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Kurzprosa
Tonmanns Tagebuch, Reise nach Marbach.
In Blaubeuren, um Blaubeuren und darum herum. Kahle Fläche mit niedrigem Hafer zwischen Weiden, hell belichtete Hochebene getreppt, Stufenkanten aus schmaler Hecke. Weite Wiesen sind wie regungslose Riesenviecher gefläzt, struppiges Gras, ein kurzgeschorenes Tierfell. Hänge sind Flanken mit Flecken vielfarbiger Blumen. Lila Acker-Skabiosen, gelber Sonnenhut, blaue Glockenblumen, Rosmarin, Thymian, vor dem Wind geduckt. Große Treppen und Steigen sind die geologischen Strukturen der Alb, pro Treppenabsatz ein Dorf. Einödhöfe in Kuhlen und Mulden, hier und da laufen Weinstege gewunden entlang der Blautopfstraße. Wanderwege zwischen Wald und Bach, belebt von Dörfern und Burgen. Neuffen, Burg Hohenneuffen, Laufbrunnen, Plateau, Felswand steil, bewaldet. Gegenwärtig sehe ich die Bilder der vergangenen Woche auf der Wasserfläche des stillen Teiches, ein Film in Standbildern. Über die schwäbische Albstraße, im Dorf Wiesensteig bannt eine katholische Kirche mit ihrem romanischen Turm, buntgemalt ist der gotische Kalvarienberg, innen endet der Gang durch die Epochen mit Barock in vielfältigen Schattierungen von Goldbraun bis zum Schwarzbraun der Beichtstühle. Die mädchenschöne Dotzburger Mondsichelmadonna überlebt aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Maria wirkt gesammelt, so persönlich, als sei sie eine ernste Tochter der kleinen Stadt. Ihr Sohn sieht ihr ähnlich. Beide schauen mich an. Gesichter frontal, kleiner Mund, hohe Stirn, braune Haarwellen. Krönungs-Gewänder in königlichen Falten und festlichen Farben: rot Oberteil, blau Rock, golden Mantel, Heiligenscheine hinter den rundlichen Köpfen. Majestas-Kronen tragen Mutter und Kind, Maria, vor strahlender Goldmandorla, hält obendrein ein Goldzepter. Der Bild-Schnitzer hat eine Landestochter zur Madonna gemacht und lauter Mariensymbole gemischt: Himmelskönigin-Mondsichel-Majestas-Madonna.
Ein Mann trabt die durchgetretenen Stufen hinauf, ich hinab, die Orgel intoniert das Kirchenlied „Ein Haus voll Glorie schauet weit über alle Land'." Die Melodie klingt nach auf dem Kirchenvorplatz. Ich sehe im Himmel über dem Kirchturm graue Wolkenknäuel und keine Himmelskönigin "über alle Land", Alb-Landschaften karg, kühl und lieblich, geologische Formation getreppten Hochplateaus, die Dörfer heißen darum oft „an der Steige".
