Opernfläche
„Alles ist Oberfläche.“
Diesen Satz hielt mir vor kurzem ein Schriftsteller entgegen, als ich eine Aussage von ihm kritisiert hatte und in meinem Kommentar das Bild der Tiefe im Zusammenhang mit poetischer Sprache gebraucht hatte (“Lyrik ist ein Mittel der Verflachung entgegenzuwirken, indem sie verweilt und Bohrungen vornimmt, Dimensionen erkundet, andere Chemie wahrnimmt.”).
Er benötigte den Oberflächensatz, um mir zeigen zu können, daß es Tiefe in der Lyrik nicht gibt. Eigentlich aber, um mich zum alten Knacker zu machen, weil „Tiefe“ etwas von vorgestern ist und die Postmoderne das als überwunden ansieht. Sie wiegt sich im „Hervortreten einer neuen Flachheit und Seichtheit, einer neuen Oberflächlichkeit im wortwörtlichen Sinne, die das vielleicht auffälligste formale Charakteristikum aller Spielarten der Postmoderne ist.“ (Frederic Jameson: Postmoderne, 1986, S. 54).
Tiefe ist out! Lies' mal Deleuze und Flusser, oder schau dir nen Warhol an, dem es „auf radikalste Weise gelungen sei, auf öffentliche Art oberflächlich zu sein. Seine Werke verweisen auf kein Dahinter, sondern zeigen nur, […] daß es außer dieser Oberfläche nichts gibt.“ (Harry Walter in Die Radikalisierung der Oberfläche, in der Neuen Rundschau 4/2002).
Der Satz ist wohl eine Chiffre der Postmoderne und sein Gebrauch sieht aus wie das Spielen eines Trumpfs: Ich weiß nen Satz und wie der geht! Und wer ihn nicht versteht, nimmt draußen Platz.
Der Satz klingt nach Gebet und Parole. Und ich finde beim ersten Hören Widerstand und Unverständnis in mir und zunächst kein wirklich überzeugendes Argument, ihm zuzustimmen, ertappe mich beim Grübeln. Was muß man tun, um diesen Satz zu verstehen? Warum hat ihn der Kollege so plakativ ins Zentrum seiner Erwiderung gestellt? War es der Gnadenakt eines weisen Mannes, der Brosamen verteilt? Vielleicht gibt es einen doppelten Boden, so etwas wie einen „vergifteten Bauern“.
„Alles ist Oberfläche“ - darin müssen Erkenntnisse kumuliert sein, die die Welt auf andere Weise erklären, als man es intuitiv tut, denn dem Satz „Alles hat Oberfläche“ könnten die meisten ohne Zögern zustimmen, jeder weiß, unter der Haut beginnt das Leben, im Innern spielen unsre Pläne, stille Wasser gründen tief, aber von dieser Weltsicht unterscheidet sich die Aussage.
„Alles“ ist zunächst einmal wirklich alles, also auch der Raum zwischen den Dingen (der natürlich keine Oberfläche ist). Damit habe ich noch kein wirkliches Problem, weil Raum sich entwirft aus dem Dasein der Dinge als Beziehungsspiel, nicht der Raum formt die Dinge, sondern die Dinge erzeugen/formen den Raum – hier steckt (noch immer) ein grober Denkfehler in der physikalischen Weltansicht, der aber ziemlich folgenreich in bspw. der Relativitätstheorie mathematisch zu kuriosen Singularitäten wie schwarzen Löchern führt. Physiker und Mathematiker würden energisch widersprechen, daß es „den Raum“ nicht gibt. Aber von mir aus trifft das. Also d'accord: Alles, das ist, ist. Alles andere ist Konzept.
Das „ist“ redet vom Dasein als Verb, Dasein bedeutet Oberfläche sein. Nicht „Oberfläche haben“.
Wie ist man Oberfläche? Konsequenter gefragt: Kann eine Welt, die Oberfläche ist, die Phänomene erzeugen, die wir kennen? Kann eine Welt, die nicht mehr ist als ihre eigene Oberfläche oder aus Elementen besteht, die oberflächlich sind, das physikalische Wunderwerk abbrennen, das wir beobachten?
Ich würde das per se nicht verneinen. Durch Flächen kann man Wellen schicken, sie können sich bewegen, dabei überschlagen, sich ineinander verschlingen, aneinander haften, sie können flattern, fliegen, zusammenklappen, sich falten (Gilles Deleuze untersucht die „Falte“ als einfache Variante dieser Möglichkeiten) und verdrehen und auch in vielerlei Art und Weise rotieren, also allerhand veranstalten, das man hinterher als physikalische Erscheinung misst und in Eichsymetrien ordnet.
Das Problem ist, daß Flächen das nur können, wenn sie ausgedehnt sind, Anfang und Ende haben, begrenzte Teile sind, Reste einer zerplatzten Blase (des Bigbangs beispielsweise). Nur dann können sie mannigfaltige Bewegungen ausführen. Eine große Gesamtfläche mit oder ohne Anfang und Ende kann das nur ganz begrenzt (jede kleinste Faltung oder Entfaltung hätte Auswirkung auf das Gesamte). Demnach wäre die eigentlich Welt, das Heile, das Ganze, explodiert und seine ehemaligen Teile flattern durch den Raum und dort wo sie sich begegnen, entstehen „Knoten“. Treffpunkte, an denen mehr passiert, als an leeren Stellen. Orte, wenn man so will.
