Gretchentragödie in Dalwigkstruth

Prosa

Autor:
Mechthild Curtius
 

Prosa

Gretchentragödie in Dalwigkstruth. WaldundwiesenKrimi

Bei Regen Richtung Lichtenfels: das sind sechzehn Gemeinden in der Waldecker Schweiz, so nennen sie überall schöne, waldreiche Gegenden, mit etwas Weinanbau gern Toskana. Dalwigkstruth suche ich, aber das war in meiner Geschichte umgedichtet. Wir finden Dalwigkthal und im Tal neben dem krummen Bach unter Kopfweiden eine winzige Kirche, darum herum lauter Grabstätten derer von Dalwigk. Die ältesten liegend, vier weiße Marmorplatten auf grauem Granit direkt vor der  Kirchenmauer, Richtung Ausgang stehende Grabstelen, alte und neue, zwischen 1800 und 2004. Der graue Landmann vom Gut nebenan hält seinen Trecker an. Wat wollt ihr? fragt er so ähnlich westfälisch platt wie in meiner Schulheimat in Ostwestfalen. Er will uns weismachen, dass sich die nordhessisch-waldeckschen Ritter bis heute treffen! Auf der Suche nach der keineswegs verlorenen Zeit unserer schönen Fernsehfilmdrehreisen. Zu in Hessen vergessenen dingen und Menschen, im Nordwesten ragt Hessen ins Westfälische hinein, heißt Upland. Up ist obendrauf.

Dort gibt es zwischen Kuhweiden und Stauseen romanische Kirchen, manch kleine Basilika so wie in Südfrankreich. Immighausens hat eine der vielen Staffelkirchen, am Hang in drei Treppen geht auch das Dach, seitlich hinter dem Zaun vom Hühnerhof mit buntem Gockel schön zu erkennen, vorn treppauf, die Steinwand ist mit rotem Wein überwuchert, geschlossen. Straßen still, Höfe aus Fachwerk teils verfallend. In Sachsenberg geht es durch ein Tor aus schwarzem Holz, vor Diemel-Deelentoren lagert Gerümpel. Die große Kirche ist offen, Organist Engel in grünem Sacco erklärt den Jost Schilling Altar. Wo ist die gotische Lindenholz-Madonna, die war auch in unserem Film? Sie wurde an ein Berliner Museum verkauft, um das Geld für das neue Kirchendach zu haben.

Herr Engel war Lehrer. Er erklärt gern: Im weiten Hochland gab es Eisenfunde, folglich Eisengießereien, die schwarzgrauen Gußeisenöfen wurden mit biblischen Motiven geschmückt, und für diese Reliefs haben die "Formensnider" Holzmodeln geschnitzt. Manche beherrschten ihr Handwerk so gut, dass sie ihre Dorfkirchen gestalten konnten, haben Altäre und Kanzeln geschnitzt, die Dorfmalermeister haben die Holzreliefs bunt bemalt. Wir dürfen den Brützel-Altar-Aufsatz und die Schilling-Kanzel fotografieren, die mit den Pausbacken-Kariatyden, die Körbe mit Früchten auf ihren Kringellocken tragen. Fürstenbergs Kirche liegt auf dem Hügel, die junge Küsterin Pohlmann schließt auf, bringt zwei Blumenvasen mit Fetthennen-Blüten und stellt sie auf den Altar, sie war Prokuristin in Frankfurt, hat nun einen Blumenladen hier, Großvater und Vater waren schon Küster. Genau schildern, bis sich der Hinterstirnfilm abhebt und eine WaldundWiesen-Erzählung entsteht, wie von allein:

