Monatskolumne
Schicksal eines Hustenden
Ich preßte meinen unbekleideten Oberkörper an eine Platte. Sie war Teil eines Röntgenapparats in der Poliklinik am Reileck, kurz, Poli-Reil genannt. In dieser Position wollte ich mir nicht bewußt machen, welches Organ damit schon durchleuchtet worden war. Es ist zu wünschen, daß die Platte nach jeder Aufnahme mit einem antibakteriellen Tuch abgewischt wird. Besonders nach der adipösen Frau, die kurz vor mir dran war. Vorher hatte ich zwei Stunden meines gefährdeten Lebens im Warteraum verbracht und einen Querschnitt von Halles Versehrtenpopulation sehr nah an mich herankommen lassen müssen. Wir teilten das Leid, die verbrauchte Atemluft und keiner von uns hatte Ähnlichkeit mit jemandem, dem es nur vorübergehend schlecht geht. Ob gehhilfengestützte Alte, dicke minderjährige Mütter, malade Migranten, ein Lyriker, der auch Kolumnen schreibt – es war deprimierend. Und dazwischen ein Mann im Rollstuhl mit speckigem Basecap auf dem Kopf, das verbliebene Bein steckte in einer Trainingshose. Leer baumelte der rechte Hosenschlauch herunter und mündete in einen Knoten. Raucherbein oder Zucker fragte ich mich, während der Mann zum wiederholten Mal hinaus auf den Innenhof rollte, wo ein hüfthoher, aus seiner Perspektive brusthoher Aschenbecher stand, um sich eine anzuzünden. Nach dem ersten Zug hustete er heftig, ich hustete mit ihm. Und je länger ich ihm zusah, desto häufiger hustete ich. Ich hustete, obwohl ich nicht rauche. Das heißt, ich rauche nur ab und zu mal eine, oder auch mal zwei bis maximal zehn am Abend, wenn ich jemanden überzeugen kann, mir welche abzugeben. Und doch, die könnten schon zuviel gewesen sein. Ich hustete seit über drei Wochen. Solange habe ich noch nie in meinem Leben gehustet. Mir ging es wirklich nicht gut.
„Bleiben sie bitte so stehen. Atmen sie tief ein und halten sie die Luft an.“ Dann verschwand die Röntgenschwester aus meinem Sichtfeld. Es brummte und ratterte kurz. Sie tauchte wieder auf und nahm mir die Bleischürze ab, die sie mir vor dem Röntgen um die Lenden gelegt hatte, wahrscheinlich um meine Zeugungsfähigkeit zu schützen (als ob ich jemals Wert darauf gelegt hätte). Ich solle mich anziehen und im Flur warten. Sie müsse noch überprüfen, ob die Aufnahme technisch in Ordnung sei. Dieser Ausdruck verfolgte mich. Technisch in Ordnung konnte auch eine Selbstschußanlage sein oder die Abbildung eines faustgroßen Lungentumors. Eine magere Frau, die nach irgendeinem gängigen Endstadium aussah, wartete ebenfalls im Flur. Dafür, daß sie so aussah, sah sie eigentlich noch ganz gut aus, dachte ich. Nach wenigen Minuten öffnete sich die Tür. Ich warf einen ängstlichen Blick auf die Röntgenaufnahme, die die Schwester in den Händen hielt. Sie habe nichts zu beanstanden, sagte sie, was natürlich nur mit ihrer verengten technischen Sichtweise zu tun hatte. Die magere Frau strich sich ein paar Strähnen ihres langen Haares hinter ein mir nun doch etwas überdimensioniert groß erscheinendes Ohr. Ich lief durch den langen Flur zurück in den Warteraum. Und das habe ich auch nicht verstanden. Warum muß man beim Hinausgehen auf einen Knopf drücken, damit sich die Tür öffnet, obwohl sie sich beim Hineingehen automatisch geöffnet hat. Die Krankheitskeime an den Fingern nehmen doch in der Zwischenzeit nicht ab. Ich holte ein Tempotaschentuch hervor, drückte damit auf den Knopf und ließ es anschließend in Ermangelung eines Papierkorbs wie aus Versehen fallen.
