Wald- und Wiesen-Kriminal

Prosa

Autor:
Mechthild Curtius
 

Prosa

Jagdszene aus Steiern

Das vergilbte Zeitungsblatt liegt als Beleg unter vielen alten gelben eingerissenen Schreibmaschinen-Akten mit Tinten- Handschriften: Jagd im Juni. Amtliche Nachrichten der Landeshauptmannschaft Steiermark, Jg. 1937. >Das Schlag- und Heckenbrennen verursacht ganz erhebliche Schäden sowohl an den Gelegen der Waldhühner als auch an den Bruten der kleinen Vogelwelt.< "Verordnungen für den hegenden Waidmann". Umweltschutz der Förster ist durchaus keine neue Einsicht. Gelegen kommt die Jagdsaison solchen, die Angriffswünsche hegen, und das hat mit dem freundlichen Hegen der Fortwirtschaft nichts zu tun. Erlegen kann einer bei solcher Gelegenheit nicht nur Füchse und Hasen, nach ihnen Flinte tiefhalten. Nach Flattertieren in den Lüften hoch hinaufschießen, da kommt ein Irrläufer schon einmal vor. Aus Versehen. Wer will das genau genug wissen.

Der Sohn des Jägers will mit aller Schießerei nichts zu schaffen haben. Wie meist sind es die selbständigsten Köpfe, die ihren eigenen Weg wollen, anders als Väter und Mütter. Forstmeister Grammlschnigg weiß ganz genau, was ein richtiges Mädel und was einer richtiger Bub ist. Und mit welchen Sachen jeder zu spielen hat gefälligst. Tochter und Sohn spielen gemeinsam mit ihren Kaschperlpuppen. Zarte Gesichter wie die haben sie, zufällig oder nicht. Die Tochter wie Gretl unter blondem Schopf, der Sohn wie Kaschperl. Hat nur keine rote spitze lange Mütze. Wie Hänsel und Gretl fahren die Zwillinge mit dem Schulbus aus dem Bergdorf ins Tal. Die hohen Berge, bisweilen mit Tannen wie Schwarzwald, bald kahl wie Cevennen, tiefe Schluchten, immer flacher, an weißlichen Feldwegen vorbei, bis zum Städtchen im Tal. Da liegen die fruchtduftenden reifen grüngelbgestreiften und orangengelben Kürbisse, teils matschig faulend und stinkend, die letzten gelben Zweitblüten fallen auf den braungepflügten Äckern auf, in die sich die Ranken ringeln, Zuckerrübenhaufen, Kamillenreste, hinter der Senfsaat gelbgrün beginnen die Gärtnereien, recht neuer Erwerbszweig, Baumschul-Gärtnereien mit ornamentalen Pflanzen, heißt das, kleine Zypressen wie im Barock- und Rokokogarten, gedreht wie Spiralen, Buchs oder Lebensbaum runde Kugeln auf dünnen Stämmen, auch Weihnachtstannen wohl, viele Bäume und Sträucher mal auf Höhe, mal auf Breite gezüchtet. Dekorativ, aber meist ohne Blüten. Umleitung an der alten Brücke, dort wird eine riesige Stauanlage gebaut in grünem Metall, Bagger im Matsch, alte Männer sitzen und gucken zu, soll Erholungspark mit See werden, Bauernhöfe abgerissen dafür.

