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Schreiben in Istanbul
Notizen aus Istanbul, Teil I von Gerrit Wustmann
14.04.2012 | Hamburg
Gerrit Wustmann wohnt und schreibt die nächsten drei Monate im Rahmen eines Stipendium der Stadt Köln aus Istanbul. Hier folgen die Istanbul Notizen I.
Das erste, was mir auffällt, als ich durch Beyoğlu streune, sind die fehlenden Tische. Auf der Galip Dede Caddesi und in den Seitengassen der İstiklal Caddesi haben normalerweise die unzähligen Restaurants, Cafés und Imbissbuden ihre Tische, Stühle und Bänke aufgestellt, manchmal so eng, dass ein Auto kaum mehr durchkommt. Genau da lag im letzten Jahr der Haken, erfahre ich. Angeblich war Ministerpräsident Erdoğan in der Stadt, und es soll ihn derart geärgert haben, dass seine Wagenkolonne nicht durch die engen Gassen um den Galataturm kam, dass er anwies, die Stadtverwaltung solle sich darum kümmern. Wie man hört, gingen die Ordnungskräfte recht rabiat vor und mancher Tisch zu Bruch.
Ob das so stimmt, kann ich nicht nachvollziehen, aber es ist ohnehin zu kalt, um draußen zu sitzen, was andererseits auch seine Vorteile hat. Anfang April kann man gemütlich durch das historische Viertel bis hin zum Taksim-Platz schlendern, ohne sich durch die Touristenhorden kämpfen zu müssen, gegen die selbst die schwarzen Limousinen aus Ankara machtlos wären. Im Regen treibt sich kaum jemand auf der endlosen Einkaufsmeile herum, nur über Ostern wird es wieder etwas lebhafter, zumindest rund um die Kirchen. Die einzigen, die dem Wetter trotzen, sind die Straßenhändler und die Katzen. Die Hunde haben sich zurückgezogen. Sie wissen, dass jeder Versuch, sich mit den Straßentigern um die letzte Mahlzeit zu prügeln, sinnlos wäre.
Ich tue das, was ich in großen Städten am liebsten tue: Ich suche in den Seitengassen nach Buchhandlungen, die ich noch nicht kenne. Nicht, dass es mir hier viel bringen würde. Mein Türkisch beschränkt sich auf das Lebensnotwendigste. Und deutsche Bücher sind außerhalb der deutschen Buchhandlung am Tünel-Platz rar. Englische findet man schon eher. Doch darum geht es mir nicht, sondern um diese ganz besondere Atmosphäre, die in manchen Buchhandlungen herrscht. Ein wenig versteckt in einer Gasse, die etwa in der Mitte der İstiklal Caddesi auf Höhe des Galata-Platzes abzweigt, ist ein Sahaflar Çarşısı, ein Markt für antiquarische Bücher. Hiervon gibt es mehrere. Einer ist in Beyazit und einer in Ortaköy. In Beyoğlu reiht sich ein winziges Antiquariat an das andere. Menschen quer durch alle Generationen stöbern in den Regalen, manche wortlos, andere aufgeregt gestikulierend, wenn sie ein Buch gefunden haben, das sie offenbar suchten. Es riecht nach altem Papier und Druckerschwärze und Çay. Auf manchen Wühltisch haben Katzen ihr Lager aufgeschlagen und geben die Bücher nur widerwillig frei.
Ich finde einen Roman von Ahmet Ümit, der den Titel „Beyoğlu Rapsodisi“ trägt, und den es laut Google leider nicht auf Deutsch gibt. Ich habe Ümits „Nacht und Nebel“ mit Begeisterung gelesen und wünsche mir wieder einmal, alle möglichen Sprachen zu beherrschen um all die Bücher lesen zu können, die niemals übersetzt werden. Andererseits – dann müsste das Leben zehnmal so lang sein. Man schafft es ja so schon nicht, alle Bücher zu lesen, die man gerne lesen würde.
Ein paar Seitengassen weiter stöbere ich in der englischen Buchhandlung und in dem türkischen Antiquariat, das im Keller darunter liegt. Ich stolpere mitten in eine Lesung. Ein alter Mann mit weißem Haarkranz und Lachfalten um die stechenden Augen trägt aus einem Buch vor, um ihn herum sitzt ein etwa zwanzigköpfiges Publikum, trinkt Tee, bei jeder Lesepause wird gelacht, applaudiert, wild durcheinander geredet. Andere studieren die Bücher in den Regalen, als gäbe es die Gruppe gar nicht. Eine Weile lausche ich dem melodischen Vortrag seiner rauen Stimme, dann gehe auch ich weiter. Die Straße hinab, zurück, an der Libraire de Péra vorbei bis ich durch die Häuserschluchten hindurch einen Blick erhasche auf das epische Gedicht, das sich zwischen Asien und Europa zum Meer hin wälzt…