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Monatskolumne
Füßchentherapie
Februar 2012
Neulich hatte meine katholische Freundin einen Mittelfußbruch. Sie bekam einen Gips, zwei Krücken, die man jetzt Gehhilfen nennt, ein Rezept für Thrombosespritzen, eine Krankschreibung, die sich endlich mal lohnte, und einen Abrechnungsschein für den Taxifahrer, der uns in der nächsten Zeit zwischen Wohnung und Klinik hin und her chauffieren würde. Zum Glück passierte der Fußbruch während der Arbeit, das ist preiswerter, als wenn man sich in der Freizeit verletzt. Freizeitverletzungen werden ja von manchen Arbeitgebern wie Selbstverstümmelungen betrachtet. Die Notfallaufnahme hatte uns erneut mit der Tatsache konfrontiert, wie gefährlich es ist, zu arbeiten. Schon als Kind habe ich gedacht, damit fängst du am besten gar nicht erst an. Überall saßen Männer in blauen Overalls mit notdürftig verbundenen Gliedmaßen. An der Wand des fensterlosen Aufenthaltsraums hing ein Flachbildschirm, auf dem eine sedative Sendung des Privatfernsehens lief. Wir setzten uns direkt unter den Flachbildschirm, es waren die einzigen freien Plätze. Die Blicke der Versehrten gingen knapp über unsere Köpfe hinweg. Immer mal wieder wurde ein vor sich hin wimmernder Mensch vorbeigeschoben. Junge Medizinsklaven flitzten durch die Gänge. Dann von irgendwo ein Schrei, der für einen Moment die starr auf das Flachbild fixierten Blicke in Richtung Leidensbekundung lenkte. Irgendwann wurde meine Freundin aufgerufen. Sie saß, weil sie gar nicht mehr auftreten konnte, in einem Rollstuhl. Ich schob sie ins Behandlungszimmer, wo ich am liebsten anwesend geblieben wäre, um noch jene Nachfragen, die ich in ihrer Situation gestellt hätte, dem Arzt stellen zu können, und die meine Freundin aus mir unerfindlichen Gründen immer zu stellen unterläßt, sodaß ich sie im Anschluß nachdrücklich fragen mußte, wie man nur solche Fragen zu stellen unterlassen könne!
Zu Hause öffnete ich eine Flasche Rotwein, wir hatten was zu feiern. Meine Freundin durfte auf ärztliche Empfehlung die Beine hochlegen und ich bekam dann doch etwas mehr zu tun, als ich es mir zu diesem Zeitpunkt, da ich mit einem Glas Rotwein in der Hand versicherte, wie gut ich das alles hinkriegen würde, vorstellen konnte. Die erste Tat des nächsten Tages war, gegen 7:15, mit den Folgen einer Flasche Rotwein kämpfend, einigermaßen schnell aus dem Bett zu kommen, wir waren 8:30 zur Gipskontrolle bestellt. Punkt 8 hatten wir uns mit dem Taxifahrer verabredet. 7:45, ich brühte gerade einen Kaffee auf, klingelte der Taxifahrer. Es war, wie wir spätestens nach der dritten Verabredung mit dem Taxifahrer feststellen mußten, eine Eigenschaft dieses Taxifahrers, immer eine Viertelstunde eher aufzutauchen, sodaß ich mir jedesmal vornahm, ihn eine Viertelstunde später zu bestellen, wie man ja immer die Leute, die notorisch zu früh kommen müssen, eine Viertelstunde später bestellt, weil sie nicht begreifen, das Überpünktlichkeit auch nichts anderes ist als Unpünktlichkeit. Die Gehhilfe, falls man das, was man mit ihr tut, noch gehen nennen will, half nun meiner katholischen Freundin bei der einbeinigen bzw. dreibeinigen Fortbewegung. Stufe für Stufe bewegte sie sich das Treppenhaus hinunter, während ich mit ausgebreiteten Armen rückwärts vor meiner Freundin einherging, bereit, falls sie die Kontrolle über ihren wohlproportionierten Körper verlieren sollte, sie aufzufangen, obwohl ich mir jetzt, da ich mir diesen Vorgang noch mal vor Augen führe, nicht mehr sicher bin, ob es mir gelungen wäre. In einem solchen Moment ist es wohl besser, auszuweichen, damit wenigstens einer unverletzt bleibt, der sich um den andern kümmern kann.