Soweit klingt das alles haltbar und ersetzt den String der heutigen Elementarphysik mit einem Band, dehnt ihn aus in die Seiten.
Hier habe ich dennoch ein Problem: wenn das die Konsequenz des Gemeinten ist, wieso redet man dann von „Oberfläche“? Ich habe den Verdacht, daß die gemeinte Theorie meinem Nachdenken gar nicht entspricht. Aber ich spinne einfach weiter.
Wir können von Tiefe reden, weil es Orte außerhalb unserer Reichweite gibt, an denen eine Menge passiert, Geschehen, an dem wir, ohne es zu stören oder zu zerstören oder selber zerstört zu werden, nicht teilnehmen können. Parties, wo wir nicht mitfeiern können, ob das Sonneninneres ist oder Atomkern. Tiefe bedeutet hier: es summieren sich Geschehnisse und Akteure, es leben sich Eigenschaften aus, die gemeinsam eine Art systemische Einheit bilden und damit eine neue Oberfläche, eine Haut, die nicht für jeden durchdringbar ist. Oberflächen entstehen, die andere Reaktionsangebote machen, als die ihrer Einzelteile. Elemente, Moleküle, Zellen, Sonnen, Meere, Steine, Lebewesen.
Wir reden deshalb von Tiefe, weil sich alles „Oberflächliche“ (ob Bänder oder Strings), wenn es miteinander einen Meeting Point bevölkert, zu etwas zusammenfinden kann, das Kraft ihres Zusammenhalts neue Zugangsgebote formuliert, eine chemische Welt (die zur biologischen wird etc.), die ihren Zusammenhalt einkapselt, auf natürliche Weise, durch ihre speziellen bis kuriosen Eigenschaften, späterhin mit Haut und Membran, als Zelle, die automobil agiert. Es gibt plötzlich ein Innen und Außen und damit Grenzbereiche und echte Grenzen, die nicht leicht überwunden werden können, aber die auch auszeichnen und dadurch vollkommen neue Reaktionsangebote in die Welt setzen. Nur so kann man aus Flächen (or whatever) zu tief gestaffelt organisierten Lebewesen kommen. Es muß die Tiefe der Bedeutungen gebe, wenn Leben entstehen soll. Das hat nichts mit Dunkel zu tun und Bodenlosigkeit. Die Grenze zu dieser Tiefe ist die Oberfläche. Also gibt es sehr wohl „Tiefe“?
Weitergrübelnd: Vielleicht weiß ich einfach nicht, was eine Oberfläche ist: Wo beginnt sie und wo hört sie auf? Am Deutschen Elektronen-Synchrotron hat man unlängst mithilfe von Röntgenstrahlung das Geschehen beobachten können, das abläuft, wenn ein Fotopapier belichtet wird. Ein breites Spektrum chemischer und physikalischer Prozesse inszeniert sich dort, und man konnte die lichtempfindlichen Körnchen in der fotografischen Emulsion sich verformen „sehen“, sich drehen und wenden und schließlich zerfallen. Das Fotopapier besitzt einen lichtempfindlichen Film von einigen Mikrometern (tausendstel Milliarden) Dicke, der aus winzigen Silberbromid-Körnchen in einer Gelatineschicht besteht. Die Körnchen haben eine mittlere Dicke von 700 Nanometern (millionstel Millimetern). Und man konnte zuschauen, was dort dreidimensional passiert.
Wo ist hier die Oberfläche?
Ich halte beispielsweise einen Apfel in der Hand. Ich kann seine Form ertasten mit der Oberfläche meiner Innenhand. Es gibt eine Stelle am Apfel, wo ein grauer, rauher, vertrockneter Sternenkranz aus Blütenblättern eine Höhle umrandet, die offensichtlich ins Innere der Frucht führt, jedenfalls kommt dort eine Fruchtfliege herausgekrochen. Entstammt sie der Oberfläche des Apfels? Ist alles, solange es einen Weg nach innen gibt, „Oberfläche“. Und am Ende ist es sogar egal, wie brachial der Weg ins Innere ausfällt? Ist Zerstörbarkeit ein Beweis für die Oberflächlichkeit der Welt?
Manche schälen ihren Apfel, bevor sie ihn essen. Sie entfernten die ihm angemessene Oberfläche. Ich habe die Angewohnheit einen Apfel komplett, inklusive Haut und Gehäuse zu essen (und zerbeiße manchmal bewußt auch die Kerne), so daß am Ende nur noch der Stiel übrigbleibt. Den halte ich jetzt in den Händen. Was ist jetzt mit der Oberfläche des Apfels passiert?
