Lore an der langen Leine. Politiker-Porträt

Prosa

Autor:
Mechthild Curtius
 

Prosa

Wer hat noch gesagt, dass die Männer der Macht lausige Liebhaber sind?

Sommerweiden und darauf ein Landwirt bei der Heuernte, neben dem Mann auf dem Traktor lacht ein Frauengesicht, breiter noch als sein derber Kopf, dabei fragil wie die Porzellanpuppen unserer Urgroßmütter. In ihrer Rüschenbluse über dem Dirndl stakst eine Frau mittleren Alters zu den Raffzähnen des Heuwenders. Schwabenland, Sachsenland, nur die Maschinen der Ernten waren damals anders.

Vom anhaltenden Bonner Glanz geht der Erinnerungsfilm mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Die Porzellanpuppe ohne Glasaugen hatte der schwarze Ledersoldat dem Mädchen Lore aus den Händen gerissen, erst sie, dann die Nachbarin und dann die Mutter auf die Erde geschmissen, wahllos zwischen Gräser und Steine, dunkel wird es danach immer, wenn sich die Alpträume aufdrängen, seit einem halben Jahrhundert konstant. Und dann wird es immer wieder hell, alles vorher vergessen, die Männer sind fort, von den Frauen bleibt ein hohes Wimmern im Ohr, den ganzen Tag. Bis zum nächsten Traum.

Seit es wieder hell wurde, damals in Sachsen, vor gut einem halben Jahrhundert, hinkt sie ein wenig, manchmal mehr, manchmal weniger. Denn Lores Rücken hält das Erdgefühl fest für immer und ewig, als harten Schmerz; wenn ER zu seinen seltenen Heim-Gastspielen da ist, am schlimmsten. Oder wenn er wieder anruft mit dieser zischenden Stimme - wie er das macht, dabei fettig zu grollen, wie er das macht bei seinem Gewicht, auch noch bubenartig zu schmollen, damit sie nicht schmollt - wie er das macht, dass sie sich schuldig fühlt, wenn er absagt. Dann tut der Rücken unstillbar weh und sie hinkt weg vom Telefon, jedes Mal ein bisschen härter, und seit einiger Zeit schlägt das zu wie ein Hammer, meint am Ende nicht sie selbst, wenn es sie durchzuckt wie elektrischer Strom.

In seine süddeutsch singende Stimme hatte sie sich als Studentin verliebt, weil die ein bissel heimatlich sächsisch geklungen hat zwischen den harten norddeutschen Lauten. Sie hört sie seitdem bei Familienfesten.  >Hatches, matches and dispatches< nennt die Times, die er sich vorlesen und übersetzen lässt, derlei Familien-Anzeigen: Geburt, Beerdigung. Heirat. Zur Hochzeit ihres ältesten Sohnes hat Hannelore den Ehrensitz gehabt, neben dem Bräutigam, ihr Stuhl war rosenumkränzt. Seine Rede hat vor allem dem Dank an seine liebe Mutter gegolten. Die neue Schwiegertochter kommt nicht zum nächsten Familienfest, einer Beerdigung, sie habe noch nie einen Toten gesehen und zuviel Furcht.

>Tote - bricht es aus Hannelore heraus - habe ich als Kind alle Tage gesehen, berührt, beerdigt, im Kriegshilfedienst mit Mutter und Schwester nahe Leipzig in der Döbelner Heide, der Sand war leicht wegzuschaufeln, aber drunter war es im Winter hartgefroren, ebenso eisig wie die Kinder, die erfroren sind. Die Mütter, verhungert, konnten wir Zehnjährigen heben, so leicht. Haben sie eingegraben, nichts als Haut und Knochen, oft gebrochen, die Haut blau und blasig. Wir konnten uns leidlich ernähren, weil uns manchmal einer der Bauern im Kohrener Land eine Tasche voll Kartoffeln zusteckte und murmelte, darf keener wissen, sonst kommense alle. Im Schuppen von Glücks Gemüsegasthof haben wir gehaust und sind früh raus auf die Felder, haben Nelkenstöcke angebunden, die dann doch die Bombensplitter zerschlugen, die Splitter haben die Jungens gesucht und damit gespielt, wir Mädchen haben uns rote und weiße Nelken in die Haare gesteckt, meine sind damals noch dunkelblond, fast braun gewesen, da gab das einen guten Kontrast. Wer denkt, dass man in Kriegen allezeit leidet, der irrt sich. Mit Selbstverständlichkeit haben wir mit dem Zeug gespielt, ein Kind denkt ja, das geht gar nicht anders. Jede neue Kartoffel war ein Fest, mehlig und mit bisschen Griebenfett aus Schweineschwarten und Mehlbrei gegessen, Saft aus den wurmigen Chausseen-Äpfeln mit Wasser verdünnt. Denn die Alleen, die hat es auch damals in Sachsen gegeben. Am schlimmsten waren mir die offenen Augen der Gleichaltrigen., Einmal ein erschlagener Junge, an den hat mich später der Helmut erinnert, nie hätte ich es ihm sagen dürfen; wie Krieg wirklich aussieht, will er nicht wissen. Dass er so etwas Zartes im Gesicht haben konnte, als sehr junger Student, das glaubt mir keiner. In einem Heiligenschein aus Blut und Hirnmasse hatte das Köpfchen des kleinen Kindes gelegen, so schief; heute weiß ich, dass die Halswirbelsäule zerknickt gewesen sein muss, und das hat wie ein Hilfeheischen gewirkt. Ich habe ihm geholfen und das Köpfchen geradegerückt, da hat es geknirscht. Und immer, wenn es besonders schön war zwischen dem Helmut und mir, da hab ich das Knickknack-Geräusch erst wegschieben müssen, damit es nicht stört und er sagt, sei net sso frikite, Lorle. Erst Jahrzehnte später hab ich das nicht mehr für Rücksicht und Liebe gehalten. Und nicht mehr geglaubt, dass aus der Wäscheleine was wird. Nämlich, hat er gesagt, damit du net alloi bischt, mache merrs sso: wir ziehn eine Leine und von jeder Reise bekommscht eine Postkart’, dann sind merr verbunden und du weißt alleweil, wo isch bin.

Zuversichtlich hat sie gedacht, wenn er kein berühmter Mann mehr ist, werd ich ihn haben für mich. Gut wird es sein, und ich warte. Wer hoch steigt wie er, er allein, fällt umso tiefer. Wenn er eine Schuld auf sich lädt, da habe ich alle Schuld mit abbekommen, ich gehe lieber nicht mehr unter die Leute, und damit ich es wirklich nicht tu und mich von ihm nicht bereden lasse, packt mich die Sonnenkrankheit und hält mich daheim in verdunkelten Räumen. Eine hartgesottene Leichengräberin war ich als Leipziger Kindel, durchhaltendes Prominentengesindel als Frau. Jetzt weiß ich, dass die Postkartenleine kein roter Faden unserer Liebe gewesen ist, der uns nach seiner Karrière  in glückliche Zweisamkeit führen wird, sondern schiere Beschwichtigung: sein Gewissen war rein, so konnte er ohne mich rund um den Globus jetten und fliegen und schalten und walten und tun und lassen. Andere Leute, andere Länder, andere Ausgaben ohne mich, andere Freunde - andere Freundinnen auch, nicht sehr viel, denn der Rede wert ist seine Leidenschaftlichkeit nicht. Wer hat noch gesagt, dass die Männer der Macht lausige Liebhaber sind?

(Schweizer Literaturpreis 2004)
© Curtius & Hauke: Wörter Curtius % Bilder Hauke. Bei Texte & Bilder