unterwegs

Reisenotizen

Autor:
Julietta Fix
 

Reisenotizen

cheaper than flowers

April 2012 | Hamburg

   Ich stand an einem Transferpoint, einem kleinen schäbigen Platz, ausgestattet mit einem überfüllten Standaschenbecher und einer Schubkarre mit leeren Wasserflaschen. Zwischen achtlos weggeworfenem Müll, Kaugummipapier, leeren Zigarettenschachteln, einem aufgeweichten Tampon und benutzten Taschentüchern blitzten meine roten Fußnägel.  Neben mir hielt Sirli mit einem übergroßen, weißen Regenschirm jede Form von Sonneneinstrahlung von mir fern
und das seit über einer Woche mit nicht nachlassendem Eifer. Selbst meinem forschen Gang war sie  immer eine Sekunde voraus, schien zu ahnen, welchen Weg ich einschlage, obwohl ich das selbst nicht immer wusste. Sie bewegte ihre Fußsohlen ready to go auf und ab, während ich regungslos verharrte. In meinem Kopf drehten sich Termine -  ein Zeitplan ratterte wie die Ankunftstafel am Flughafen vor meinen Augen auf und ab. Ich holte nur Luft, mehr gelang mir nicht, was ich in Anbetracht der Hitze schon viel fand. Wenn ich weiter so trödele, wird mir nichts gelingen, ich werde in einigen Tagen genauso kopflos sein, wie alle Leute,  die schon  längere Zeit hier sind, sagte ich laut und Sirli, mein Regenschirmmädchen sah mich nervös an, nahm mir bemutternd eifrig die Tasche ab, damit mir, von der Last befreit, eine Entscheidung vielleicht leichter wäre. Ich zuckte mit den Achseln und fühlte eine kleine weiche Hand meine rechte Hand ergreifen.

   Mom! Ich stieß erschrocken einen spitzen Schrei aus und sah in braune, glänzende Augen, die in stark geröteter Bindehaut schwammen. Mom! Ein kleines Mädchen blickte ängstlich zu mir auf und drückte meine Hand noch fester. Mom? Ich hielt die Hand fester und sah mich um, suchte den Platz ab nach einer Frau, die die Mom des Mädchens sein könnte. Es war einiges los. Menschen aus aller Welt bewegten sich auf dem Gelände, liefen von Fabrik zu Fabrik, um ihre Geschäfte zu erledigen. Ich befand mich in einem Zentrum für textile Produktion im Süden Indiens, in dem Kleider und Haustextilien für die halbe Welt angefertigt werden. Moom! Der Schweiß rann mir den Rücken hinab und ich suchte mit Blicken Sirlis Hilfe. She is looking for her Mom! She’s lost! What can we do? Die Hand des Mädchens hatte sich mittlerweile in meiner verkrallt, zog an mir und die kleinen Beinchen umklammerten mein rechtes Bein. Mom! Mom!
Sirli schloss den Schirm, holte aus und schlug dem kleinen Mädchen mit voller Wucht auf den Rücken. Das Mädchen löste sich und rannte so schnell es konnte davon. Sofort öffnete Sirli den Schirm wieder, entzog mich umgehend dem Einfluss der Sonne, nahm meine Tasche auf ihre Schultern und flüsterte: „Excuse me, Madam, excuse me so much!“ Als wäre dieser Vorfall ein Weckruf meiner Disziplin gewesen, lief ich los und wir verloren kein einziges Wort darüber.

