Essay

Bildungsstandards? Eine Anzweiflung

Hamburg

„Ein Tanzbär war der Kett’ entrissen,
Kam wieder in den Wald zurück,
Und tanzte seiner Schar ein Meisterstück
Auf den gewohnten Hinterfüßen.
»Seht«, schrie er, »das ist Kunst; das lernt man in der Welt.
Tut mir es nach, wenns euch gefällt,
Und wenn ihr könnt!« »Geh«, brummt ein alter Bär,
»Dergleichen Kunst, sie sei so schwer,
Sie sei so rar sie sei,
Zeigt deinen niedern Geist und deine Sklaverei.«
                                                           (G. E. Lessing)

Während alle selbsternannten Experten das Wort Bildungsstandard im Munde führen, müßte einem längst klar sein, daß das Ansinnen einer Standardisierung von Denken gerade nicht Bildung meint, hier also zwei inkompatible Begrifflichkeiten ins Kompositum aufs Dümmste verspreizt wurden. Bildungsstandard wäre – paradox formuliert –: zu wissen, daß das Wort unbrauchbar ist.

Was aber richtet die Standardisierung an? Sie pervertiert Schule dahingehend, daß, wenn es denn irgend Bildung gibt, sie außerhalb der Schule vonstatten geht, der man nur dank seiner Resilienz unverbildet entgeht.

Wenn es in der Schule noch ein Denken und dessen genuinen Mut gibt, Eigenes zu denken, also nicht entweder scheinspontan nicht zu denken – von „der genormten Improvisation” als zeittypischer „Pseudoindividualität” schrieb Theodor W. Adorno –, oder nach einem ungeistigen Maß wieder nicht zu denken, in der „Glätte begriffsloser Pseudorationalität”: sondern Subjektivität kohärent zu entfalten, bis sie ans Objektive rührt und dieses dabei vielleicht auch dekonstruiert, wenn es diesen Mut gibt, der nicht Mutwille ist, und dieses Denken, das nicht Vorgaben exekutiert, sowie so etwas wie eine Dialektik beider, so geradezu gegen den Willen ihrer Designer. Gewünscht ist offenbar nur, was Friedrich Torberg im Schüler Gerber „den schäbigen Mut” nannte, und – sich mit diesem arrangierend – dessen Pseudorationalität.

Schule leidet darunter, daß sie nicht mehr Schule – etymologisch: die Muße, die jedenfalls nicht die Einübung in Praktiken bedeutet, welche Standards beliebig (nach-) vollziehen – ist; und Schülerinnen und Schüler leiden darunter. Vielleicht jene, die, wo sie den Standards nicht genügen und, wie Torberg formuliert, „Zensurproleten” sind, ahnen, daß sie einer allein kompetenzorientierten Ideologie wertlos sind, wiewohl sie als bloße Minderleister nicht souverän beeinspruchen können, was sie gleichwohl zu Unrecht vernutzen wird; vielleicht aber auch jene, die diese Standards einschränken, die die Note nicht als Fatum fürchten, sondern ahnen, daß ein Leben dann eher glücken mag, wenn man nicht bloß genügen kann – Pendant des Schrecknisses der negativen Beurteilung: daß Positives nie mehr als genügt.

Gibt es keine Transzendenz mehr? Gibt es den Ernst nicht, der im Spiel des surplus gelegen ist, sondern nur mehr eine vulgäre Spielerei des Dabeiseins, des Gehorsams und der besinnungslosen Praxis? – „Wir haben […] dieses alberne Spiel mit der Kompetenz satt”, schreibt Tucholsky. Wir sollten sie satt haben, wollen wir keine Sklaven sein, die Rancière so definiert:

„(D)er Sklave ist genau derjenige, der die Fähigkeit besitzt, den Logos zu verstehen, ohne die Fähigkeit des Logos selbst zu besitzen […], der Sklave ist derjenige, der an der Gemeinschaft der Sprache teilhat einzig in der Form des Verstehens”…

Die Crux des wie auch immer Begabten ist, daß Transzendenz eines Genügens nicht systemisch vorgesehen sein kann; dennoch ist das Genügen das Paradigma, als wäre der Nürnberger Trichter noch immer ein angemessenes Modell einerseits der Kognition und andererseits dessen, was Menschsein bedeutet. Man erfüllt, indem man aufnimmt, also sich erfüllen läßt. Lehrer sind dabei Erfüllungsgehilfen, die die Kompetenzen allenfalls so redesignen, daß zuletzt auch suboptimale Volumina hinreichend Raum bieten, um reif nicht mehr insgesamt zu sein, sondern kompetent: für Vorgaben. Berufsreif offiziell, inoffiziell womöglich unterdrückungsreif.