Genau genommen habe ich sein Inneres nach außen gestülpt und seine reaktive Oberfläche um ein Vielfaches gesteigert, während ich ihn in mein Inneres einschleuste. Ich habe die sichtbare, tastbare Oberfläche Biß um Biß zerstört und dann sein Innenleben derart zerkleinert, zunächst im Mund und dann im Magen und später im Darm (mit reaktiven Oberflächen konfrontiert), daß seine eingewickelte, unter der Apfelschale vorhandene Oberfläche, seine eingefaltete Wirklichkeit (würde der Physiker David Bohm sagen) sich zu einem Brei aufschloß, der mich erfrischt und sättigt und besser durch den Tag bringt. Ich habe die Tiefen der Oberflächen des Apfels genutzt, ich habe profitiert von Säure und Süße, einer chemischen „Oberfläche“ des Apfels, die im genetischen Programm der Apfelbaumpflanze verankert ist, um meiner Bedeutungswelt zuzuwachsen. Ich habe mich in den Apfel hineingelesen und er hat sich mir hingeschrieben. Er ist meinem Inneren entgegengewachsen, damit ich seine Kerne irgendwo ausscheide und hat dabei Angebote an meine reaktiven Oberflächen gemacht, denen ich nicht widerstehen konnte.
Ist das allerdings noch Oberfläche? Oder nicht vielmehr Bedeutungstiefe? Macht es wirklich Sinn beim Inneren eines Apfels von „Oberfläche“ zu sprechen, bloß weil es ein reaktives Angebot an meinen Körper macht?
Denn daran hängt der Begriff „Oberfläche“ im Eigentlichen. An Grenzen, Reaktionsangeboten. Hat mit der geometrischen Situation „oben“ ganz wenig zu tun. Was könnte insgesamt gemeint sein? Google hilft, indem es den Namen Gilles Deleuze ins Spiel bringt:
„Der Sinn ist niemals Prinzip oder Ursprung, er ist hergestellt. Er ist nicht zu entdecken, wiederherzustellen oder neu zu verwenden, er ist durch neue Maschinerien zu produzieren. Er gehört zu keiner Höhe und findet sich in keiner Tiefe, sondern ist Oberflächeneffekt, und von der Oberfläche als der ihm eigenen Dimension nicht zu trennen.“ Gilles Deleuze 1969.
Sinn ist hergestellt, also fabriziert, aber auch dahin gestellt, vor mich hin gestellt. Etwas, daß wir intuitiv nicht gut verstehen, denn aus unserer Alltagsbeobachtung verortet sich Sinn oft nicht im Geschehen selbst, sondern im Dahinter, im versteckten Dolch oder der verborgenen Absicht des Maklers. In einem elementaren Sinn aber gilt der Satz. Sinn wird produziert, erzeugt sich in der Begegnung. Er hängt auch nicht der Oberfläche an, sondern wird dort vermittelt, bzw. ermittelt. Sinn entsteht, da hat Deleuze Recht, durch die Konfrontation mit der Begrenzung durch das Andere. Was bedeutet diese Membran, diese Haut, diese fremde Gegenwart für mich? Welche Angebote macht sie, welche Verbote setzt sie mir oder kreiert sie sogar Gebote? (Man darf nicht vergessen, auch Bewegung begrenzt den Zugriff: eine schnelle Rotation erzeugt eine Haut aus Bewegung). Die Begegnung geschieht bereits an der Oberfläche, was der Grund ist, warum es sie gibt – und die Bedeutung entscheidet sich dort, weil sie ein dialogisches Geschehen ist. Die Reichweite des Sinns, der sich aus Begegnungen ergibt, kann ungeheuerlich sein.
Das könnte der ursprüngliche Gedankengang von Deleuze sein, ich bin mir aber darin nicht sicher, denn offensichtlich wird er so nicht verstanden. Die Oberfläche ist der Entstehungsort von Bedeutung, Herstellungsort von Sinn, aber nicht ihr Inhalt. Der korrekte Satz hieße also: an den Oberflächen entsteht der Sinn, an den Grenzen entscheidet sich etwas. Und nicht: alles ist Oberfläche.
Nochmal Deleuze: Der Sinn „gehört zu keiner Höhe und findet sich in keiner Tiefe, sondern ist Oberflächeneffekt, und von der Oberfläche als der ihm eigenen Dimension nicht zu trennen.“
Nehmen wir ein alltägliches Beispiel aus der Realität. Angenommen wir fahren mit dem Auto die Straße entlang und beachten die vielen Schilder, die überall angebracht sind – aber wir kennen nicht ihren Sinn. Wir können die Schilder zwar nach Farbe und Form, Gewicht, Material etc. unterscheiden und einen gültigen Katalog der „Oberfläche“ aufstellen, aber wenn wir der offensichtlichen Unterschiedlichkeit gegenüberstehen, gewinnen wir kein echtes Wissen von ihrem Sinn. Die Oberfläche sagt uns nicht, was das Ganze soll. Ihre Be-Deutung findet in uns selbst statt, das „Be-Deuten“ ist ein automobiles Gefährt unseres Innenraums. Insofern täuscht sich Deleuze: Der Sinn ist „von der Oberfläche als der ihm eigenen Dimension“ zu trennen. Sein Entstehen wird ausgelöst durch Begrenzungen, durch Oberflächen, Begegnungsgeschichte, aber er durchschwebt den jeweiligen Innenraum der Begegner und formt dort die stattgefundene Erfahrung. Jeder macht sich seinen eigenen Sinn.