Gretchentragödie Dalwigkstruth

Osterwoche und trotzdem Schneeregen. Die Straße ist leer bis auf drei spielende rotznasige Kinder mit dicken Locken über pausbackigen Gesichtern, die mehr breit sind als hoch. Der alte Pfarrer schließt sein Butzkirchlein auf: Holzbalken außen, Holzbänke, Holz-Emporen, Holzkanzel, Holzaltar mit gedrehten Säulen, die wurmstichig sind. Und die Engelköpfe am Kanzelkorb haben die gleichen Locken über rotwangigen Gesichtern wie die am Kirchplatz spielenden Kinder. "Schweiz" wird die Gegend wegen ihrer grüne Höhen genannt, vom Orketal hügelwärts, von der Burg Lichtenfeld überragt, nicht die sächsische und die lippische nicht, die Waldeckische Schweiz. Hessisch sprechen sie südwärts; ab Sachsenberg, wo der Widukind war, wird es Waldeckisch Plattdeutsch, dem Westfälischplatt ähnlich. Der Ort ist klein und doch nicht nur dörflich, eher eine winzige Stadt. Deelentore stehen wie in Westfalen, die Hölzer mancher Fachwerkwände als Eckpfosten von Durchbögen unter den 'Spychern', wo der Zehnte für die Fürsten gelagert hat dereinst. Die hüttenhohen Erntefuder fuhren zum Ausladen unmittelbar unter die Luken der Obergeschosse. "Südlich im Burgwald, nahe Marburg, sind Scheunentore von Altanen aus graugewordenen Holzbrettern überdacht zum gleichen Zweck, achten Sie drauf, wenn Sie hinkommen." Erklärt Landwirt Jerentrup, steht vorm bemalten Tor, schmaucht die Piep wie son Bielefelder Kiepenkerl, hat einen blauen Kittel mit Stehbörtchen an, wie sie die Männer der Trachtengruppen nur noch zu Volkstänzen tragen.

Pfarrer und Pfarrerin Lilienfeld, beide jung, wohnen in dem zweihundert Jahre alten Fachwerkpfarrhaus.Ihre Kinder haben es gut, können Rädchen fahren auf dem Kiesweg, spielen im großen Pfarrgarten, durch das Tor hinter die Steinmauer unmittelbar in den Kirchgarten laufen, um die alte Linde herumrennen, die höher ist als die Kirche. Cornelius nuckelt am Lutscher, Johannes rennt über den Dorfweg hinunter und über die Wiese jenseits des Dorfrandes unter die Buchen und pflückt Buschwindröschen. "Weiße Sterne, guck mal." In die Kirche folgt die vierjährige Antonia dem Vater Pfarrer und trällert ein Kirchenlied vor sich hin.  - "Sorglos, eine andere Welt, so dicht an Frankfurt." - "Nun ja, heile Welt, sei es drum", antwortet Pastor Lilienfeld zögernd. "Meine schlichten Kirchenkanzeln vom Dorfschnitzer Schilling und die prächtigen Kanzelaltäre vom Barockmeister Brützel wollen Sie sehen, darum sind Sie hier. Haben Sie etwas mehr Zeit? Kommen Sie mit. Hausbesuche zu machen. Kunst und Seelsorge, verbinden wir beides."

Der Pfarrer fährt zunächst einmal südwärts ins Marburger Land. Verwandt fühlt er sich mit dem Barockschnitzermeister. Seine Ur-Großmutter sei eine gebürtige Brützel gewesen. Den Namen gebe es, in allerlei Variationen, Bürtzel, Brützel, Prüzel und Pruetzel, öfters im Waldeckerland. Die derben Breitkopfengel habe der Schilling gemacht, die Birnenköpfler der Josias Wolrad Brützel. Im Geburtsjahr des Johann Sebastian Bach habe er in Unterrosphe die bewunderte Jonas-Kanzel gebaut. Erlöser- und Auferstehungssymbole sind der Pelikan als Schalldeckelkrone, die Granatäpfel am Kanzelkorb und der Walfisch als Korbträger. In seinem aufgerissenen roten Rachen kniet Jonas. Hohe Stirnen zu aufgeblasenen Backen formen Engelgesichter wie Birnen. Rar seien sie zwar im Marburger Land. Doch fährt man nordwärts nach Waldeck, lassen sich Brützels Schnitzarbeiten leicht finden. Ein Forsythienstrauch blüht im Waldeckerland neben jeder grauen Kirchenmauer in der Woche nach Ostern, dem Schnee zum Trotz, der langsam wegtaut. Mehrere Kirchen betreut jeder Pfarrer, Kirchspiele.
 
