Katyn denken

Aufsatz

Autor:
Simone Trieder
 

Essay

Katyn denken

10. April 2010
Ein etwas angetrunkener Mensch überraschte mich kürzlich mit dem Satz: Es gibt keine Gegenwart, es gibt nur Vergangenheit und Zukunft. Darüber habe ich nie nachgedacht. Irgendwie wird mir schwindlig ohne Gegenwart. Weder in dem alten philosophischen Wörterbuch aus dem Bücherschrank meines Vaters noch in meinem fünfbändigen Röhrich für Redensarten findet sich etwas zum Stichwort Gegenwart. Im Ethymologischen wird Gegenwart vom Mittelhochdeutschen  g e g e n w a r t – gleich Anwesenheit hergeleitet. Dann wäre der Anwesende der Zeitzeuge? Aber wenn es keine Gegenwart gibt, dann gäbe es auch keine Anwesenheit. Herta Müller hatte in ihrer Leipziger Poetikvorlesung darauf hingewiesen, dass nur kleine Vorsilben die Bedeutung des Wortstammes bis in sein Gegenteil verändern können. Also nehme ich das Präfix ver- und beuge die Gegenwart und gelange zu dem Wort vergegenwärtigen, was nun wieder  – sich etwas vorstellen – heißt. Dann hätte die Gegenwart schon nichts mehr mit der Realität zu tun?

