Katastrophen (April 2011)

Monatskolumne

Autor:
Christian Kreis
 

Monatskolumne

Katastrophen

Als Tschernobyl passierte, war ich neun. Da hätte man mir noch erzählen können, ein Geigerzähler, das ist jemand, der steht hinter der Bühne und guckt, ob die Musiker vollzählig sind. Diese Art Scherze machten einst Herricht & Preil, das größte Komikerduo der DDR. Und mein Schulfreund Thomas hatte eine Platte von denen. Und da kamen ständig solche Dinger wie:
„Mögen Sie Granatäpfel?“
„Wieso?, soll der Garten gesprengt werden.“
Oder:
„Hören Sie?, die Musiker stimmen.“
„Ach, wird denn schon gewählt.“
Also der Thomas hatte sich darüber nicht mehr eingekriegt.
Neben dem drohenden Supergau beunruhigte mich in der letzten Woche auch, daß ich zum Zahnarzt mußte. Diese Beunruhigung könnte einigen pietätlos erscheinen, die nicht wissen, wie sehr ich eine Zahnbehandlung fürchte. Früher kam in regelmäßigen Abständen der Zahnarztwagen an die Schule. Wir warteten in einem Abteil, hinter Milchglasscheiben. Nebenan wurde behandelt. Einer nach dem anderen wurde aufgerufen. Durch die Tür hörten wir die sirrenden Bohrgeräusche und die markerschütternden Schreie des ohne Betäubung behandelten Mitschülers.

Immerhin kann ich entschuldigend sagen, die Schlagzeilen aus Japan waren auf der Skala der Beunruhigung noch beunruhigender, so daß ich meiner Zahnärztin etwas gleichmütiger entgegensah. Denn angesichts einer atomaren Katastrophe, würde ich da nicht mein Schicksal männlicher zu nehmen wissen, sobald sie so etwas Lächerliches wie einen Bohrer zückte?

Angeblich sollte nur eine kleine Füllung gemacht werden. Dann war plötzlich von Karies die Rede und davon, daß die Füllung aus Keramik bestehen müsse, weil schon Wurzelnähe erreicht sei, das würde mich dann VIERHUNDERT EURO kosten. In meinem Kopf lief eine Gedankenkettenreaktion ab: Wieso Keramik, wenn’s auch Amalgam tut, kann ich das bezahlen, will ich das bezahlen, lohnt sich das überhaupt noch, angesichts der Weltlage, und tut das jetzt sehr weh, oder tuts noch weher?

Meine Zahnärztin, die mich seit etlichen Jahren behandelt, und zwar oft wie einen renitenten Sohn, duzte mich einfach. „Ich darf dich doch duzen, Christian,“ hatte sie mich gefragt, als sie zum Bohrer griff, „meine Tochter ist nämlich so alt wie du.“ In einem solchen Moment hätte ich mich auch von Gaddafi duzen lassen, wenn er der Zahnarzt gewesen wäre. Ich war wieder in die Rolle des Unmündigen, des von einer dominanten Tante Geduzten gedrängt. Alte Erinnerungen an Kindergarten und Hort wurden wach. So hatte sie leichtes Spiel bei ihrer dentistischen Überrumpelungsaktion. Sie bediente sich einer Situation der Schwäche und Angst, die meinen Willen lähmte und mich zur Folgsamkeit zwang. Denn das einzige, was mir dort halb liegend auf diesem Stuhl noch wichtig schien, war so schnell wie möglich von diesem Stuhl wieder herunterzukommen. Für Schmerz bin ich nicht ausgelegt. [1] Bemißt man den Wert eines Menschen danach, ob er Folter ertragen kann, wie es Sartre in Tote ohne Begräbnis verhandelt, bin ich so wertvoll wie die Aktie einer Bad-Bank. Unter der Zahnfolter habe ich mir oft eine kostenträchtige Zusatzbehandlung aufschwatzen lassen, der ich, ohne daß mir die Instrumente wie Bohrer und Absauger gezeigt worden wären, niemals zugestimmt hätte. Zum Beispiel niemals einer Zahnreinigung von 60 Euro pro Sitzung. „Das solltest Du Dir aber wert sein“, sagte meine Zahnärztin in einer Melange aus Strenge und Milde zu mir, als sich unerwartet ein Rest von Renitenz in mir regte. „Schau mal diese Ablagerungen an“, sagte sie, und weil sie einen technisch sehr gut ausgestatteten Zahnarztstuhl hat, der sich durch die Patienten, also auch durch mich, amortisieren muß, sah ich vor mir auf dem schwenkbaren Flachbildschirm meine schrecklich vergrößerten Zahnhälse, die nun tatsächlich gelbliche Ablagerungen offenbarten, denen ich, tolerant wie ich mit mir bin, bisher ein Bleiberecht eingeräumt hatte. Gelbe Zähne waren ein Markenzeichen des rauchenden Intellektuellen, siehe die schiefen Stummel von Sartre. An Sartre hat mir immer besonders gut gefallen, daß er einer der häßlichsten Philosophen war, die jemals über das Sein und das Nichts nachgedacht haben. Schließlich stimmte ich kleinlaut der Zahnreinigung zu.