(Besonders Begabte sind demnach großkopfert, ein österreichisches Wort für Intellektualität, das von intellektuell nicht allzu Begünstigten erfunden worden sein muß: Großkopferte haben Füllraum. Demgemäß springt man mit ihnen um, sie sind Zwischenspeicher, die den Lehrer unterstützen sollen, sie sind zur Brache verdammt, bestenfalls rücken sie ein Jahr vor. Grundlagen dessen, was zur Kompetenz verludert in der Schule kaum mehr vorhanden ist, etwa wissenschaftliche Propädeutik, Reflexion der Paradigmen, wonach sich Disziplinen ergeben und auch diversifizieren, eben solche Diversifikationen selbst – all das kommt in der Institution Schule fast nur versehentlich vor, wohin Geladene gleich welcher Expertise denn ja auch tatsächlich im Schulgesetz als schulfremd bezeichnet werden.)

Der Sklave/kompetenzorientiert unterrichtete Schüler, den man ins vage Genügen inkludiert – eine Modevokabel, die womöglich scheinhuman nochmals formuliert, was schwerlich zugunsten des Abweichlers vonstatten geht –, kann sozusagen bestenfalls ein neurotischer Perfektionist werden. Dies ist das Schicksal des Hochbegabten, wo er es sich gefallen läßt, wo er nicht rebelliert; ob die gerade hier neben Selbstzweifeln auch vorkommende Aggression der Schüler, die allzu leicht doch immer nur genügen, nicht schon Hoffnung machen soll..?1 Man wird vielleicht nicht pauschal mit Nietzsche formulieren, daß „zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der Stärkere, Mutigere, Vornehmere, auch das freiere Auge” habe, also mit der Aggression über Souveränität verfüge; ebenso sollte man sich hüten, sie darum zu verdammen.

Ist das Kollektiv der kompetitiv Genügenden, derer sich eine prima vista lebensnah-schülerfreundliche, doch gerade in der Lebensnähe schon schier totalitäre Schule annimmt, nicht eine Unterbietung dessen, was unmenschlich genug in Torbergs Schüler Gerber sich ausnimmt?

„Grenzenlose Schmach: da oben steht ein einziger und sagt »Wir«, und unten sitzen so viele und jeder sagt »Ich«.”

Heute ist das Wir des Lehrers aber nicht mehr jenes der Gelehrtenrepublik, der er sich – zurecht oder nicht – angehörig fühlt, es ist jenes der Klasse, der er zugehört: Der Schüler wird nicht mehr mündig, sondern zum Kompetenten erzogen und gedemütigt; und der Lehrer infantilisiert sich. Das Ich der Schüler ist so Makulatur, wie es jenes des Lehrers ist oder zu werden droht, statt des vereinzelten Widerspruchs – Ich, immerhin… – gibt es ein harmonisches Nichts. „Wir sagen und Ich meinen ist eine von den ausgesuchtesten Kränkungen”, schreibt Adorno; eine noch deprimierendere ist es, wenn Wir gesagt wird, aber es kein Ego mehr gäbe, das sich da meinte…

Stellt man dagegen das Bild des Schülers, der der „aktive (Mit-)Gestalter”2 seiner Bildung sein darf, so wird dieser zuvörderst sich genügen, nicht den Parametern einer Kompetenz, die zudem so diffus formuliert wird, daß sowieso nur zur Bereitschaft eigener Vermeßbarkeit eindeutig gedrillt und allein sie eindeutig abgeprüft wird. Dieser Schüler durchbräche Standards, wo er sie als beliebig dekonstruiert, der Wert seiner Gedanken wäre – wie der aller Gedanken – gerade daran zu bemessen, nicht sich zu fügen, in „seiner Distanz von der Kontinuität des Bekannten”, so Adorno, wäre er begründet; „je mehr er sich dem vorgegebenen Standard annähert, um so mehr schwindet seine antithetische Funktion, und nur in ihr, im offenbaren Verhältnis zu seinem Gegensatz, nicht in seinem isolierten Dasein liegt sein Anspruch begründet.”

Dieser Schüler entfaltet kohärent – und diese Kohärenz mag er der Bildung verdanken –, was er sei; „Vorfreude auf den nächsten eigenen Zustand”3 hat wenig mit der Frage zu tun, ob man gemessen an so Beliebigem und Fremdem wie jenen Schulkompetenzen denn genüge; oder: nur dialektisch, denn dieses Lernen offeriert „Schüler(n) eine Chance zu einer produktiven Skepsis gegenüber einer Erfolgsposition”, falls das Erfolg ist, was unsere sich selbst devastierende Gesellschaft vorzuweisen hat.