   Es ist schwer, längere Zeit in Indien zu sein.  Einerseits ständig diese Faszination von Landschaft, von  Menschen, von Farben und  Gerüchen, andererseits der ewige Dreck und  unterschwellig die Angst, sich etwas zu holen, ernsthaft krank zu werden. Jeder gibt einem Tipps, um schadlos durchzukommen. Den besten finde ich immer noch, einen kleinen Rum am Morgen zu trinken - einen Indischen am besten, denn das sind die Besten -  und schon ist der Magen geschützt vor fast allem. Das Anstrengendste ist aber, dass die Gastgeber, in meinem Falle produzierende Betriebe zu jeder Sekunde versuchen, einem den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Das ist erst mal nichts Schlechtes, zeugt von Gastfreundschaft und Interesse, ist aber nicht so. Die Situation der Menschen ist erbärmlich. Verstecken kann man sie nicht, also wird mit allen Mitteln versucht, darüber hinweg zu täuschen, in dem man seinen Gästen unaufhörlich jeden nur möglichen Luxus zukommen lässt. Das geht so weit, dass man, kommt man von einem langen Tag zurück, zwei Mädchen im Zimmer sitzen hat,  die einem die Schuhe ausziehen und – unter Umständen  noch mehr ausziehen wollen. Kleider werden jeden Tag gewaschen, auch die Kleider, die man nicht trägt und steht man nachts auf, um auf die Toilette zu gehen, steht sofort jemand in der Tür und fragt, ob man noch etwas braucht. Ich habe eine Freundin bei einer renommierten Hilfsorganisation, die sich seit Jahren nur in den ärmsten Ländern aufhält. Sie kommt in Deutschland nicht mehr zurecht, nicht dass sie nicht ausreichend Qualifikation hätte auch hier zu arbeiten,  nein - sie hat sich daran gewöhnt, dass sie für jeden Handgriff mehrere Hände hat, gelernt zu denken, es sei normal, für Alltägliches Menschen arbeiten zu lassen, die sonst verhungern würden und fühlt sich auch noch großherzig dabei. Es ist gefährlich. Eine subtile Gefahr. Am Anfang ist man beschämt, dann stellt man sich ein.  OK, dann ist ebenso, man geht ja bald wieder und nach Tagen erwischt man sich dabei, dass man ungeduldig wird, wenn die Dinge nicht klappen.

   Die Abende verbrachte ich im Haus einer Textilfabrikantin, einer Frau, die eine hochentwickelte Produktion für T-Shirts leitet und ihrem Mann, der sich mit nichts anderem zu beschäftigen schien, als  guten Morgen und gute Nacht zu wünschen. Beim Essen dachte ich mehrere Male daran von dem kleinen Mädchen zu erzählen, wurde aber immer wieder in Gespräche verwickelt, die mich davon abbrachten. Ich blieb noch fünf Tage, während derer Sirli mit gleichbleibender Konzentration meinen Schirm und meine Tasche trug. All die Tage hielt ich Ausschau nach dem Kind, sah es aber nicht mehr wieder.

   Am letzten Abend meines Aufenthaltes veranstaltete die Fabrikantin mir zu Ehren ein großes Abendessen, das einer Zeremonie gleich kam.  Die Sitzordnung bei Tisch sah vor,  dass ein Gast aus den Vereinigten Staaten, ein Chefdesigner eines großen amerikanischen Markenlabels,  neben mir Platz nahm, den man für geeignet hielt, mich gut zu unterhalten und umgekehrt natürlich auch. Wir sprachen über die üblichen Businessthemen und die Probleme, die hier und dort entstehen und über die Bedingungen unter denen in diesem Land gearbeitet, produziert wird. Ich erzählte ihm von dem Kind. Das sei ein erfolgreiches Konzepte,  mit dem Kinder in diesem Zentrum Geld verdienen können, erzählte er mir. Die Kinder werden auf Frauen angesetzt, die aus Europa oder aus US kommen und instruiert, sich an deren Hand zu hängen und Mom zu rufen. Die meisten Frauen erschrecken so derart, werden panisch und von mütterlichen Gefühlen überwältigt, wissen sie sich nicht anders zu helfen, als zur Geldbörse zu greifen und den Kindern etwas  zu geben. Wie die Tiere hausen die Kinder in kleinen Ställen an den Rändern des Zentrums,  werden jeden Morgen nach draußen getrieben und am Abend oder häufig auch gleich nach einer gelungenen Aktion abkassiert. Man wird dem nicht Herr, lachte mein Tischbegleiter, fangen Sie gar nicht erst an darüber nachzudenken!

Good Night Madam, verabschiedete sich die Tochter meiner Gastgeberin und wurde von vier Sirlis ins Bett gebracht. Die Nächte in Indien sind dunkel. Schwarz, so dass man die Hand vor Augen nicht sieht. Die Luft riecht nach Gras und ist so warm wie ein Bad im Meer.