Eine weitere Eigenschaft unseres Taxifahrers, deren wir nun ansichtig wurden, war, eine Grundübellaunigkeit auszustrahlen, wobei das Grundübel, wie mir schien, das Taxifahren selbst sein mußte, denn kaum jemand, der Taxi fährt, ist ja mit dem Wunsch ins Berufsleben getreten, Taxi zu fahren. So fanden wir heraus, daß er, während er mal stark beschleunigend, dann wieder scharf abbremsend sein Taxi durch den Stadtverkehr lenkte, ursprünglich Maler gewesen sei, aber Mitte der neunziger Jahre keine Arbeit mehr als Maler gefunden habe. Mit hoher Geschwindigkeit fuhr er nun auf einen Vordermann auf. Ob der noch mal aus dem Knick komme, rief der Taxifahrer und überholte. „So ein Trottel“, sagte der Taxifahrer, „ne Frau“, sagte der Taxifahrer, und dann sagte er vorerst nichts mehr, denn damit war alles gesagt. Und ich dachte, wie typisch doch dieser Taxifahrer sei, so typisch, daß man es schon längst nicht mehr so, wie es gewesen ist, aufschreiben könne, was ich sehr bedauerlich fand.
Daß der Umstand, sich um einen anderen Menschen zu kümmern, bei mir anscheinend ähnliche Gefühle hervorrief, wie bei unserem Taxifahrer das Taxifahren, war in den nächsten Wochen meines Pflegedienstes keine erfreuliche Erkenntnis für meine Freundin gewesen. Einerseits wollte ich ihr alles abnehmen, auch das, was sie noch selber hätte tun können, andererseits ließ ich es mir durch eine gewisse Gereiztheit anmerken, daß ich ihr am liebsten gar nichts mehr abgenommen, sondern mich nur noch vor den Computer gesetzt hätte. Selbstverständlich bereute ich es anschließend sehr, und versuchte durch übertriebene Umsorgung jene Gereiztheit schnell vergessen zu machen, wobei ich mich nun wieder in die Gereiztheit hineinumsorgte.
Der durchschnittliche Pflegedienstag begann damit, daß ich mit Hilfe eines heißen Milchkaffees versuchte, meine Freundin aus den komatösen Tiefen eines bis zu zehnstündigen Schlafes zu holen. Besonders im Winter zeigt sich bei ihr das Schlafverhalten eines wechselwarmen Lebewesens. Würde ich nicht mit dem Kaffee erscheinen und die Heizung aufdrehen, schliefe sie bis März und wachte gleichzeitig mit unserer Schildkröte auf. Der Duft des Kaffees ließ sie zumindest kurz die Augenlider heben. Die Augenlidermuskeln waren aber so erschlafft, daß sich die Lider gleich wieder senkten. Erst nach einigen Schlucken Kaffee und mehreren Minuten intensiver Augenlidergymnastik war ihr ein normaler Blick in die Welt möglich. Ich bereitete schon mal das Frühstück vor. Normalerweise frühstückten wir nur am Wochenende gemeinsam, jetzt jeden Tag, was uns vor gewisse Herausforderungen stellte. Ich höre nämlich zum Frühstück gern Deutschlandfunk, sie lieber Musik. Das Schöne an Deutschlandfunk ist jedoch, daß es dort sehr wenig Musik gibt. Das führte nun dazu, daß ich in der nächsten Zeit selten Deutschlandfunk hörte und sie kaum Musik. Meistens einigten wir uns darauf, nichts zu hören. Nichts ist etwas Wunderbares, es beruhigt ungemein. Vor allem mich, der ich in der letzten Zeit oft gereizt war, nicht zuletzt wegen akuten Deutschlandfunkmangels. Nach dem Frühstück machte sich mein geliebtes Einbein auf den Weg ins Wohnzimmer. Wie eine Ziege, die mit den Hörnern gegen die Stalltür stößt, um ins Freie zu kommen, stupste sie mit dem Kopf die Küchentür auf. Ein solcher Anblick entschädigt für vieles. Ich war gerührt und erheitert zugleich. Mit ihren Krücken hatte sie jedoch nicht nur Probleme beim Türenöffnen, sondern auch damit, ein Buch oder eine Tasse Tee von einem Raum in den anderen zu tragen. Das war nun mein Job. Ebenso der, einmal am Tag für eine warme Mahlzeit zu sorgen, einzukaufen und die Wäsche zu waschen. Ich erinnerte mich, daß es Menschen gibt, die das jeden Tag machen müssen. Sie nennen sich Eltern. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. War meine Freundin dann auf ihrer Couch mit Büchern, Tee und Laptop ausgestattet, störten wir uns nicht weiter. Nur wenn sie sich durch die Wohnung, zum Beispiel ins Bad bewegte, übertrug sich das Tock-tock der auf die Dielen treffenden Krücken so durchdringend, daß es mir oft vorkam, als würde ich mit Kapitän Ahab zusammenleben.