Die Namen der Söhne - anläßlich des Todes von Hamid Skif

Poesie

Autor:
Jürgen Israel
 

Poesie

Die Namen der Söhne

anlässlich des Todes von Hamid Skif
im März 2011


DER BAUM

Ich war gekommen, mich an den höchsten Ast zu knüpfen
Doch der Baum bekam Angst
Er floh vor dem Geräusch meiner Schritte
Ich habe keinen Baum mehr
an diesem Ort, wo die Menschen nur in ihren Schatten leben
Und die Hunde im Schatten der Menschen
Wo der Wind eine Kränkung des Himmels ist
Wo der Regen die Festtage frisst
Ich setzte mich in den Sand
Aus meiner Tasche nahm ich einen Zweig Papier
Ich pflanzte ihn in meinen Schatten
Und wurde ebenso groß
wie der Baum, der den Horizont verstellt




Auf dem Marktplatz, ja, es gibt in dieser nordafrikanischen Stadt einen wirklichen Marktplatz, nicht nur einen Basar, nicht nur Plätze vor der Moschee und vor der koptischen Kirche, auf dem Marktplatz treffen sich jeden 13. Rabi`al-Thani, das ist der 8. Baramhat der Kopten und der 4. März nach dem Julianischen Kalender, die Mütter, deren Söhne im letzten Jahr ums Leben gekommen sind: auf offener Straße erschossen, in Gefängnissen zu Tode gefoltert, auf der Fahrt nach Europa im Mittelmeer ertrunken, nachts von Mördertruppen abgestochen; oder die sich selbst getötet haben, weil sie die Elektroschocks und die brennenden Zigaretten auf der Haut nicht mehr aushalten konnten. Aber auch die Mütter derer, die eines normalen Todes gestorben sind: von Panzern überrollt, aus Eifersucht erschossen, versehentlich umgelegt, ausgeraubt und danach erschlagen. Und auch die Mütter derer, die eines völlig unnormalen Todes gestorben sind: an einer Krankheit, an einem Verkehrsunfall, aus Liebeskummer an gebrochenem Herzen.
Sie alle treffen sich auf dem Marktplatz, setzen sich im Kreis auf die heißen Steine, in die brennende Mittagssonne und rufen die Namen ihrer toten Söhne. Kein Wort sonst. Sie begrüßen sich nicht, sie verabschieden sich nicht. Sie tauschen keine Getränke, keine Geschenke und keine Neuigkeiten aus. Was gäbe es auch für Neuigkeiten, die wichtiger wären als der Tod der Söhne.
Einige Frauen haben bereits mehrmals miteinander in diesem Kreis gesessen. Aber auch zwischen ihnen gibt es keine Vertraulichkeit, wenigstens nicht hier auf dem Marktplatz am 13. Rabi` al-Thani.
Sie rufen die Namen ihrer Söhne vom Mittag bis zum Sonnenuntergang. Wenn gleich immer einmal eine Stimme ausfällt, ganz stumm ist es nie in dem Kreis. Eine Mutter hat immer Kraft genug zum Rufen. So sind am Abend die Namen den Häusern eingeschrien, wenigstens ihren dem Marktplatz zugewandten Seiten. Und wenn die Häuser irgendwann abgebrochen und die Steine anderswo eingebaut werden, sind auch die neuen Mauern mit den Schreien der Mütter gefüllt.
Aber davon wissen die Mütter nichts. Sie rufen nicht, um die Namen der Söhne zu verewigen. Sie rufen, weil sie sonst qualvoll ersticken müssten. Noch nie ist eine von ihnen zwischen dem Tod des Sohnes und dem 13. Rabi´ al Thani gestorben. Erst danach können sie nach einem friedlichen Seufzer aufhören zu atmen.

„Hamid Skif, am 21. März 1951 als Mohamed Benmebkhout in Oran geboren, hat seine algerische Heimat verlassen müssen, um sein Leben zu retten. Ursprünglich war es nicht sein Erzählen, nicht seine Poesie, die ihn gefährdeten. Hamid Skif arbeitet zunächst als Journalist, schreibt über die Folter in algerischen Gefängnissen, gerät Anfang der Siebziger Jahre selbst in Haft, setzt, freigelassen, seine Arbeit in dem Sinne fort, in dem er Journalismus versteht: eine unvoreingenommene, unzensierte und für Menschenrechte engagierte, kritische Berichterstattung. Fünfzehn Jahre schreibt er für eine Presseagentur, gründet dann eine eigene Wochenzeitung, Perspectives, verantwortet als Generalsekretär die Tätigkeit der Vereinigung der Journalisten in Algerien und beobachtet den Stand der Meinungsfreiheit für die Liga der Journalisten des Maghreb ein Leben mit Reisen, Konferenzen, ein publizistisches Werk aus Reportagen, Essays, Meldungen. Aber dies ist nur die eine Seite von Hamid Skif: der politisch engagierte Intellektuelle. Die andere Seite hat nie die arabischen Märchen vergessen, die ihm seine Mutter erzählte, nie die tiefen Eindrücke der Natur, die Wüstenbilder, die Hoffnungen seiner Jugend. Gedichte entstehen, finden Eingang in Anthologien. Ein verletzlicher, poetischer Geist gerät da in Konfikt mit dem kämpferischen, analytischen; und Skif entscheidet sich lange Jahre für die äußere Wahrheit. Sie ist es, die ihm Mordanschläge einträgt, seine Frau und die vier Kinder in Lebensgefahr bringt. Es ist der Journalist Hamid Skif, der aus Algerien fliehen muss, als Fundamentalisten Bombenanschläge auf sein Haus und seine Redaktion verüben. Mit Freundeshilfe kann er sich und seine Familie nach Hamburg retten. Das war 1997.“ GERT HEIDENREICH für den PEN.


Das Gedicht "Der Baum" ist entnommen dem Band "Exile der Frühe. Gedichte. Briefe eines Abwesenden" von Hamid Skif, erschienen in der Edition Zeno im Manutius Verlag, Heidelberg 2005.