Aber eine Summe von vierhundert Euro, ich will nicht sagen, daß der Supergau eine vergleichbare Katastrophe ist, und möchte auch nicht den Anschein erwecken, als sei das auch nur irgendwie miteinander - doch dann hat sie mich vollends verunsichert. „Christian, wegen deiner Lippe solltest du unbedingt mal zum Kieferchirurgen gehen und dich untersuchen lassen, ich geb dir eine Überweisung.“
„Aber, aber wieso, die, die ist doch wie immer“, stotterte ich.  
Es muß hier dazu gesagt werden, daß ich aufgrund eines Feuermals im Gesicht, vergleichbar mit dem, was auch Gorbatschow auf dem Kopf hat, meine Unterlippe etwas größer ist als die europäische Durchschnittsunterlippe. Sie wäre jedoch eines Schwarzafrikaners durchaus würdig. Und als ich schon fast soweit war, um einzuwenden, daß meine Lippe schon seit Jahren so ist, und nicht erst seit kurzem, das Foto auf meinem Personalausweis würde es beweisen, wo ist bloß mein Personalausweis, sagte sie nur: „Aber Christian, die war nie so dick, geh da hin und laß es untersuchen, ja!, da gibt es Farblaser und dergleichen. Du willst doch schließlich keine Elefantenlippe haben.“
Ich sah mich schon in einer Freakshow auftreten, weil alle diese exorbitante Lippe bestaunen wollen. Immerhin würde ich damit Geld verdienen. Mehr als ich es mit meinen Gedichten hinkriege. Wahrscheinlich hätte auch niemand was dagegen, wenn ich ab und zu mal, neben meiner Lippenpräsentation, ein Gedicht vorlesen würde. Treten sie näher: Der Mann mit der Elefantenlippe. Er liest sogar Gedichte.      
Im Mittelalter hätte ich mit dieser Lippe beste Chancen auf den Job des Hofnarren.
Als Märchenerzähler könnte ich variieren:
„Großmutter, warum hast du so eine dicke Lippe.“
„Damit ich dich besser küssen kann.“
Natürlich hatte es meine Zahnärztin nur gut gemeint. Und besonders gut mit ihrem Kollegen, zu dem sie mich überwies. Der hat sicher vor kurzem in einen richtig teuren Farblaser investiert und muß nun das Geld wieder reinkriegen. Und solange ich auf dem High-Tech-Stuhl meiner Zahnärztin saß, riskierte ich keine noch dickere Lippe, und sagte: „Ja, ja. Ich gehe gleich morgen zum Kieferchirurgen.“
Unterwürfig entschied ich dann auch lieber gleich freiwillig, die 400 Euro für die vollkeramische Zahnrestauration als Ratenzahlung abzustottern. Vor der letzten Rate wäre vielleicht schon alles Irdische ausgestanden.   
 

[1] In einem Medizinjournal, das ich nur lese, wenn ich in einem Wartezimmer warte, habe ich gelesen, daß ich als Rothaariger schmerzempfindlicher sei als Normalhaarige. Ich finde, unter diesem Gesichtspunkt sind die Eroberungszüge der Wikinger noch bemerkenswerter.