Die gute Lesung

Kurze essayistische Arbeit

Autor:
Ulrike Draesner
 

Kurze essayistische Arbeit

Die verbo(r)gene Stimme trifft Gedichte. Ulrike Draesner dehnt und biegt sich im Gedichtflusskabelrohr.

Januar 2012

Jeder kennt sie, jeder hat sie erlebt – auf oder vor der Bühne, oder als Veranstalter zwischen allen Stühlen. Für eine schlechte Lesung gibt es viele Gründe, sie ist kein Naturereignis: fehlende Werbung im Vorfeld, fast kein Publikum oder eines mit vollkommen anderen Erwartungen, der Veranstalter führt einen Autor ein, der man nicht ist („aber Sie haben ja gar keine schwarzen Haare!“), Hotel verfloht (dankenswerterweise handelte es sich um Hundeflöhe, die freiwillig
wieder verschwanden), Beleuchtung miserabel – wie jüngst, als ich vor 200 Schülern in einem Kino stand, auf der Kinobühne, die so gut wie nicht existierte, nämlich vor dem herabgelassenen starren Vorhang, und mir als einzige Beleuchtung die Filmscheinwerfer von unten blendendheiß ins Gesicht strahlten - die Liste wäre lang. Ich breche ab.

Denn all dies sind „nur“ Unwägbarkeiten, Misslichkeiten, Ärgernisse. Die Lesung, die ihnen folgt oder sich um sie rankt, misslingt nicht unbedingt, manchmal gerät gerade sie inspiriert, weil Trotz und Herausforderung ihr Wörtchen mitsprechen. Ich frage mich nach  der Kunst lauten literarischen Lesens eines eigenen Textes. Um dieser Kunst, die weder Rezitation noch Rhetorik ist, sicherlich keine Schauspielrede und bestimmt nicht „nur“ Interpretation eines unabhängig von ihr im Himmel der Originale hängenden Eigenoriginals, um dieser vernachlässigten, theoretisch kaum erfassten und praktisch nicht gerade oft besprochenen Kunst auf die Schliche zu kommen, mache ich die Gegenprobe: wann misslingt der Auftritt? Der – sollte sich verstehen - nicht nur die stimmliche Realisation des Gedichtes meint, sondern die gesamte körperliche Anwesenheit.

Nicht die spektakulär und offensichtlich (z.B. am Mikrofon) scheiternden Auftritte geben hierüber Aufschluss. Es geht um Peinlicheres: innere Missgeschicke und Fehlentscheidungen.

Im Januar 2007 sollte ich im Teatro piccolo in Mailand lesen. Der Vortrag war auf Deutsch geplant, es gab hervorragende Übersetzungen der Gedichte ins Italienische. Lange hatte ich mich auf den Abend gefreut, das Theater war, anders als sein Name vermuten ließ, keineswegs klein, die Stadt mild, nur ich – außer Façon. Kehlkopfentzündung, Sprechverbot. Das stumme Reisen klappte besser als erwartet: ich schaute grimmig, müde, verschwollen. Wortlos hielt ich meinen Pass hin, vergrub mich in ein Buch, deutete in Mailand auf Brötchen und Kaffee. Ich gab mich sprachdumm und kam durch. Am späten Nachmittag traf man sich im Theater, mein Programm war auf zehn Gedichte gekürzt, der Direktor des Hauses versuchte sein italienisch mit mir, französisch, englisch, gab mich als hoffnungslose Dichterin auf.

Vier Stunden später kam das erste Wort kaum, das zweite besser. Nach einem Vers hatte meine Stimme Klang, das war etwas wert. Sie war rau, tiefer als sonst, wurde aber im Lesen weicher. Ich las und verstummte, las wieder, zehn Mal.  

Ob eine Lesung glückt, spürt man auf der Bühne. Zum einen daran, wie das Publikum zuhört. Konzentriert von Anfang an, mit im Wort? Und daran, wie man selbst „dabei“ ist. Gelingt es mir, mich mit meiner Stimme in die Mitte des Tons des Gedichtes zu stellen? Treffe ich den Tonfluss, den Strom, das Kabel - jedenfalls etwas Strängiges, selbst Bewegtes und sich Bewegendes? Meine Stimme kann aus vielen Richtungen auf diesen „Strom“ zukommen - auch ich komme für die Lesung ja immer irgendwo her, habe vorher gesprochen oder doch gedacht und erlebt, bin jetzt. Und verlasse doch dieses Jetzt, um mit der Stimme wieder zu berühren, woraus das Gedicht entstand. Eigentlich paradox: Jetzt und Nichtjetzt. Eine Art Zeit-Raum, durch die eigene Person und Stimme aufgespannt. Das Ziel ist eine – Übersetzung.

Auch das mag paradox klingen: da steht das eigene Gedicht. Und man übersetzt es im Lesen? Ja. In diesen Raum, für diesen Augenblick. Aus der Schrift in Mündlichkeit. Aus dem Auge in Mund und Ohr. Die graphische Gestalt geht für das Publikum verloren, und damit der sekundenschnelle Bildblick auf das Gedicht, der in einem Länge, Form und Struktur erfasst. Dieser Auflösung steht auf ihre Weise die Stimme entgegen: sie kann Strukturen, Formen und innere Resonanzen eines Gedichtes „sichtbar“ machen, indem sie einen zeitlichen Bogen spannt. Der Vortrag macht die „Zeitlichkeit“ eines Textes fühlbar - seine Streckung und seinen Raum. Zuzuhören statt zu lesen bedeutet, die innere Wahrnehmung und das Ordnungsempfinden für Sprache – allemal ihre Rhythmik und ihren Klang - umzuschalten. Gefühle und Fühlbarkeiten folgen. Doch was für das Publikum gilt, gilt allemal für den Lesenden. Es ist ein großes Umschalten – in eine zweite Stimme, die spricht.

Ein Kollege erzählte mir vor kurzem, dass Physiker, die anfingen, über die Relativitätstheorie nachzudenken, ein einfaches Experiment machten. Mir schien es gleich mit Lesungen verbunden, weil es mit Atem, Ton und Frequenz zu tun hat. Wenn man ein Wort spricht, so die Physiker, kann man die Wellenspur dieses Wortes sichtbar machen, indem man es in einem Medium wie Nebel oder Eis aufzeichnet. An der Spur sieht man, wie Zeit und Raum sich verschränken, denn der Ablauf der Zeit wird im Raum anschaulich; das eine und das andere existieren nicht „sauber“ getrennt. Wie auch meine Tochter vor kurzem bemerkte, als ich sagte: „das ist noch länger so“, und sie, mit entnervtem Blick ob meiner Dummheit, antwortete: „Natürlich ist dieser Stift länger.“

Welche selbstverständliche Unselbstverständlichkeit (die Doppelbedeutung von „länger“ und „länger“ in unserer Sprache). Gedichte sind zeitintensiv - man nennt ihre Empfindlichkeit in dieser Hinsicht gemeinhin Rhythmus -, und daher auch raumintensiv. Der erste Raum, in dem sie sich zeigen, ist der Körperraum dessen, der spricht. Wie gelingt es dem Sprecher, zum Gedichtflusskabelrohr zu werden und jene Rauch- bzw. Frequenzspur, die es in den Raum zeichnet, nicht nur zu erzeugen, sondern auch zu bewahren – als ein Stück Zeit, die sich dehnt und um Ecken biegt.

In Mailand traf die verbo(r)gene Stimme – sie erschien als den Gedichten vorbehalten, exklusiv. Doch wurde hier nur „spektakulär“, was immer, auch bei jeder „normalen“ Lesung gilt: die Übersetzung des Textes in ein zeitaufhebendes Sprechen, das die beiden Entstehungen des Gedichtes, jene im Schreiben und jene im Augenblick eben dieses Auftrittes - wie lose und unterschiedlich auch immer - übereinanderlegt. Eben das ist normal. Und der besondere Reiz einer Lesung durch den Autor. Dessen normale Lesung gut sein sollte. Sein wird. Versteht sich!


Originalbeitrag