Deleuze koppelt richtigerweise die Entstehung von Sinn an die Oberflächenbegegnung, mißachtet dann aber die Innenraumbewegung, das aktive Deuten. Der Vorfall oder der Crash einer Weltbegegnung fordert ein inneres Statement, er wird in den Crashparteien bedeutungsvoll und je nach Beschaffenheit der inneren Tiefe wirkt die Begegnung tödlich bis lehrreich. Sinn ist die Dimension, die aus der Tiefe gespeist wird, aus dem Lebensprogramm des Begegners, Bedeutung findet sich in der Wirkung auf das Komplexe des Inneren.
Kurz zurück zum Apfel, der ein reaktives Angebot an meinen Körper macht. Das Angebot ist nicht nur oberflächlich: bitte labe dich an meiner Frucht, erschließe dir mein Fleisch! - Sondern heißt eigentlich: hilf mir mich zu vermehren! Ich schicke dir ein Merkmal von deinem Interesse, damit du in meinem Interesse agierst.
Es gibt hinter dem Apfel eine Bedeutung, die sich evolutiv gebildet hat und die im Hintergrund allerhand andere Bedeutungen mitenthält, vom Wurzelschlagen bis zum Blühen und Fruchten. So enthält der Apfel die Eigenschaften der Erde genauso wie das Trachten der Biene, in der roten Schale ist das Auge des Tiers mitenthalten und im Fruchtzucker sein Stoffwechselbedarf. Wie umgekehrt in der Konstruktion und Funktionsweise meines Magens jene Vielfalt des Außen abgebildet ist, die ich als Nahrung erwählen kann. Sinnbildende Begegnungen allenthalben.
Das Außen (und damit das Äußern) des einen, richtet sich aus am Außen (Äußern) des anderen, sofern es einander im jeweils Inneren lesbar ist. Insofern stimmt Deleuzes Vermutung der Oberflächenhaftung, die damit aber schon ein Prinzip abbildet. Keinen ursächlichen Gott, aber immerhin die Unterscheidung von Außen und Innen: die Konfrontationen im Außen sorgen für Strategien im Innen. Inneres braucht Stabilität und Austausch und liest im Außen das Merkmal seines Interesses aus.
Deleuze vergisst das innere Geschehen beim Entstehen von Sinn mitzuwiegen und schickt Oberfläche gegen Oberfläche. Damit hat im Glaspalast der Moderne die Allwettertauglichkeit der Transparenz dem Verborgenen seine Ballastwirkung und Ineffizienz aufgezeigt. Womit wir beinahe beim Thema Innenraumleugnung wären. Es braucht nicht viel um aus dem Satz „Alles ist Oberfläche“ ganz andere postmoderne Verstehensweisen abzuleiten:
Eine Oberfläche ist nicht unter etwas, sondern über etwas. Sie hat eine Position, die unwillkürlich ein Darunter, ein Inneres bedeckt. Sie hält Einflüsse fern und schützt die Mitwelt vor der Ausbreitung des dahinter Verborgenen, ist also eigentlich ein „Zwischending“. Die Oberfläche bietet Widerstand und scheidet Raum, notfalls die Leere. Sie ist die Grenze der Betrachtung, der letztmögliche Gegenstand der Aufklärung. Wir wollen Licht in die Sache bringen. Und Oberflächen werfen es uns zurück.
Deshalb sprach das Manifest des Wiener Kreises bereits 1929 von der bestmöglichen Annäherung an Gewissheit als eine Annäherung an die Oberfläche: „Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle Fernen und unergründliche Tiefen abgelehnt. In der Wissenschaft gibt es keine 'Tiefen'; überall ist Oberfläche: Alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im Einzelnen fassbares Netz.“
Sagt auch: Alles Erlebte stößt an Grenzen und diese Grenzen sind das Haltesignal für den Wissenschaftler. Bis hierher und nicht weiter. Forschen bis zur nächsten überprüfbaren Oberfläche. Macht für Wissenschaften Sinn – man sähe sich sonst andauernd wildester Spekulation ausgesetzt. Der Wiener Kreis sagt nicht, daß es Tiefe nicht gibt, aber er sagt, daß er dort nicht hinein fallen will, sondern sich vortastet bis zur nächsten sicher identifizierbaren Schicht. Es ist schlicht unseriös, Aussagen zu Bereichen zu machen, von denen man noch nicht einmal die Oberfläche kennt.
Der Beweggrund, die Postmoderne quasireligiös an Oberflächen auszurichten, ist ein ähnlicher. Es ist die Innenraumleugnung, die sich aus einem tiefen Mißtrauen in das eigene innere Geschehen entwickelt hat, seitdem jemand das Unbewußte als Heimstatt aller inneren Kuriosa zum unbeherrschbaren Ungeheuer machte. Das Denken des Einzelnen ist krank und hat sich in die „Sauberkeit und Klarheit“ zu kehren. Mit der Betonung der Oberfläche entwickelte sich auch die Betonung der Fassade. Der Innenraum ist nicht mehr erreichbar. Zumindest im öffentlichen Raum ist die Fassade die Grenze und oft genug bis hinein in das Private. DEM INNEREN IST NICHT ZU TRAUEN! Klär das für dich, bevor du losziehst. Verweigere dem Inneren die Macht über dich. Bleib an der Oberfläche! Das ist der Schlachtruf der modernen Gegenwärtigkeitskultur. Es ist kein Raum und keine Zeit für persönliche Tiefen und Abgründe, wer Tiefen hat steht im Verdacht, nicht hier zu sein, ihm fehlt es an Beweglichkeit, mit den ganzen Lasten an der Hacke. Er hat mehr mit sich zu tun, als daß er Oberflächen anbietet und reagiert auf sich statt auf die Welt. Im Umkehrschluß: Wer nicht erfolgreich ist, muß einen verdeckten Makel haben, ein dunkles Geheimnis, einen Innenraum aus schwarzer Materie.
„Alles ist Oberfläche.“ So harmlos dieser Befund aussieht – er kann tatsächlich ein Kronzeuge für das postmoderne, neoliberale Denken sein.
Und was ist mit den Wissensdimensionen, die über Jahrtausende erschlossen wurden und die die Erscheinungen der Welt von heute bedingen, die einem Halteknopf in der U-Bahn eine Funktion geben und die eine Eizelle befruchten helfen, zelldurchdringend. Sind das Wanderungen auf Oberflächen oder hochkomplexe Raumforschungen? Wie sieht die Oberfläche aus, die der Satellit Rosetta überqueren mußte, um den Lander Philae auf dem Kometen aufsetzen zu können? Ist das nicht eher echte Tiefe, die bereits in Vorzeiten begann, mit mutigen Blicken „über den Tellerrand hinaus“, als das physikalische Denken mathematisch formuliert werden konnte, das zur Astrotechnik führt. Ist dieses Wissen eine Oberfläche oder doch Spurenträger einer intensiven Interaktion mit Weltprozessen, dimensionsreich und verästelt, in Sprache codiert?
Sollte je ein anderes intelligentes Lebewesen den Lander Philae auf dem Kometen 67P/Tschurjumov-Gerassimenko finden, würde es dann nicht versuchen über sein bloßes Glitzern im Sonnenlicht hinaus etwas über die Geschichte dieses Objekts zu erfahren und dabei zunächst an einem Abgrund stehen. Wäre es – rein oberflächlich betrachtet – damit zufrieden, den Lander Philae als kuriosen Pickel zu betrachten, oder formulierte es Fragen, die über diese Oberflächen hinausgehen? Was ist das für ein Ding und wie kommt es hierher? Ist es nicht gerade so, daß immer die Überwindung der Oberflächen uns weiter gebracht hat und sei es die imaginäre Überwindung mit Hilfe des Gedankens.
Thomas Thiel schrieb im August 2010 in der FAZ in seiner Besprechung zu dem Buch „Tiefe – Über die Faszination des Grübelns“, in dem Burkhard Meyer-Sickendiek für ein neues ausschweifende Denken plädiert:
„Das Grübeln gilt als ein Denken, das sich verliert. Die Psychologie hat es seit längerem ins pathologische Register eingereiht. Schon 1868 definierte der Psychiater und Internist Wilhelm Griesinger es erstmals als neurotische Störung. In neueren psychologischen Theorien firmiert es als selbstquälerisches, Depressionen förderndes Wiederkäuen immer gleicher Gedanken, die sich zwanghaft einstellen, als ein vom Zweifel infiziertes Denken, das sich in abstrakten, selbstbezogenen Problemen ohne Ziel und Handlungsfolge verstrickt.
Man kann äußere Faktoren für diese negative semantische Drift anführen, etwa das Bedürfnis, die Denk- und Handlungsökonomie knappen Zeitverhältnissen anzupassen, in denen der schweifende Gedanke zum Störfaktor wird.“
Die Postmoderne befürchtet, daß sie den Menschen verliert, sobald er grübelt. An einen anderen Menschen, der Ungewissheiten und Zweifel mit sich trägt, der erreicht werden müßte, um den gekümmert sein will in seiner jeweils eigenen Tiefe, also andernorts. Etwas, das sie nicht leisten kann. Sie kann nur Oberflächen bedienen. Sie kann ein anonymes Heer in der Fläche ordnen und damit vor der Tiefe und dem Versinken schützen.
Der Verhaltensforscher und Humanethologe Eibl-Eibesfeldt weist darauf hin, daß in einer anonymen Gesellschaft Gefühlsäußerungen eher unterdrückt als ausgelebt werden. Das könnte ein Hinweis sein auf fehlende Balance – Städter sind gewohnt unterwegs zu sein ohne hinreichend emotionale Beteiligung. Alles passiert innen, aber es zählt nur das Außen. Man agiert fast automatisiert, mit einer starren Maskiertheit, die nichts erkennen lässt. Über den Tag hin erzeugt das ein Defizit an „Echtheit“, an auch emotional ausgeübter Gegenwart. Nur wer es schafft, sich selbst so in den Tag zu stellen, daß er auch im anonymen Umfeld Eigenes ausagieren kann, schafft es, dem depressiven Potential des anonymisierten Lebens entgegen zu stehen. Aber das sind die allerwenigsten. Die meisten Menschen spüren eine emotionale Verarmung und leiden darunter. Sie spüren die Innenraumleugnung, die man auch umschreiben kann mit: Glaube der Theorie!, glaube der Predigt und der Parole. Eine Depressionskeule, die nicht neu ist, die schon immer Machtmittel war, auch und gerade in Weltreligionen, die das Nicht-Oberflächliche, das Dahinter, die Tiefe des Menschen als autonomes Gebiet ausgemacht haben, füllen und beherrschen wollen.