Mit Petrusschlüsseln schließt Pfarrer Lilienfeld seine Dorfkirchen auf, Kirche auf, Kirche zu, Niederschweinstruths ist größer, Hinterorkes kleiner und Dalwigkstruths am kleinsten. In ein Bauernhaus rein, aus einem Reihenhaus raus, Guten Tag und auf Wiedersehen. In Wohnstuben an schwarzen Ofenplatten und an Kanzeln in Kirchen aus Holz geschnitzt, bunt bemalt, sehe ich Gesichter wie die der Dorfstraßenkinder: die harten 'Dauer-Wellen' über Breitschädeln, Engelköpfe aus Holz geschnitzt und in Eisen gegossen: nämlich nach den Holzmodeln dieses Dorfschreiners Jost Schilling, der im Jahrhundert von Dreißigjährigem Krieg und Reformationszeit, Renaissance, ein berühmter "Formschnider" war, für Gusseisen-Erzeugnisse hessischer und waldeckscher Eisenhütten, für Ofenplatten vor allem. In Eisen und Holz hat er selbstbewusst signiert: "Jost Scillink aus Immekhausen". Sein Heimatdorf Immighausen, in dem mehrere Bildschnitzer waren, ein wahres Nest einfallsreicher Dorfschreiner, und die anderen Nester mit ihren Altären und Kanzeln will ich suchen und sehen.  Durch Immighausen gehen wir, als es aufklart und der Wind den Himmel blau wie Metall fegt. Neue Halme erhellen die vom langen Winter ausgelaugte Wiese, mittendurch strudelt krumm der Bach. Im Garten stehen Keramikzwerge mit schartigen rotverblassten Zipfelmützen, über ihnen baumeln orangerote Kaiserkronglocken.

Der Hof verfällt, die Malereien verblassen, die als Eckauszier geschnitzten Breitkopfengel haben Wind und Wurm Stupsnasen und Locken angenagt. In das grob getöpferte Schild an der Tür ist der Name Schilling eingeritzt. Schillings heißen hier heute noch viele, erklärt der Pfarrer, und viele sehen seinen Schnitz-Engeln ähnlich: breite Köpfe, niedere Hälse, vorquellende Augen. In der Stube sm Gusseisenofen sitzt ein zitternder Mann. Kein Großvater, sieht man beim zweiten Blick. Jung, keine dreißig. Er zittert mit kleinem regelmäßigem Zucken, holzgeschnitzt sieht er aus, eine geschnitzte Figur, gerüttelt. Wunden heilt die Zeit, glaubt Pfarrer Lilienfeld, vor allem solche der Seele, hofft, dass das gütige Wort wie Handauflegen helfe. Seelsorgerfrage: "Und, Martin, du hast es wirklich alle die neun Monate nicht gemerkt?" - "Danach gemerkt am Geruch von fauligem Fleisch.." - Landwirt Schillings stetiges Zittern versetzt den Schaukelstuhl in winzige Bewegung mit wisperndem Knarren. Wir gehen, auf Zehenspitzen. Die Tür fällt ins Schloss hinter uns mit einem Laut, der dem Seufzen des Pfarrers ähnelt. Im Gehen erzählt er.

Gretchentragödien gebe es auch heutzutage in dörflichen Ehen. Solch einen neugeborenen Breitkopfengel hat dieser Mann vor zwei Jahren unter dem Kompost gefunden. Jenseits von Tal und Bach hat seine Frau Margret ihr Kind heimlich und allein entbunden, abgewürgt und in den Kompostmüll entsorgt. Nichts von der Schwangerschaft hat der Martin gemerkt, keiner im Dorf; ratlos ist er, wie alle im Ort, warum sie's verschwieg. Auf dem Feld hat er 'es' bemerkt, als er den Kompost verbrannte. "Es riecht wie Spanferkel", entgeistert und monoton sagt er das vor sich hin, jedes Mal, wenn ihn der Pfarrer besucht. Seit diesem Fund hat der kräftige Bauer keine Hand mehr gerührt, nichts mehr gesagt.

 

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