologismen und Wortverballhornungen (»Hodengleichnis«[12]), Pseudolyrismen und ätzender Sarkasmus, »heiter wie ein sonettenkranz junger barbaren in den grenzen von 1937«[13], das Verschmelzen von Politvokabeln und Sexualmetaphorik (»mösenfrust ist schießbefehl«[14], »aus mangel an geschlechtsbewußtsein«[15]), seine Themen: Beschwörung von Gewalt (»wir fahren / schlitten / in der todeskammer«[16]), Rausch als Flucht (»wir trinken und hassen«[17], »verlassen den käfig auf einen drink«[18]) und ständige Todesnähe – wobei der Tod nicht Erlösung ist, sondern profaner Schlußpunkt eines unlebbaren Lebens: »jeder satz bringt mich meiner auslöschung näher«.[19]
In der Ausstellung all die toten albanier meines surfbretts wurden vom 9. September bis zum 2. Oktober im Künstlerhaus Bethanien in Berlin Fotos, Filme, Interviews und Klangwerke mit und zu BAADER sowie Bücher, Editionen, Archivalien, Manuskripte und Zettel des Autors gezeigt. Dazu erschien ein opulentes Materialbuch, das unter anderem den Beitrag Nachdenken über einen Sohn von Günther Holst enthält. Sehr schön anachronistisch ist der Katalog mit einer Vinylplatte ausgestattet. Auf der A-Seite gibts es zwei Songs der BAADER-Band »Die letzten Recken«, auf der B-Seite drei Titel mit Texten von Holst. Mit seinen Texten, die bestimmt waren, das »Sinnregime« zu zerschlagen, stand Baader außerhalb jeder Norm. Aus den Abbruchstücken formte er Wortfolgen, die dem Unsinn verschrieben sind, den schon der russische Futurist Igor Terentjew als den »einzigen Hebel der Schönheit«, den »Feuerhaken des Schöpfertums«[20] bezeichnete. Die Texte greifen an, aber nicht jemand, sondern etwas, und zwar das, was sie selbst nicht sein wollen: Literatur, Lyrik, Gedicht, oder besser: die Auffassung davon, was als solches zu gelten hat. Erst wenn man BAADERs Antipoesie ins »Poetische« wendet, kann man erfahren, was er wohl schmerzhaft vermißte. Die schriftliche Fixierung der Texte war für ihn nur eine Zwischenstation; Stimme und Körper waren seine wirkungsvollsten Publikationsorgane. Er verfaßte seine Texte, um gehört zu werden. Es sind Sprachwerke, die sich erst als Sprechwerke erfüllten, im freien Vortrag, dem Publikum vor die Füße gestammelt, geröchelt, gebrüllt. BAADERs Kunst war ein Kontrastmittel für die Gesellschaft, die sich selbst den »nicht-antagonistischen Widerspruch« auf die Fahnen geschrieben hatte – und die daran zerbrach.
Literatur:
»Matthias« BAADER Holst: hinter mauern lauern wir auf uns. Drei Textsammlungen und verstreute Texte aus den inoffiziellen und offiziellen Publikationen bis 1990. Neu herausgegeben von Tom Riebe. Hasenverlag Halle/Saale, 2011. 274 Seiten. Hardcover mit Fadenheftung. Format 22 x 15 cmEinschließlich DVD mit zwei Filmen. ISBN 978-3-939468-51-6, Preis:19,80 €
Versensporn– Heft für lyrische Reize. Nr. 2: »Matthias« BAADER Holst. Mit einem Umschlagmotiv von »Matthias« BAADER Holst. Edition Poesie Schmeckt Gut, Jena 2011. 32 Seiten. Broschur, Klammerheftung. Format 21 x 12 cm. 100 Exemplare, Preis: 3,00 €
»Matthias« BAADER Holst. Materialbuch.Herausgegeben von Moritz Götze und Peter Lang. Hasenverlag Halle/Saale, 2011. 144 Seiten. Hardcover, Leimbindung. Format 28 x 28 cm. Einschließlich 10“-Vinyl. ISBN 978-3-939468-68-4, Preis: 29,95 €
[1]Gedichttitel aus: Tom Riebe (Hg.): »Matthias« BAADER Holst. hinter mauern lauern wir auf uns. Hasenverlag Halle/S. 2011, S. 84
[2]http://www.thing.de/maas/baader.html
[3] Su Alois: BAADERS Nähe, in: Gegner. BasisDruck Verlag Berlin, Heft 26: September 2009, S. 23-27.
[4] Peter Wawerzinek: Das Desinteresse. Festschrift für einen Freund. Der Hallenser Dichter »Matthias« BAADER Holst. Hasenverlag Halle/S. 2010.
[5]Martin Brinkmann: Anmerkungen zu Leben und Werk von ›Matthias‹ BAADER Holst (1962-1990), unveröffentlichte Magisterarbeit am Fachbereich Germanistik der Universität Bremen, Wintersemester 2002/03.
Ronny Gärtner: Gegen die Abwesenheit. Zu den Textsammlungen von »Matthias« BAADER Holst. Unveröffentlichte Magisterarbeit am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Wintersemester 2008/09.
Erik Steffen: Matthias BAADER Holst – ein literarischer Außenseiter in der DDR der 80er Jahre, unveröffentlichte Magisterarbeit am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin, Sommersemester 1994.
[6] Tom Riebe: Editionsbericht. Aus: hinter mauern … (s. Anm. 1), S. 242
[7]Anfangszeilen des Gedichts. Aus: Versensporn, Heft 2: »Matthias« BAADERHolst. Jena 2011, S. 26
[8] Zitat aus dem Gedicht das kolonialisierte ding wird mensch. Aus: Versensporn (s. Anm. 7), S. 24
[9] Letzte Zeile des Fünfzeilers wir soffen rauchten und waren unglücklich …. Aus: hinter mauern … (s. Anm. 1), S. 90
[10]Schluß des Gedichts der immer auch zerstört …. Aus: Versensporn (s. Anm. 7), S. 24
[11] Zitat aus dem Gedicht zerstörte negliges. Aus: Versensporn (s. Anm. 7), S. 25
[12] Aus dem Text ich knöpfe deine bluse/zugrunde. Aus: Versensporn (s. Anm. 7), S. 28
[13]Zitat aus mein lieb beschimpft die röteln ohne ansehn der amnestien. Aus: Versensporn (s. Anm. 7), S. 24
[14] Gedichttitel aus: Versensporn (s. Anm. 7), S. 23
[15] Zitat aus dem Text ich knöpfe deine bluse/zugrunde. Aus: Versensporn (s. Anm. 7), S. 28
[16] 3 Zeilen aus dem Gedicht weil stammheim meine mutti lutscht. Aus: hinter mauern … (s. Anm. 1), S. 84
[17] Zitat aus dem Gedicht zerstörte negliges. Aus: Versensporn (s. Anm. 7), S. 25
[18] Zitat aus dem Text kolonien in der kühle des infernos. Aus: Versensporn (s. Anm. 7), S. 25
[19] Aus dem Text tätowiert bis unter die augenringe. Aus: hinter mauern … (s. Anm. 1), S. 34
[20] Aus: Igor Terentjew. Phonologie. In: Alexej Krutschonych. Phonetik des Theaters. Herausgegeben von Valeri Scherstjanoi. Verlag Reinecke & Voß, Leipzig 2011, S. 58.
- 1. Gedichttitel aus: Tom Riebe (Hg.): »Matthias« BAADER Holst. hinter mauern lauern wir auf uns. Hasenverlag Halle/S. 2011, S. 84
Fixpoetry 2011
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben