Essay

Übersetzen und übersetzt werden

Jedes Wort eine Kugel auf dem Abakus
Hamburg

„Das Übersetzen von Gedichten ist unmöglich.“

Bei fast jeder Übersetzungsdiskussion fällt er einmal, dieser Satz. Ich stöhne! Er sollte unter Strafe gestellt werden - er ist zu langweilig. In keiner Weise denkt er über die Worte nach, die er benutzt.

Da Gedichte immer wieder Unmögliches versuchen (wie auch andere Literatur), muss das Unmögliche des Übersetzens und Übersetzwerdens ihnen entgegen-, ja sogar zupass kommen. Es passt: dem Zielen auf etwas Un-Möglich-Sprechbares im Gedicht wird ein zweites Zielen auf eben dieses „Etwas“ in einer anderen Sprache, also einer anderen Art möglicher Un-Sprechbarkeit, zugesetzt.

Übersetzung bedeutet Verwandlung. Dass dies beim Gedichtübersetzen besonders sichtbar wird, macht nichts unmöglicher oder möglicher; es erhöht die Empfindlichkeit und die Aufmerksamkeit auf den Übersetzungs- und Wortfindungsprozess selbst.

Schwierig und spannend, herausfordernd und abenteuerlich genug ist es schon, Prosa von einer Sprache in eine andere zu bringen. Nie werde ich den wunderbar gebauten Sechs-Seiten-Satz vergessen, der sich in Christan Hansens Übersetzung von Roberto Bolanos Roman 2666 relativ am Anfang des Textes findet, übrigens und vielleicht nicht zufällig dort, wo eine deutsche literarische Begebenheit erzählt wird. Hier ist gut nachzuvollziehen, wie Übersetzung gelang: Grammatik und Sprachmusik wollten transponiert werden; es erfolgte eine kluge, feinfühlige, in die Grammatik des Deutschen vertiefte Re-Konstruktion des Originals.

Bei Gedichten sieht es, was Nachprüfbarkeit einer Übersetzung und die Beurteilung ihres Gelingens angeht, meist schwieriger aus. Eine Übersetzung, die allen Formvorgaben folgt, etwa den Alexandriner getreu überträgt, also sich durchaus anstrengt, mag zwar nützlich sein, wird aber deswegen noch lange nicht in der sogenannten Zielsprache zu einem guten Gedicht. Oft ist sie nicht mehr als der Anfang eines Weges. Der dann auch wieder aufgegeben werden kann, oder muss.  

Damit ist zweierlei behauptet:

Eben weil das Gedichtübersetzen so unmöglich erscheint, ist es möglich. Im besten Fall setzt die Übersetzung etwas aus dem eigenen Entstehungsprozess des Gedichtes erneut frei. Und dann auch um.

Der wörtlichen Übersetzung treten andere Werte oder Valeurs zur Seite, die mindestens gleichberechtigt neben dem sogenannten, zu übersetzenden „Inhalt“ stehen. Sie betreffen all das, was Gedichte „ausmacht“ (so kommt man bei einem Gespräch über die Übersetzung von Gedichten nicht aus ohne Rückgriff darauf, was man sich überhaupt unter einem Gedicht vorzustellen vermag): Nachvollzug der Formen wie Strophe, Metrum, Reim – also der Offensichtlichkeiten; Nachvollzug der nicht so offensichtlichen Brechungen dieser Formen; Nachvollzug der Bedeutung der Verwendung dieser Formen in der poetischen Sprachwelt, der das Gedicht zugehört (sprich: der Übersetzer muss die Lyrik der Sprache, aus der er übersetzt, sehr gut kennen); Nachvollzug anderer lautlicher Werte wie Konsonanten- und Vokalabfolgen, Phrasierungen, Rhythmisierungen; Empfindung für die Originalität des Sprachganges, die Art und Weise der Grammatikbrechungen und Neologismen.

Und: Umsetzung all dessen auf die Gegenseite der „Zielsprache“, was wiederum genaue Kenntnis der Poesie dieser Sprache voraussetzt, ein feines Nerven- und Knochengehör fordert sowie die Fähigkeit und den Mut zur Spracherfindung und zu Eigenständigkeit, also auch zum Fehler.

Wie das alles zusammenkommen soll, mag man zweifelnd fragen. Und Zweifel sind hier berechtigt, ja unabdingbar. Der Übersetzer muss sein Handwerkszeug pflegen, gewiss, die Sprache und die eigene Wachheit ihr gegenüber sogar doppelt beobachten, um dann auf die Momente der Auseinandersetzung, Nähe und Inspiration zu setzen. Manchmal gelingt etwas rasch, manchmal fügt es sich aller Arbeit zum Trotz nicht.