Es gibt Schülerinnen und Schüler, die kein Talent zu solcher Sklavenexistenz haben, wie unser Schulsystem sie gegenwärtig geradezu vorzubereiten scheint; warum auch immer, sie stechen aus dem hervor, was das mittelmäßig standardisierte Produkt unserer Ausbildungsstätten zu repräsentieren beginnt: nicht durch Ungenügen, nicht unverbindlich, sondern durch ein surplus gegenüber der Genügens-Exzellenz – dadurch, das, was gefordert ist, so zu überbieten, daß hernach die schulpolitische Forderung schier lächerlich ist. Meine Schülerin Marie Sollmann verfaßte unlängst einen Text, der dies tut, und dann noch zu eben jenem Thema – eine Schülerin in der 7. Klasse, die maturabel jedoch in einem Sinne ist, den unser Schulalltag schon kaum mehr erfaßt. Aus ihrem Essay Individuen stammt folgende Passage, die die berechtigte Frage nach einem Recht des brillanten Betroffenen stellt:

„Wieso werden wir Menschen als Individuen bezeichnet, wenn uns jeder Sinn und Wunsch nach Individualität auf unserem Weg des Heranreifens regelrecht ausgetrieben wird? Bereits in den ersten Ausbildungsjahren wird einem nach Individualität strebenden Schüler indirekt ein […] gewöhnlicher Lebensweg eingetrichtert. Das Problem liegt hierbei, meinen Vorstellungen zufolge, gar nicht so sehr bei kollegialer Ausgrenzung, sondern vielmehr bei unserem an Schwächen orientierten Bildungssystem. […] Wo bleibt Raum für eine Förderung von Individuen, wenn das System dem Ziel von gänzlich durchschnittlichen Schülern entspricht? Leistungsschwache Schüler werden über Jahre hinweg mit Müh und Not zum Erreichen eines durchschnittlichen Bildungsniveaus begleitet, wohingegen überdurchschnittliche Schüler gezwungen sind, Stärken und Sehnsüchte zurückzustecken und sich mit vergleichbarer Müh und Not auf ein durchschnittliches Niveau zurückzubegeben. Individualität, mit Ungeduld und Wehmut durch die Adern der Schwachen und der Starken pulsierend, geht verloren.”

Solches Einfordern ließe sich als reaktionär denunzieren, als elitär; doch ist es der Weg zu dem, „was der heute herrschenden Standardisierung des Bewußtseins am äußersten entgegengesetzt scheint, der ästhetischen Subjektivierung.” (Adorno) Diese wird bei Marie zum Ausgangspunkt, den eigenen Mut zu befragen, zu entdecken und zu einem noch vagen Prinzip zu formulieren, das sich in seiner Kohärenz nicht aus Vorgaben alleine ableitet, sondern aus Intellekt und einem Unbedingten, das eben jener Intellekt entfalten mag: „primär und unabhängig, ohne Rücksicht auf Standards”, wie Adorno schreibt. Marie schreibt also über diesen Mut:

„Ich wage es nur minimal, meine Persönlichkeit und meine individuellen Züge gänzlich zu zeigen. Ich lebe angepasst. Auch wenn die Wahl eines bestimmten Lebensweges von jedem Menschen persönlich getätigt werden muss, könnte sie uns […] ab dem Zeitpunkt unserer Geburt, der Geburt eines Individuums, vereinfacht werden. Nicht nur durch eine Umgestaltung des Bildungssystems […], sondern auch durch eine gesellschaftliche Förderung zur Entwicklung des Mutes, den es verlangt, um die Individualität seines Wesens zu präsentieren.”

Ist diese Schülerin kompetent..? Angesichts ihrer Zeilen kann man das behaupten, zugleich ist in ihnen eben ausgedrückt, wie dürftig die Rede von Kompetenz uns längst erscheinen müßte, wie Standards – als Mindeststandards – vielleicht nicht zu bagatellisieren sind, aber fetischisiert keine Schule begründen, sondern deren Verfall indizieren:

„Die Meinung, daß der Nivellierung und Standardisierung der Menschen auf der anderen Seite eine Steigerung der Individualität in den sogenannten Führerpersönlichkeiten, ihrer Macht entsprechend, gegenüberstehe, ist irrig und selber ein Stück der Ideologie. Die faschistischen Herren von heute sind nicht sowohl Übermenschen als Funktionen ihres eigenen Reklameapparats, Schnittpunkte der identischen Reaktionsweisen Ungezählter.”

Schießt die Dramatik Adornos übers Ziel hinaus? Man gestatte die Gegenfrage: Ist sie nicht das einzige, was angemessen ist, wo die standardisierte Reaktion auf die Standardisierung nichts als deren Echo mehr sein kann..?

  • 1. cf. zu den Symptomen Hochbegabter Bianca Lehner: Begabungsfördernde Fehlerkultur. Welche Kriterien muss eine positive Fehlerkultur im begabungs- und begabtenfördernden Unterricht erfüllen? Saarbrücken: AV Akademiker 2013 (Humanwissenschaften), S.92
  • 2. ibid., S.104
  • 3. Peter Sloterdijk: Lernen ist Vorfreude auf sich selbst. Gespräch mit Reinhard Kahl.In: McK Wissen 14 · www.reinhardkahl.de (Stand: 26.5.2012), S.110-113, S.113

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