Mai-Nacht

Prosa

Autor:
Mechthild Curtius
 

Prosa

Mainacht Grenze

Nach der Maiennacht an der Grünen Grenze folgt für Jahrzehnte Gedächtnis-Loch, wie kamen wir von Helmstedt nach Bielefeld, irgendwas mit Eisenbahn, grauen Bahnhof, Trümmerfelder Leipzig und Bielefeld nicht zu unterscheiden, Unruhe und Angst ... Aufatmen. Helle Bilder. Haus weiß, Kartoffelgarten, Name Tiemann, Mädchen mit Korkenzieherlocken, die im Gesicht kitzeln, erstes tröstendes Erlebnis nach Verlust von allem. Das muss ich ihr lebenslang danken, will ich so gern, werde mich nicht flüchten in Arbeitssucht, sondern suchen den Sinn dieser Gegenwelt. Also auf und rück in die vierziger Jahre und weiter im Westfälischen: Umzug zu Ufflerbäumers …im oberen Teil des zweitgrößten Dorfes von Westfalen, das sich, länger noch als das größte, Brackwede, wehrte und dann doch Bielefeld wurde. Sowieso will ich für Nachkommen schreiben, auch ist das alles hier nicht verdichtet, das Vergnügen mäßig, muss schnell zu den neuen Erzählungen wechseln, z.B. neue Augen-Prosa schreiben von der Marburger Kauffrau in der Frankfurter Chirurgie, die vor fünf Jahren angefahren wurde, Kopf und Gesicht zertrümmert, da war das Auge nur eines von vielen, seitdem nichts als Operationen, die Versicherung erkennt nichts an, das ganze Leben einer Frau in mittlerem Alter reduziert auf Wiederherstellung des Früheren. Dabei diese gelassene humoristische Art: "Ich sehe von Ihnen nur irgendwie einen Hut, besser wäre Rot oder Blau". Alle möglichen Hiobsbotschaften, warum muss mich eine jüngere Kollegin aus dem Hessischen Rundfunk, damals fröhlich, nun psychotisch, angeblich alkoholkrank, anrufen, um vom Schlaganfall ihres Ex-Freundes in Shanghai zu berichten, er tut ihr nicht leid, nur sie sich, sie kenne, erlebe nur Schreckliches. Ich gebe mich distanziert, will sagen, das Gehirn filtert das Beste oder Schlechteste aus, verspreche mich und sage „das Gehirn foltert ...“.  Alle möglichen Studiengefährten sind in Kliniken, soeben lese ich, die zehn Jahre jüngere Romanistin Waltraut Gölter sei gestorben. Ich fürchte diese großen Bütten-papier-Briefe mit dem schwarzen Rand im Briefkasten. Diese Gegenwart meine ich nicht. Aus dem Tages-Ablauf; das macht die Wege vom Gedächtnis klarer. Nach Westfalen: Wir waren beim Umzug eine Familie von fünf Personen, der Vater war aus der Gefangenschaft heimgekommen, aus Colmar, daran hat er sich gern erinnert lebenslang, dort hatte er die Bibliothek geleitet und einige Bücher mitgebracht, Rarität waren sie 1947, ich fand den Koffer auf dem Dachboden, stieg durch die Luke im Neubau an den Bahngleisen.


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