Der Grübler ist mental abwesend, nicht greifbar. Er lebt in einer Distanz zur nackten Oberfläche und ist für gesellschaftliche Belange verloren. Aber gerade der Grübler sucht nach ungewöhnlichen Auswegen, sehnt sich nach Leiter und Überleben am Licht. „Schriftsteller der Moderne wie Benn, Musil oder Schnitzler geraten in den Sog des pathologischen Befunds. Bei Hofmannsthal wird das Grübeln zum Symptom der Willenskrankheit, in Gottfried Benns Rönne-Novelle verstrickt sich der Held in die Funktionalität des eigenen Gehirns, bei Kafka im Bau der Gedanken ...“ schreibt Thiel weiter.
Das Innenreich rutscht unters Mikroskop. Aus narrativer Reichweite wird die Narration der Funktion, aus der Erzählung der Tiefe die Präsentation der Bilder als eindimensionales Geschehen, wo die Material gewordene Kunst „nichts anderes mehr zu sagen hat, als sich selbst, nichts anderes zu tun hat, als im Glanz ihres Seins zu glitzern“ (Foucault, Die Ordnung der Dinge, 1974).
In diesem Zusammenhang ist der Schnitt in die Leinwand ein gewagtes und sinnreiches Statement.
Lucio Fontana begann 1958 mit seinen geschlitzten Bildern: „Wenn ich ein Bild mit einem Schnitt mache, will ich kein Bild machen: ich öffne einen Raum, eine neue Dimension …“
Das Grundproblem ist: Innenraum ist kein öffentlicher Raum. Er ist aber unbestreitbar vorhanden. Der öffentliche Raum kann aber nur Oberflächen kombinieren und vergesellschaften, also bleibt bei jedem integrierten Gesellschaftsmitglied ein blinder Passagier an Bord, den man nicht sieht und der jederzeit das Regime übernehmen kann. Es kann eine Bombe ticken in meinem Gegenüber. Mein Nachbar im Flugzeug kann tatsächlich ein Bombenleger sein.
Also muß die Gesellschaft Regeln finden, wie das Miteinander gestaltbar ist, ohne daß der Innenraum des einen den Raum der Gesamtheit zerstört. Ein gutes Mittel ist die Angleichung und Verflachung, sie hilft die Ausschläge im Innenraum so zu nivellieren, daß keine Gefahren für den öffentlichen Raum drohen. Ein anderes Mittel ist das Tabu. Ein weiteres die Manipulation, die schon bei Totschweigen oder Desinformation beginnt.
Da es in diesem Essay um Oberflächenreligion und Innenraumleugnung geht, geht es auch um Priestertum und Seinsverlust. Der Priester der Oberfläche will den Innenraum nicht sehen – er einigt sich darauf ihn lieber zu ignorieren oder nicht zu betreten, bevor er sich in ihm verliert, denn er scheint labyrinthisch, dunkel, kellerfeucht. Der Innenraum des Einzelnen ist sein Schatten. Er ist all das, was nicht fürs Licht bestimmt ist. In uns geht ein Doppelgänger spazieren. Je weniger wir ihn ausmachen können, umso mehr mischt er sich ein, langt aus den dunklen Türen an den Lichtschalter und kriecht unters Bett, auf dem man vögelt. Während die öffentliche Person am Rednerpult rhetorische Kabinettstückchen abliefert und Erfolge kommentiert, weint ein kleiner Junge an der Brust seiner Mutter über das dunkle Knacken im Holunder am Waldrand.
Die Oberfläche ist der öffentliche Teil der Welt, über ihn kann geurteilt, gesprochen, verhandelt werden, das ist absolut, gemein, guten Gewissens geteilt. Der Innenraum ist ohne moralisches Licht, ein dunkles Gefängnis, aus dem ein Ausbruch nicht wirklich gelingt. Es ist hochriskant sein dunkles Geschehen abzubilden. Man kann über Ausbruchsversuche sprechen, das fehlende Werkzeug, die abgebrochene Feile, das nennt sich reflektieren, Licht hinein bringen in die Sache, aber man kann dort nicht bleiben. Man muß immer wieder an die Oberfläche und sich Applaus abholen, dafür daß man hier ist in dieser Welt.
Und da der Applaus für die oberflächliche Person größer ist als für ihren Schatten, verdrängt sie das ohnehin Verborgene mehr und mehr. Das Ich der Oberfläche bläht sich auf, trägt den Körper unter seinem Ballon durch die Zeit. „Die Inflation des Ich bedeutet immer ein Überschwemmtwerden von einem Inhalt, der größer, stärker und energiegeladener ist als das Bewußtsein, und der deswegen eine Art Besessenheit des Bewußtseins verursacht.“ schreibt Erich Neumann 1948 in Tiefenpsychologie und Ethik.
Wir könnten durchaus bei dem Begriff Verdrängung bleiben: das aufgeblasene Ich, das öffentliche Sein, drückt die Schatten weg und fordert allen Raum – es soll nichts übrig bleiben vom persönlichen Dunkel. Alles ist gut. Alles ist besessen und besetzt. In der modernen Welt gibt es kein unerklärliches Dunkel mehr.
Ich könnte jetzt dem Stichwortgeber danken, daß er ein guter Themen-Lieferant sei, aber ich werde das Gefühl (Vorsicht – Tiefe!) nicht los, daß er mir hier eigentlich eine Handgranate hinlegte und ich in meiner Naivität sie zu einem Strohfeuer (in meinem blonden Gehirn) benutzte. Ich bin mir ziemlich sicher, ihn nicht in seinem Sinn verstanden zu haben.
„ Alles ist Oberfläche!“ - Das ist schon ein seltsamer Satz (mit einem gewissen Sensationsappeal) in einer hochkomplexen ineinander geschichteten Welt, die Innenräume mit Zellwänden, Membranen, Häuten vor Ein- und Ausfluß schützt. Es ist unzweifelhaft, daß Dinge nur dort manifest werden, wo das Licht hinreicht, also nur Beleuchtbares real auftritt, demnach das Ding an sich das Reflektierende sein muß, aber es ist genauso unzweifelhaft, daß nicht das Ding an sich Licht in die Sache bringt, sondern daß es ihm ausgesetzt ist, ihm widersteht, aus einem nicht oberflächlichen, sondern ganz elementaren Grund. Weil das Ding an sich eine Ausbreitung hat, der jener des Lichtes widerspricht, nicht lichtschnell, sondern gebremst gestaucht, schwer, angesammelt, zurückgeblieben im Dunkel, zeitlich geworden – keine oberflächlichen Eigenschaften bis hierhin.
Was ist nun mit der Lyrik? Kann man auf sie einen Satz wie „Alles ist Oberfläche“ so anwenden, daß mein Satz von der Bohrung ein unsinniger ist. Wer Worte rein oberflächlich/materiell betrachtet, braucht nicht tiefer zu gehen, als … Bis wohin? Bis zum Buchstaben auf Papier? Ist ein Wort an sich nicht schon eine Tiefenbohrung, eine Gesteinsprobe, Baumaterial, Rohstoff? Ist der Blick auf einen Satz nicht auch eine Tiefenbohrung, eine Forschungsreise, ein Sprung in den Abgrund auf der Suche nach Merkmal und Sinn. Ich gebe zu, daß im Fall „Alles ist Oberfläche“ in diesem Essay wenig Konkretes dabei herauskam, einfach weil der Satz selbst zu oberflächlich platziert war und damit die Chancen zur Fehlinterpretation bewußt potenziert. Sätze ohne Kontext sind isolierte Maschinenteile. Man kriegt sie allein nicht zum Laufen und baut sie vielleicht in die falsche Anlage ein.
„Es ist keinerlei Tiefe, die erst ergründet werden muß, sondern alles ist Oberfläche, die auf den ersten Blick übersichtlich da ist. Es ist keine Durchdringung der ganzen Wirklichkeit ...“ Dieser Satz findet sich nicht in einem Buch anti-Postmoderne, sondern in einer Untersuchung über Kitsch von Otto Friedrich Bollnow (Schriften, Band I „Das Wesen der Stimmungen“, 2009).
Die Aussage „Alles ist Oberfläche“ ist ein Maschinenteil, bei dem ich nicht sehe, in welcher thesenproduzierenden Maschinerie ihr richtiger und wichtiger Platz ist, denn offensichtlich kann man die verschiedensten Thesen damit betreiben. Vom Talmud („Willst du das Unsichtbare kennen, betrachte genau das Sichtbare.“) bis zum Kitsch.
Man kann darüber grübeln, weil es das ist, was Oberflächen uns setzen: den Ort der Unterscheidung, den Moment der Befragung, die Vermutung der Tiefe als Spekulation ums Dahinter. Grübeln entwirft Räume, Denkabenteuer, wo die bloße Oberflächenanalyse nicht mehr weiterkommt. Und dieser vielschichtige Zugangsversuch, das Betreten von neu zu errichteten Inhaltskomplexen, ist im besten Fall kein Besuch in der Galerie der Klischees sondern idealerweise eine Exkursion in die Eigentlichkeit, wo man erstmal alle Innenbilder abhängt und offen ist für das Entstehen völlig neuer Bilder, die aus Bereichen auftauchen, welche man bewußt gar nicht betreten kann. Der Eindruck, in einer aus unbewußten Tiefen befeuerten Fabrikhalle zu stehen, drängt sich auf und ist ein Schock für jeden Verflächigungsmechaniker – nichts läßt sich wirklich flach halten, nichts bleibt tatsächlich transparent, es gibt nicht den gläsernen Menschen (sondern Menschen, die vom Glas wissen). Es gibt immer Strukturen, die Beiträge hinzugeben, Strategien, die Material instrumentalisieren, Unfassbares, das Macht ausübt, Mächtigkeit, die wir nicht steuern. Allein die Tatsache Glas zwischen meine Person und die Welt zu bringen verändert mich und die Welt. Ich kann meine Welt beheizen und habe die andere dennoch im Blick. Wenn ich genau hinschaue, verändert sie sich, wird grau und schwarzweiß und mit den Jahren ein apokalyptisches Tiefengemälde. Gottseidank versichert man mir, das sei nur oberflächlich und tatsächlich, wenn ich herantrete und meine Hand ausstrecke, stoße ich an eine glatte, kalte Welt, die real ist.