Nach meinen Erfahrungen mit dem Übersetztwerden halte ich es für zentral, Übersetzer zu ermutigen, zu eigenen Sprachlösungen zu finden und dabei durchaus auch vom Original abzuweichen. Die Übersetzung von Gedichten ist nur unmöglich, wenn man von hundertprozentigen Akten der Nachahmung träumt. Doch wer wollte das? Wer könnte das auch? Schließlich sind zwei verschiedene Sprachen im Spiel, zwei sehr unterschiedliche historisch gewachsene, mit ganz differenten Dingen (Bezeichnungen für Dinge) und Erfahrungen bereicherte, riesige, vernetzte, sich ständig transformierende Systeme. Der letzte Gedichtband der amerikanischen Autorin Hilda Doolittle, die sich HD nannte, entstand auch auf Grund der Begegnung der Dichterin mit einem jungen Mann aus Australien. Beim Übersetzen stieß ich auf im Englischen alltäglich klingende Pflanzen- und Baumnamen, für die es in der botanischen Welt immer eine lateinische Entsprechung gab, und so gut wie nie einen Namen im Deutschen. Der Grund: alle Pflanzen des Gedichtzyklus „Hermetic Definition“ (Heimliche Deutung) sind heimisch in Australien. Und bestimmte australische Algenarten werden im Deutschen eben nicht bezeichnet.

Der Fall ist offensichtlich. Mir half nichts als nachzuerfinden. Ich konnte unmöglich einen lateinischen Pflanzenamen in den deutschen Text aufnehmen, er hätte die Gewichte zu stark Richtung „Gelehrsamkeit“ oder Botanik verschoben. Natürlich verlor ich durch mein Verfahren auch etwas: nun liest man im Deutschen „Blasentang“ und wird nicht unbedingt an Australien denken. Der zugrundeliegende Verschiebungsprozess ist aber mit Hilfe eines Lexikons dank der zweisprachigen Ausgabe nachvollziehbar. Man sieht das „Hinüberwandern“, und kann sich vorstellen, dass es auch an anderen Stellen, vorsichtig, nahebleibend, stattgefunden haben mag. Denn hier wird offensichtlich, was Übersetzung an jeder Stelle unternimmt: sie versetzt und verschiebt. Sie verändert Töne und Bedeutungen und damit Gefühle. Sie fährt die Bewegungen des Originals nach, auf Eis, manchmal scharf, manchmal versetzt, sie zeichnet über eine Zeichnung.

Am Ende gibt es für mich, werden meine eigenen Texte übersetzt, einen Test, der mir etwas über die Übersetzung verrät, auch wenn ich sie nicht verstehe. Zum ersten Mal erlebte ich das im Winter 1997. Schwedisch ist nicht so weit entfernt vom Deutschen, dass man gar nichts verstünde; andererseits spreche ich diese Sprache nicht und konnte in keiner Weise einschätzen, was der Übersetzer mit meinen Gedichten unternahm. Das änderte sich schlagartig, als wir gemeinsam in Stockholm auf der Bühne standen. Wir lasen abwechselnd; las er, konnte ich das Gedicht als mein Gedicht im Hören erkennen.

Ich erlebte ein Paradox: bei klarem Bewusstsein spaltete ich mich. Das Gedicht war meines – und fremd. War meines und seines. Ich glaube, dass die Übersetzungen sehr gut waren, denn ich spürte, dass sie beim Publikum ankamen: sie übermittelten etwas, sogar mir (ohne semantische Sprachauffassung). Ein anderes, subkutanes, gestisches Verstehen griff Platz.

Allmählich gewöhnte ich mich an das seltsame Gefühl, so verwandelt zu werden. Bei der Übersetzung in Sprachen nicht indoeuropäischen Ursprungs ist der gesamte Vorgang schlimmer und leichter zugleich. Ich habe keinen blassen Dunst davon, was der Übersetzer tut, auch wenn er mir Fragen stellt und versucht, es mir zu erklären. Wie sollte ich eine agglutinierende Sprache nachvollziehen, eine Sprache ohne Plural (bahasa indonesia) oder eine, die den Unterschied zwischen ‚er‘ und ‚sie‘ (finnisch) nicht kennt. Ich kann das zwar rational begreifen, mir auch vorstellen, dass Sprachen sehr wohl ohne diese grammatischen Erscheinungen funktionieren. Doch in meinem Kopf sieht die Welt anders aus.

In diesen Augenblicken ahne ich, dass aus meinem Gedicht im Vorgang der Übersetzung etwas ganz anderes wird, als ich mir je gedacht hätte. Als ich je imstande gewesen wäre (und sein werde), mir zu denken. Ich staune, ich freue mich und ich ziehe ich zurück. Ende der Autorenrolle:  spätestens jetzt beginnt das Eigenleben des Gedichtes, und der, der es betreibt, der dieses Leben verleiht, ist der Übersetzer – mit seiner Interpretation, seinem Blick und seiner Sprachkompetenz. Er wird Lösungen finden. Manchmal, das kenne ich von mir, werden sie umständlich sein oder zu kurz greifen, weil sie sich vom Original (noch) nicht (weit genug) lösen. Sie werden schlechter sein als das, was anderen an dieser Stelle eingefallen wäre, und manchmal besser. Sie werden, in jedem Fall, dem Gedicht eine Richtung zukommen lassen.

Hier ist der Satz „Gedichte zu übersetzen ist unmöglich“ auf offensichtliche Weise richtig (man träumt den vorbabylonischen Traum von der Gleichheit der Sprachen und ihrer Weisen, die Welt zu sehen); hier ist der Satz „Gedichte zu übersetzen… “ auf offensichtliche Weise falsch – allemal wenn Übersetzung nicht mehr als statisches „Endprodukt“, sondern selbst als Kontinuum aufgefasst wird.

Übersetzung ist die Möglichkeit einer literarischen Antwort auf einen bereits bestehenden Text, die sich auf der weiten Skala willentlicher Nähe oder Ferne, der Umerfindung, Inspiration, Willkür und Sorgfalt, des Nachvollzuges und der Wahnsinnsidee ihren Platz suchen wird.

Heute geht es mir oft so: Bevor ich anfange, ein Gedicht zu übersetzen, sehe ich es als eine Art Abakus-Bild vor mir.

Man kann sich in etwa jedes Wort als Kugel auf den Rechen(Zeilen)schnüren vorstellen. Ich rechne zwar nicht, aber verschiebe doch; die Kugeln sind unterschiedlich farbig: sagen wir blau für Metaphern, und rot für Redenwendungen, gelb für grammatische Verschleifung, orange für Neologismen etc.

Das Bild zeigt die wörtliche und grammatische Struktur des Gedichtes. Es ist meine Matrix (der Feinschliff fehlt dann noch).

Das erste Übersetzungsziel lautet: dieselbe Menge von Kugeln in eben diesen Farbkombinationen zu verwenden. Dabei weiß ich, dass ich umstrukturieren muss – und das Ziel nie ganz erreiche. Ich bilde andere Nester und Haufen. Hie und da werde ich etwas ersatzlos verlieren („Australien“), hie und da werde ich unverhofft etwas gewinnen, weil die Sprache, in die ich übersetze, mir eine Mehrdeutigkeit, eine Idee, ein Bild oder eine Klangfolge schenkt.

Bei dieser Arbeit fühle ich mich der Poesie ganz nahe. Ich rühre ihr sozusagen in den Eingeweiden, weitestmöglich von der Frage entfernt, was der Autor wohl gemeint haben mag. Manchmal mag es sinnvoll sein, ihn zu fragen, welcher Variante in meiner Sprache er den Vorzug gäbe, so er denn noch zu befragen ist. Werde ich gefragt, empfinde ich immer sehr deutlich, wie ich selbst nur als Interpretin meines eigenen Gedichtes dasitze, ex post wie alle anderen auch. Nein, ich habe dazu nichts gemeint! Ich kann nicht denken in der Sprache meines Übersetzers. Als Übersetzerin lasse ich mich daher so weit als möglich eher von den Sprachlinien des Gedichtes selbst leiten, von den Grammatiken der beiden Sprachen und ihren Interferenzen: den Ballungen, den Rechnungen, die sie miteinander haben. Dann weiß ich, dass das Gedicht dabei ist, sich übersetzen zu lassen.

Manchmal denke ich dabei an einen Satz, den ich vor Jahren bei George Steiner las. Er ist so luzide wie interpretationsbedürftig, gilt für Übersetzungen und führt über sie hinaus: „Die Poesie der Grammatik ist die Grammatik der Poesie.“

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