Während ich an der Gegenwart herumbeuge, ist bei Smolensk das Flugzeug mit den polnischen Staatsgästen zur Katyńgedenkveranstaltung vom Himmel gefallen. Ich erfahre das aus einer Mail von Lars, der sich sorgt, ob auch Bartoszewski unter den Toten ist. Wir hatten am Tag zuvor über ihn gesprochen. Da ich keinen Gedanken fassen kann, starre ich auf das Newsfenster im Internet, aus dem unaufhörlich die aktuellen Nachrichten quellen. Es werden außer dem des Präsidenten kaum Namen genannt. Nur fünf Stunden nach dem Unglück kursieren erste Verschwörungstheorien: die USA, die Russen, sogar Polen selber. Mein allererster Gedanke war auch, das ist doch kein Zufall, ausgerechnet da, wo Russland und Polen in Katyń aufeinander zugehen. Wałęsa spricht von der „Elite Polens“, die ums Leben gekommen sei. Damit stellt er die Verbindung zu den Katyńmorden her, problematisch, weil ja Russlands Rolle mitgedacht wird. Ich frage mich, ob die Gedenkveranstaltung trotzdem stattfindet.
Im Internet finde ich die Seite des polnischen Präsidenten, dort ist die Passagierliste veröffentlicht. Bartoszewski  ist nicht dabei. Aber Anna Walentynowicz, das ist der einzige mir bekannte Name. Deren Geschichte als Mitbegründerin der Solidarniość Volker Schlöndorff in seinem Film „Stajk“ erzählt und verfälscht hat. Ich denke an meine polnischen Freunde. Und an meine Tochter, sie ist ja in Warschau mittendrin. Mein Anruf erwischt sie bei der Hausordnung. Hat sie bei mir je die Hausordnung gemacht? Oder bin ich ungerecht, wie meine Mutter, die sich nicht erinnern kann, dass ich jeden Tag abwaschen musste. Polen ist im Ausnahmezustand und die Deutsche macht Hausordnung. Meine Tochter erzählt, dass sich die Menschen auf Warschaus Straßen weinend in den Armen liegen. Wie beim Tod des Papstes. Sie weiß nicht, ob in der nächsten Woche Vorlesungen stattfinden werden. Ich versuche herauszubekommen, was Staatstrauer bedeutet, ob Vorlesungen betroffen sind. Ich finde es nicht. Haben wir in Deutschland schon einmal Staatstrauer gehabt? Irgendwie beneiden wir doch die Polen um ihre Verbundenheit mit dem eigenen Land. Aber. Die Vorstellung (Vergegenwärtigung),  Herrn Bolze aus meinem Haus weinend in den Armen zu liegen, wenn Horst Köhler mit 95 anderen wichtigen Deutschen abstürzen würde, will nicht gelingen. Ja, und wo soll Köhler in meiner Vorstellung abstürzen, einen Ort wie Katyń können wir Deutschen nicht denken.  
Im ARD-Brennpunkt abends sehe ich, die Gedenkfeier in Katyń fand statt, die Kamera auf die leeren Reihen für die Polen gerichtet. Fragt der deutsche Journalist den polnischen Kollegen, ob wir etwas tun können. Sie tun etwas,  soviel Anteilnahme, sagte der Pole, habe er heute von Deutschen erfahren. Beide wirkten sehr gefasst. Meine Fassung gerät ins Wanken, als im Fernsehen die Sigismundglocke in Krakau erklingt, die bei großen historischen Ereignissen geläutet wird. Ich hing als Kind am Glockenseil unserer Kirche mit dem dienstlichen Bewusstsein, die fröhlichen und traurigen Ereignisse der kleinen Gemeinde mittels meiner Muskelkraft anzuzeigen.
Krakau. Ich hatte eine Mail an Katarzyna in Krakau geschrieben. Kaczyński wäre nicht ihr Freund gewesen, antwortete sie, aber so einen Tod hätte sie ihm nicht gewünscht. Er war der Präsident meines Landes und die Umstände… schrieb sie. Auch täte es ihr besonders um Frau Kaczyńska leid, die eine wertvolle Person gewesen sei.
Sie dankte für mein Beileid. Gott, so groß hatte ich es gar nicht ausgedrückt.
Ich kann mich nicht konzentrieren und suche im Internet nach Reaktionen. Sagt jetzt vielleicht Frau Steinbach was, das wär doch eine Möglichkeit?    
In den Blogs von ZEIT, FAZ und Welt fachen die Mahner der Ostgebiete den Krieg neu an und schmähen die deutschen Politiker verlogen, wegen ihrer Beidleidsgesten. Die ja in ihrer Unbeholfenheit umso ehrlicher wirkten,  Angela Merkel: bestürzt über den Absturz. Heuchelei warfen die Hobbymeinungsmacher ihr vor. Ja, und das fehlte noch, dass wir für den Deutschenhasser die Fahne auf Halbmast setzen. Pfui! für Frau Piepers Vorschlag. Ausgerechnet in den Blogs von BILD finde ich Anteilnahme,  mehrfach sogar in Form von – Gedichten! Bonhoeffer wird zitiert,  Zbigniew Herbert, was ist denn in die Bildleser gefahren?
Und die Russen? In einem Hörerforum im Radio sagte ein in Deutschland lebender Russe, dass viele seiner Landsleute durch dieses Unglück wohl erstmals auf die Ereignisse in Katyń aufmerksam geworden sind.

Januar 2011
Aus der Annäherung zwischen Polen und Russland ist nichts geworden. Im Gegenteil. Der Bruder des verunglückten Kaczyński und seine Anhänger blasen zum Sturm. Die Untersuchungsergebnisse der Russen ergaben, dass ein polnischer Kommandeur sich im Cockpit des Flugzeugs aufgehalten und den Befehl zum Landen gegeben habe, und dass dieser 0,6 Promille Alkohol im Blut gehabt haben soll. Das sei eine Beleidigung für ganz Polen, schäumt der Kaczyński-Bruder. Die gemäßigteren Polen sprechen von einer Schuld auf beiden Seiten.
Quatsch, sagt die seltsame Internetseite Polskaweb, das sei keine Sache zwischen Polen und Russland,  Smolensk sei eine Aktion der weltweiten „kryptojüdischen“ Verschwörung. Es hätte nie einen Absturz gegeben, keinen Nebel in Smolensk, keiner hat gesehen, wie die Tupolew den Flughafen in Warschau verlassen hat. Und nur ein Journalist will den Absturz gesehen haben, ein Jude …


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