Zauberisch ist nicht nur der Teich der Schönen Lau, ochsenaugenrund und romantikblau. Hinter Mauern an Teich und Bach und Wehr lagert, ein Städtchen aus vielen Bauten, die Klosteranlage Blaubeuren, frühestens vor tausend Jahren erbaut, Kloster der Zisterzienser, später evangelisches Stift und Seminar, verbunden mit Maulbronn, Schüler sind Hauff und Vischer und Pfizer und Schubart gewesen. Klosterschüler zahlen heute dreihundertfünfundsechzig bis siebenhundert Mark. Ich wäre gern als Kind dort gewesen, ein Stipendium hätte ich bekommen. Im Kreuzgang hängen Papptafeln mit der Kloster- Geschichte, im innersten Geviert spendet das Sonnenlicht Energie für den Kräutergarten, Wasser rauscht in der Brunnenkapelle. Romanische Kapitelle im ältesten Trakt sind von der Zeit Zähnen angenagt, Nasen abgefressen, aus Gesichtern sind Steinlarven geworden. Besucher trotten hintereinander ins Freie, den Pfeilen folgend und der Rede des Führers. Sie recken die Hälse, um die Architektur von unten bis oben zu betrachten. Spinnenfäden zittern in Kraut und Strauch um den Blautopf. Tintenschwarz scheint das runde Wasserloch, verdunkelt von Baumkronen, die Schwarz-Erle wäre längst in des Wassermanns Muschelschloss gestürzt, hätte der Landschafts-Gärtner nicht den Stamm mit Seilen am Steilhang festgezurrt. registrierte ich als erstes beim Betrachten. Diese Stimmung am Blautopf hat mich an die Fontaine de Vaucluse in Südfrankreich erinnert. dort hat nicht lau. sondern Laura den Dichter Petrarca verzaubert. Dieses mediterrane Liebespaar hat mich mit der Arme-Leute-Gegend hier versöhnt: im hintersten Winkel der Schwäbischen Alb sei ich geboren. im Augenblick ist es mir ausnahmsweise recht. Laura habe auch meine Großmutter auf der Alb geheißen. Und die Mutter hätte den Winzer geheiratet und sei mit ihm Richtung Westen nach Schnait bei Waiblingen gezogen, wo ein Weinberg an den anderen grenzt, höchstens dünne Wegstege dazwischen, drunten im Tal ein Buchenwald. Dort wo Laura und Bertram als Kinder gespielt hätten. Und weil alles, was gut war, dort anfing. hätte er Laura dorthin geführt und hätten sie gemeinsam Minnesingen gespielt. „Wo unser Zweyer Bette was". ("War", hat der trottlige Dorfschul-Lehrer den Walther von der Vogelweyde immer verbessert.) Minne. Heimlich. Insgeheim. Daheim sei es streng gewesen, sauber überall, wo hinter dem Hauseingang die halbrunden Kupferbecken zum Händewaschen auffordern.
Nacht im alten Hotel zum Waldhorn in Blaubeuren in der Nähe vom Blautopf. Alb-Traum im Gasthausbett, Alp-Drücken nach Maultaschenfett. Bitte auf keinen Fall im Morgen-Grauen panische Wort-Träume häkeln! Lieber vor Tau und Tag raus. Blaue
Stunde. Bestrickend. Blaues Wunder. Morgens allein auf dem knirschenden Kiesweg, der das Wasser verschluckte, hinter dem Blautopf, es tropft von den Bäumen, eine Regennacht war. Am Wildbach vorbei, Blätter von Wassertropfen, in der Morgensonne funkelnd, Steine mit Moos. schwarzgrün, hellgelb sind die Ziegelsteine des Albwasser-Versorgungshauses unter dem Bergmassiv. Im Amphitheater-Halbrund des steil abstürzenden Hochplateaus liegen die Häuser des Ortes Blaubeuren, daraus ragen wie Burgen hellgraue Felsensteine. Im Tal kühle Wege zwischen Bauerngärten, Altweibersommer, Spinnenfäden im Gebüsch um den Blautopf. Fäden zu Gespinsten verwebt, wo sich die Nebel im Morgenlicht wabernd heben, Fantasiebilder weben ins Reich der Laura. Die Wasserfontaine geht in die Wolkensäule über, verbindet sich, wie eine Eieruhr tailliert, in der Himmelsmitte über den Bäumen. Aus dem Schlaf abrupt aufgestanden. schwindlig und schwarz vor Augen, ging das Traumwandeln weiter. Darum erkennt das überreizte Hirn in Wassersäule und Wolke die Blaue Frau. in Schleier gekleidet ihre Kontur. helle Haut der schönen Lau. Vision im Morgengrauen.
Blautopf. KÜNSTLERDRUCKSACHEN Editionen Curtius & Hauke. Das Detail des Sujets 2001; 30 x 30 cm