Meine Ärztin hatte mir also endlich Antibiotika verschrieben, mich zum Röntgen geschickt, Blut abgenommen, und nun sollte ich noch eine Woche lang auf die Interpretation meines Innenlebens warten. Sie hatte mich auch nach dem Aussehen meines Sputums gefragt. Bedauerlicherweise habe ich es keiner genaueren Betrachtung unterzogen, sondern unbesehen hinuntergeschluckt. Mein Interesse für Sputum hält sich nämlich in Grenzen. Ich muß sogar sagen, daß ich gegenüber meinem Sputum bisher regelrecht ignorant war. Ich würde ihm von nun an mehr Aufmerksamkeit schenken. Abends, bei einem Glas Wein, saß ich neben meiner katholischen Freundin auf der Couch und legte mir die Hand auf die Brust (sonst tat ich das eher bei ihr). Sobald ich hustete, verzog sich mein Gesicht zu einer Leidensmiene, die bis zur nächsten Eruption anhielt. In ein bereitgehaltenes Tempotaschentuch verbrachte ich das aus den Tiefen der Bronchien ins Freie strebende Sputum und unterzog es einer eingehenden Betrachtung. Sie wollte keinen Blick darauf werfen. Ich blieb mit meiner Deutung allein.
„Guck dir an, wie grün das ist. Oh Gott.“
„Du hast bloß eine Erkältung.“
„Was heißt bloß? Guck es dir wenigstens an.“
„Hör auf, das ist eklig.“
„Aber es muß untersucht werden. Ich huste seit Wochen. Ich meine, da funktioniert was nicht mit meinem Immunsystem.“.
„Ach du mein kleiner Immunschwächling.“
„Siehst’e, nicht mal ernst genommen werde ich.“
„Doch, ich nehme dich ernst. Könntest du aber vorher dein Sputum aus dem Wohnzimmer entfernen.“
Einige Tage später ging ich zur Praxis. Die Sonne schien. Fröhliche Menschen kamen mir entgegen. Was hatte ich noch mit ihnen gemein? Ich fühlte mich wie Camus Fremder am Schluß des Romans (Wie schon in der Aprilkolumne Jean Paul Sartre, so erwähne ich in dieser Albert Camus, und alles nur, um dem anspruchsvollen Leser ein zusätzliches Vergnügen zu bereiten, was er hoffentlich zu schätzen weiß!).
Geh davon aus, daß es bösartig ist, dachte ich. Erst wenn du völlig davon überzeugt bist, erlaube dir den Gedanken, daß du noch mal davonkommst. Aber nein. Diese wahnsinnige Freude, die mir nun in die Augen stieg, ich durfte sie mir unmöglich erlauben. Am schlimmsten aber war die Ungewißheit. Ich hatte Husten, aber keiner konnte mir sagen, warum. Alle machten sich bloß lustig. Behaupteten, ich sei hypochondrisch und hätte nur ein bißchen Husten. Nach kurzer Wartezeit rief mich die Ärztin herein. Und dann die große Erleichterung, ich hatte tatsächlich eine ernstzunehmende Krankheit. In meinem Blutbild waren Antikörper gegen Keuchhusten nachgewiesen worden. Ich freute mich schon auf den ehrlich besorgten Blick meiner Freundin, einen Tee, den sie mir an das Bett bringen würde, obwohl es mir ja schon wieder ziemlich gut ging. Ich hustete kaum noch, und außer Husten, hatte ich ja auch nichts weiter gehabt. Aber darum geht es nicht. Man möchte mit seiner Krankheit ernstgenommen und als Kranker respektiert sein. Darauf durfte ich nun hoffen.
Warnhinweis:
Wenn man Keuchhusten hat, sollte man sich nicht über Kinderwagen beugen oder schwangere Frauen umarmen oder sein Sputum in der Nähe eines Kinderspielplatzes ausspeien. Außer, man kann Kinder nicht leiden. Bei Erwachsenen wird Keuchhusten selten erkannt und zeigt nicht die typischen Symptome wie bei Kindern. So kommt es, das vermeintlich harmlos vor sich hin hüstelnde Großmütter ihre Enkel anstecken, was unter Umständen tödlich für dieselben endet. Und dann will es wieder keiner gewesen sein.