Nicht jeder trägt das mit Fassung. Geldgierige Verräter schilt der Schwippschwager des Grammlschnigg alle Bauern, die bereitwillig ihre Höfe verhökert haben, die ebenso viele Generationen lang in der Familie waren wie seiner. Was er Übertriebenes getan hat, aus Verzweiflung närrisch, glaubt den Zeitungen keiner und die Leser glauben vieles. Seine Familie im Hof eingesperrt, als sie die Talsenke geflutet haben, die haben sich dann doch aus den Fenstern gelehnt und retten lassen, er selbst hat bis zuletzt auf dem Dachfirst gesessen, vom Hubschrauber aus haben sie den Strampelnden gepackt und wider seinen Willen gerettet. Er gehört nach Steinhof, sagen alle, soll er mit den anderen Narren lärmen, und nicht sie alle narrisch machen. Er hält inzwischen überhaupt einen jeden für seinen Feind und Verfolger, wittert Verschwörungen wo immer er geht und steht, er ist überall auf seinen lautlosen Turnschuhen. Auch die eigenen Kinder wurden zu Feinden, sein Sohn liebt die Tochter vom Berg, und weil sie früher sein Liebling war, fühlt er sich von ihr doppelt verraten. Manche sagen, ihr Sprung von der  Brücke in den neuen Stausee sei nicht freiwillig gewesen, zum Glück war gerade geflutet, sie hat darauf bestanden, dass sie für die Landesmeisterschaft trainiert habe. Alles sei ein Unfall gewesen! Alte Liebe rostet nicht so schnell, der Grammlschnigg-Bauer ist mal ein wichtiger Mann gewesen, viele verehren ihn immer noch, so leicht fährt man einem großen Mann nicht an den Karren, erklärt ihn schon gar nicht zum Narren; denn dann wären seine Anhänger ebensolche gewesen.

Neuerdings sitzt er auf dem Friedhof vor dem Mausoleum seiner Familie, großes Sippengrab, die jüngeren kann man in Porzellanmedaillons auf Fotografien vergleichen, immer wieder mal kühne Raubvogelnase, die kantige Kinnknochen, hängende Unterlippe, Raubvogelblick aus schräg von der Nasenwurzel nach unten laufenden Augen, keiner lächelt, nur das kleinen Gesicht einer gewissen Margarethe, und die hat das gleiche Madonnenköpfchen wie die junge Gretl vom Berg. Neben den schweren Bauernschädeln auf gedrungenen Leibern gibt es hierzulande immer wieder, aber selten, diesen zarten Typus, nach dem die Heiligenfiguren der Bildstöckl am Weg gestaltet sind, und die wiederum könnten junge Unterland-Bäuerinnen sein. Unten Tal. Breit links und rechts vom Strom. Oben Feld. Berg. Kart. Geröll. Forst.  

Wald. Er steht nicht schwarz und schweiget. Aus den Wiesen steigt Nebel. Rabenkrähen schreien furchterregend, einzeln laufend zwischen Spuren der Eggen im braunen Acker. Endlich fort mit den viel zu vielen Grün. Eintönig dustere Herbstfarbe. Umso farbiger leuchtet die Gruppe letzter Herbstblüten auf, zwischen klappernden Samenkapseln und verwelkten Blumen und braungerollten  Blättern, Eisenhut giftblau, Astern bischofsviolett, Cosmeablüten pergamentweiß, Rüsselblumen rot, finster wie das Kleid der Frau.

Ich hebe eine Blüte auf, die draufgefallen ist und nur auffällt, weil sie blass verwelkt. Es stinkt. Das merke ich, das merken wir, denn meinen Freund hole ich herbei, als ich fünf Schritte weiter bin, den Augen nicht trauen, habe ich zum erstenmal gemerkt, ist kein dummes Wort, ich erlebe es, erlebte es, in den wenigen Sekunden. Gefunden. Merkt nicht gleich, weil nicht erwartet. Denn um die letzten Herbstpflanzen zu sehen, sind wir ins Tal gegangen. Menschenleer. Leise. Bis auf die Krächzkrähen. Leise ja. Friedlich nicht. Und es stimmt das Gerücht, dass Riechen intensiver ist. Erinnern über die Nase. Und seien Sekunden vergangen. Immer der Nase nach. Der Nase folgen. Zurück. Wir stehen. Wir sehen. Zu Zweit. Kein rotes Kleid. Erdbraunes Kleid. Mit wenig Weiß. Und Blumenblau.