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Kommentare
anstelle einer eigenen überlegung
Immanuel Kant, wohl sicher nicht postmoderneverdächtig:
„Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben, welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichtsdestoweniger wirklichen Gegenstandes bedeutet.“
ich bin ziemlich erschöpft
ich bin ziemlich erschöpft und bekomme im moment nur wenige gedanken klar. etwas, was mir bei dem kant-zitat aufscheint, ist, daß wir sehr gerne den fehler machen, den er dort beschreibt: wir erkennen, daß wir nur die oberfläche erkennen können, und sagen dann: alles ist oberfläche. schließen also von unserem erkenntnisvermögen auf die beschaffenheit der welt.
ich stimme kant nicht zu, daß wir, indem wir benennen, eine oberfläche schaffen, bloß weil wir nicht fähig sind, mehr als die oberfläche wahrzunehmen. das wort ist der träger einer be-deutung (das maultier des sinns), die über die oberfläche hinweg reichen kann und es existiert im eigenen inneren. es verknüpft sich mit einer schaltung, es graviert sich, kein mensch würde, wenn er diese schaltung aktiviert sehen würde (als biophotonischen blitz oder sowas) wissen können, daß diese neuronale aktivität "in ihrer tiefe" für das wort blablabla steht. das ist deshalb "tief", weil wir einen kompletten menschheitsroman schreiben müßten, um schildern zu können, welche gesetze und regeln dazu führen, daß das vor uns geschehende überhaupt geschieht. der katalog, der hinter (=unter) der neuronalen aktivität steckt, ist so umfangreich, von solcher beträchtlichen tiefe, daß er beinahe bodenlos scheint. allein wenn ich bedenke, was das wort "wort" in mir auslöst - wahrscheinlich ein prächtiges gewitter, das von ersten leseversuchen bis zu reimabenteuern, die ich nicht bestanden habe, führt. und zwar in jedem auf ganz eigene historisch gewachsene weise. das wort gehört zum bedeuter fast schon wie ein organ. es lebt auf ganz eigentümliche weise.
und jetzt ist der faden weg.
dualismus ist immer idealistisch
ich hab den essay mit großer aufmerksamkeit gelesen, da mich die klassischen dualismen innen/außen, tief/flach, hohl/bedeutungsschwanger, wirklich/illusorisch etc pp auch beschäftigen. über die jahre fällt mir dabei der immerselbe denkfehler auf, der zum "grübeln" führt: man fühlt sich genötigt, sich für 1 seite der medaille zu entscheiden und diese dann "absolut" zu definieren, also z.b. an DIE tiefe zu glauben und diese dann OHNE ihr gegenteil (die oberfläche) zu begreifen. aber genau das führt zum grübeln im sinne einer inflationären depression, denn dualismen zerfallen, wenn man 1 ihrer seiten vernichtet bzw. verleugnet: es gibt nur tiefe, WEIL es AUCH oberfläche gibt und umgekehrt. ein oberfläche OHNE tiefe ist nicht mehr "oberflächlich", sie ist einfach nur FLÄCHE, was dann zum synonym für raum, element, materie wird. unser metaphysisch geprägtes denken sucht überall das absolute, das kantische "an sich", das heideggersche "eigentliche". postmodern zu denken, bedeutet nicht, oberflächlich zu werden, sondern den tiefgang der fläche selbst zu entdecken, ohne ein ideales "dahinter" zu suchen. der grübler sucht immer das absolute und scheitert dementsprechend, weil er in den wahnwitzigen strudel der inflation gerät. erst die rückkehr ins "konkrete" als tief UND oberflächlich erlaubt, die welt weder als kalt noch als heiß sondern als SEIEND zu zelebrieren, seiend bis in die tiefsten fasern, aus denen der weltteppich gewebt ist :-)
lieber tom, tiefe ist für
lieber tom, tiefe ist für mich mehr ein bild für ein nicht beschreibbares areal, als tatsächlich räumlich. tiefe hat auch mit weite zu tun, bspw. der weite von geschichten, die zu einer handlung oder einem begriff führen. das hat mit etwas absoluten nicht viel zu tun, sondern eher mit dem gegenteil - eine oberfläche ist der grund für den blick dahinter, das hat deleuze auch gesehen, oder sagen wir: es gibt einen grund für eine oberfläche, es gibt eine geschichte hinter den schuppen meiner haut oder den zellwänden des einzellers. darin spiegeln sich eigenschaften, die aus dem nicht-ich abgelesen wurden, aus der oberfläche des anderen. meine oberfläche ist quasi eine antwort auf die oberflächen um mich herum, und das ist eine verlinkung, die alles andere ist als oberflächlich, weil sie ein prinzipielles "lesen", bzw. "lesen von prinzipien" beinhaltet. das würde ich jetzt am liebsten hinter "grübeln" verstanden wissen - "lesen wollen".
metaphysik versus reduktionismus - ein altes scheinproblem
"So wie das Universum unser Bewußtsein produziert, so ruft unser Bewußtsein das Universum hervor, und diese Erkenntnis transzendiert und beendet die Debatte zwischen Materialisten und Idealisten (oder Mentalisten), Deterministen und Verfechtern des freien Willens, die das yin und das yang in den philosophischen Ansichten vertreten."
Alan Watts, in: DER LAUF DES WASSERS (1975)
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