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Kurzprosa
Die Uhren werden auf Sommerzeit gestellt. Eine Geschichte von Mechthild Curtius
01.04.2012 | Hamburg
Für meinen Kollegen in Firenze.
Vorwort: Seit den Filmreisen 1985 schreibe ich regelmäßig Reise-Tagebücher, die szenische Grundlagen zu sieben Romanen und sicherlich dreihundert Erzählungen wurden. Die Orte und Landschaften müssen echt, vor Ort in vielen Heften geschildert, im Zustand wie gesehen, wiederzufinden sein, die Menschen und Handlungen müssen erfunden sein, er-dichtet. Für Mario Vicario und Famiglia in Firenze, Universitäts-Kollege, Italienisch-Lektor, Archivar der Laurentiana, sind die puren Reisen unverdichtet gescannt: ...
Durch das Pollino-Gebirge, es wird immer rauher wird und kälter, bis die Berge nur noch felsengrau sind. Mittag im Bergnest, kein Gasthaus, weiter durchs Bergland bis zur östliches Meeresküste. Weiter, flacher in Meeresnähe. Via Bari wieder lieblicher, aber flach mit leichten Dellen und Wellen, Teresa Altomares Eltern muss es in der hessischen Schwalm heimatlich vorgekommen sein, so ähnliche Hügel, weit rundherum um Bari nur Kornfelder Apuliens, Pulia, Olivenhaine, Pfirsiche sind verblüht. Auf der Suche nach einem Hotel gelangen wir in Olivenhaine kilometerweit, sehr alte Knorrbäume, die Zweige nach unten gezüchtet, am Wasser lang durchs dunkle Bari, Ambassador Hotel, Hochhaus an der Tangenziale. Im 11. Stock Restaurant, nebenan eine Gesellschaft, tanzt erst Foxtrott tedesco-steif, dann schöne kalabrische Reihentänze, weil ich so fröhlich gucke und mich rhythmisch bewege, fordert uns ein Herr im Frack zum Mitmachen auf. Dazugehören für Stunden ist Freude. Morgens auf der Tangenziale zurück nach Bari via Porto ist bei Morgenlicht schön, ein wenig maurisch erscheint die Citta storico an Promenaden mit vielen Palmen, riesenhaften Paläste, die sich als Regierungs- und Hafen- und Geschäftsgebäude ausweisen, niemals Hotels, die stehen kleiner und neuer im Badebetrieb via Norden, blauer Himmel, fette Weißwolken, türkisblau ist das Meer. Küstenbetrieb und an der ovalen Piazza Kirchgänger mit Palmsonntagsritualen, fast alle tragen Olivenzweige oder junge Palmen, darin blaue oder naturfarbene langstielige Rosen, vor den Kirchen verkaufen Kinder und Frauen an Ständen und in Weidenkörben kunstvoll geflochtene Palmenzöpfe, mit echten oder Kunstblumen, Buntpapier, Flitter, die Palmen nach alten Mustern in Kreuzen eingeschnitten, geflochten, hell grün sind sie, duften grasig, müssen jung und biegsam sein, sonst würden sie an den Knickstellen brechen. Ich kaufe drei und nehme sie mit, sie sind nun strohgelb getrocknet und duften wie Heu. Ich studiere die Palmen am Wege, woher zum Flechten diese jungen Triebe? Sicherlich ganz oben, ganz innendrin. Immer in Kreuzform aus Pflanze und Blumen, die lege ich zu den zwei calabresischen 'Cuculi', Teigzöpfen aus Zucker, Mehl, Eiern, die sind hartgekocht und von zwei Teigkreuzen gehalten. Wie in Hessen und der Lausitz katholische Osterbräuche aus Eiern, Palmenwedeln, die heidnische Fruchtbarkeitsrituale mit dem Kreuz der Christen mixen.Italien kann alles verbinden: nationalistische und kommunistische Kundgebungen auf den Piazze am Palmsonntagsmorgen, auf dem Kirchplatz wird später nach der Heiligen Messe der Priester oder Bischof im Violett der Karwoche die Palmen segnen, wie in Marienthal, grüß tausendmal. Palmette werden von alten und jungen Männern in Händen samt linken und rechten Zeitungen getragen, die meisten gehen in die Kirche, Männer füllen gleichzeitig die Bars nebenan. Die Küste entlang, durch schöne alte Fischerstädte, in denen außer uns keiner 'ausländisch' spricht. Trani ist wunderschön, hat Altstadt zum Hafen hin und zwischen Wohnhäusern Palazzi mit Innenhöfen, Balkonen, Säulen, bewohnt und leidlich gepflegt, auch Altstadtsanierung, einen besonderen im Kern romanischen Duomo mit Rosette und Portal aus flachem Flechtwerk, Bänderornament, 'maurisch'? Beim Espresso wieder nur Männern in Bar, wo sind die donne? Chiesa-cucina-babini noch immer? Viele feingemachte schöne Bambini in Wägelchen, die oft Väter fahren, solche Hütchen und Kleidchen habe ich Gitta und Boris von Exkursionen mitgebracht, einem Kindchen fällt der Buttone vom dunkelblauen Mantel, er rollt auf meine Schuh zu, ich reich ihn, sie und Mutter lächeln. Ähnlich ist Molfetta, eine rundliche dunkle Frau in Gittas Alter mit zwei kleinen Kindern könnte Teresa sein. Meer nach Norden via Foggia, Schnellstraße durch Felder zwischen Meer und Bergen, fruchtbar, agrarisch wie die Poe-Ebene, Rüben, Getreide, Verdura, Legumi. Mittag bei einer Azienda Agraria Gemma Conelli, im Feld blühen Stiefmütterchen hohe Pflanzen: blaue blasse Lupinen. Wind, Vogelsang, schöne Welt. Rechts Adriazipfel, Gargano, Naturpark, via Pescara, städtische Häfen und Industrie, Strand-Tourismus beginnt erst, die meisten Hotels sind geschlossen. Die Uhren werden auf Sommerzeit gestellt.