Prosa
Porentief
Meist wird sie zuerst wach. Heute und hier weiß sie sekundenlang nicht, wo sie ist. Sie dreht den Kopf zum Mann an ihrer Seite, der graue Lichtstrahl fällt durch die Gardinenritze auf Augenfalten und Wucherwurz-Nase. Sie erschrickt. Zum Glück dreht er sich auf den Rücken. Sie studiert sein Gesicht von weit oben. Weiß er, dass sie ihn mit ihm selbst betrügt? Er schläft, sie schaut ihn an. Wenn das durch die Jahre lose gewordene Gewebe im Liegen zurückfällt, wird sein Gesicht jung; der Anblick gibt ihr erotischen Schwung, ihn anders als durch Worte zu wecken. Länger betrachten: bei ihm tritt das hagere Gesicht seines Jugendbildes zutage, betont die gewölbten Lider, lässt sie ans dämmernde Tageslicht treten, die erhöhten Backenknochen sich aus dem Wangenteig heben. Fällt Gewebe zurück, legt es die Gebeinstruktur frei. Die Geliebte sieht die straffe Maske eines jungen Männerkopfes. Geologie der Gesichtslandschaft im Morgengrauen. Diese Gefühls-Explosion - sie sucht nach einem Wort -, nicht so wild kommt sie daher wie alles bisher. Das war wie gewonnen, zerronnen, weg-getobt in wenigen Nächten.
Das neue Gespür ist nie da gewesen, und das macht ihr Angst. Da möchte sie hasenherzig in nüchterne Fakten fliehen. Im Hotelzimmer steht zum erstenmal auf dieser Reise ein französisches Bett. Im kleinen blauweißen Hotel an der Adriaküste. Frankreich in Stil und Küche zu imitieren ist den jungen Hotelbesitzern ein Anliegen. Un peu d'Antiquité färbt im ehemaligen Palazzo hinter den Lagunen das in den Hotels eintönig Gleiche. Alles und alle spielen hier eine Rolle. Die Adria spielt Atlantik, das Hotel mimt Frankreich, der Mann und die Frau, die sich seit sechs Tagen kennen, spielen ein langvertrautes Liebespaar.
Wasser und Wolken haben für sie etwas von erotischen Reizen. Zu Hause ist nur ein Wasserlauf, der die Metropole diagonal durchströmt. Breit genug, um am Nebelmorgen Seen und Meere zu suggerieren. Absichtlich ohne Brille. Vor Tau und Tag hinausstarren, bis auch die ersten Konturen verschwimmen, zu schnell wird es hell. Vom gläsernen Wintergarten aus sehen übernächtigte Pupillen über den breiten Fluss und werden von den spiegelnden Lichtreklamen geblendet. Nicht genug Wasser kann vor Augen sein, am besten das Meer, bis zum gewölbt scheinenden Horizont weit. Warum sind die optischen Illusionen verschieden. Konvex Wölbung aus grauem Wasser unter weißlichem Licht. Der Erdball spielt eine aufrecht gestellte Diskusscheibe. Seewasser das obere Segment, der Strand ist grau vor Schlamm. Wasser wird unter dem Gewitterhimmel grünlich transparent wie das vom Eismeer, Wolken sind wie weiße Wattefasern, im Firmament, Himmel, ist gasig, glasig, blasig keineswegs kompakt blau. Besessenheit, Wolkenbildungen zu verfolgen, vielmehr verfolgen sie aufmerksame Betrachter.
Das Wasser wiedersehen. Zurück zu den Anfängen der Liebesgeschichte; auf das Meer blicken, das Meer riechen und schmecken und Dunst im Sand spüren, vielleicht sich mit Fingern befühlen wie an ihrem ersten Tag, der sechs Tage her ist. Von wegen: faire l 'amour stehend im Sand. Betreten verboten. Die Wellen stehen nicht still. Noch dazu Naturschutz- gebiet voll seltener Wasservögel und Fische. Der Mann umfasst das Mädchen mit Blicken, wie sie hockt und den Sand durch die Finger laufen lässt, klein wie eines dieser bernsteingefangenen Insekten im Schmuck auf ihrer glänzenden Brusthaut, mückenklein ist sie selbst auf busiger Düne, von den streifenden Winden abgerundete Konturen, platinweiß und ebenso leuchtend unter dem Mittagslicht, zwei Sandberge laufen ineinander an der Basis, nackt bis auf Seegrasbüschel auf Kuppeln und in Kuhlen, Achselhaaren und Schamhaaren gleichend an einem liegenden Leib. Alles eigentlich 'weiblich', bis auf den abgestorbenen Baum, der, unter die rollenden Wellen geraten, erstickt ist. Aus dem hauthellen Sandgewölbe ragt er, ein wenig wippend im Wind, ein wenig auf die Wölbung zugeneigt, der Mann weiß schon, warum sie ihn anguckt und girrend lacht. "Denkst auch immer nur an das Eine". Wenn die Dünen weiterwandern, dann belebt sich der Boden hinter ihnen, darüber hinweg, Symbiosen werken und schaffen aus dem Toten; dieser Baumstamm belebte sich nicht. Doch, aber das sehen sie erst in der Nähe, da lehnt er sie an das sonnwarme Holz, das mehr nach Dachboden als nach Rinde duftet. Ein bisschen seltsam, nach Weihrauch. Fliegen rennen am Stamm rauf und runter. Mittagszeit, keiner kommt, sie sind allein. Liebe vertikal und dann horizontal wünscht sie, kreuz und quer, erst will er sich scheu entziehen, lächerlich sei Sex-Akrobatik. Dann denkt er berechnend: "Lust und Liebe, wenn er’s doch im Freien triebe” - ist bei ihr wohl nicht nur ein scherzender Reim. Wer nie im Freien Liebe machte, der weiß nicht, wie Ameisen beißen. Insekten sind von heißer Haut angezogen und von diesem kastaniensaftigen Duft milchiger Schleimhautsekrete. Und dass es sonderlich erotisch sei, hinzugleiten und hinein und vorher und nachher voller Sand zu sein, kann er auch nicht sagen, vor allem 'dabei ‘. Samenfäden fallen auf Sandkörner, vom Baum rollt vielleicht ein heißer Harztropfen drauf, wird in tausend Jahren im Bernstein erstarrt sein, verewigt, und als Schmuck am Busen einer Frau erwärmt, die sich wundern wird, welcher Fang des Harztropfens das wohl einmal war - war es Blüte, war’s Tier -, dieses Gewölk im Bernstein, seltsames Insekt. Sie schauen umher, Richtung Meer. Sandkorn sein. Schwarze Punkte, die sich bewegen, scheinen die Schiffe. Die Vögel fliegen in die Sonnenscheibe hinein. Wolkentapeten reißen und entlassen ihr Licht, diffuse Glasbilder verführen.
Späte Liebe sei beschrieben, weil nicht nur die Jungen lieben.
erschien als Originalbeitrag 2002 in "neue deutsche literatur", Aufbau Verlag