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Monatskolumne
Osteraugenfärben
Mai 2012
„Oh Haupt voll Blut und Wunden“: Neben Jesus paßt dieser Ausruf am besten zu meiner katholischen Freundin. Häufig ist ja nicht nur ihr Haupt betroffen, sondern auch alle anderen Körperteile, die mit blauen Flecken stigmatisiert sind. Und in einen Nagel getreten ist sie auch schon mal. Mit etwas mehr Geschäftssinn, könnte ich sie als das Wundmalwunder von Halle ausgeben. Das verkaufte sich besser als meine Lyrikbände. Aber da mir eh keiner glauben würde, wenn ich beteuere, daß ich ihr keine Wunden zugefügt habe, nehme ich die Schuld lieber gleich auf mich, stellvertretend für ihren Gleichgewichtssinn, den man eher als Gleichgewichtsunsinn bezeichnen sollte. Neulich, und passend zum Karfreitag, ist sie nämlich im Bad ausgerutscht und mit dem Gesicht auf die Badewannenkante gefallen. Nun hat sie ihre teure Brille nicht mehr, dafür ein Brillenhämatom. Jeder wird denken, jetzt schlägt er sie auch noch, obwohl es schon schlimm genug ist, daß er sie für seine Kolumnen mißbraucht. Mit diesem Veilchenauge, das zu einer Schlafgelegenheit im Frauenhaus berechtigt, kann sie noch so oft sagen, sie sei auf die Badewannenkante gefallen. Natürlich, die Badenwannenhandkante, das kennen wir schon, vorwurfsvoll gehen die Blicke in meine Richtung. Und daß vor ein paar Monaten meine Freundin beim Treppenhochlaufen weggeknickt ist und sich dabei den Mittelfuß gebrochen hatte, erweist sich nun als ein weiterer Treppenwitz in der Geschichte der Treppenverletzungen. Da nützt es nichts, wenn ich darauf verweise, daß meine katholische Freundin schon lange vor unserer Beziehung zu unfreiwilligen Selbstverletzungen neigte. Daß sie sich beim Gartenzaunübersteigen den Oberschenkel aufgeschlitzt und denselben Oberschenkel ein paar Jahre später mit heißem Wasser übergossen hat, wirft nur ein weiteres, grausiges Licht auf die Personen ihres Umfeldes. Die arme Frau, wird man denken, daß sie immer wieder an den Falschen geraten muß. Wer wollte annehmen, daß die Häufung solcher Verletzungen nicht ursächlich der häuslichen Gewalt zuzuschreiben sei? Also, lieber reuig alles zugeben, als dazustehen wie jemand, der überdies mies und scheinheilig behauptet, sie habe sich die Verletzungen selber zugefügt. Denn noch unter dem Gewalttäter rangiert der heuchlerische Gewalttäter, der so tut, als könne er keinen Knochen krümmen.
Als mich meine katholische Freundin bei diesen Gedanken beinah im Selbstmitleid versinken sah, hat sie mir, schon um mich ein bißchen aufzuheitern, den Vorschlag gemacht, sie wolle, solange ihr Veilchen blüht, mit einer Burka auf die Straße gehen.
„Aber nie ist eine Burka da, wenn man sie mal braucht“, sagte ich.
„Zur Not könnten wir ein altes Bettlacken nehmen“, sagte sie.
Aber was soll man sagen? Der Talibanehemann ist, im Vergleich mit seinem westeuropäischen Geschlechtsgenossen, mal wieder im Vorteil. Sogar zweifach. Wenn er keine hübsche Frau abgekriegt hat, sieht man es nicht, und wenn er sie, im Sinne des Patriarchats, vermöbelt hat, auch nicht. Also bleiben wir, solange es geht, zumindest über die Feiertage in der Wohnung und kühlen. Für alle Unfälle habe ich nämlich immer ein paar Kühlakkus im Gefrierfach deponiert. Denn es passiert ja auch immer wieder was, obwohl ich seit Jahren von der Kanzel meiner Selbstgefälligkeit herab zu meiner katholischen Freundin predige, wie segensreich doch Wachsamkeit und Umsicht seien, aber es nützt gar nichts. Sie bewegt sich weiterhin verträumt wie eine Sechsjährige durch den Straßenverkehr mit der Umsicht einer sehbehinderten Achtzigjährigen. Sie trägt noch nicht mal einen Fahrradhelm, den sie, nach dieser unsachgemäßen Annäherung an die Badewannenkante, eigentlich auch in der Wohnung tragen müßte. Ach, oft hat sie mir erzählt, so daß ich noch nachträglich über ihr Verhalten besorgt bin, auf welch unbekümmerte Weise sie damals über Halles von Trabbis und Wartburgs befahrene Straßen gegangen sei, nämlich ohne von dem Buch, in dem sie gerade las, aufzuschauen. Und nun wieder, Angesichts ihres veilchenblauen Angesichts, mit sukzessive sich steigernder Sorge, stelle ich mir dieses leichtsinnige bzw. eher tiefsinnige Wesen vor, das, wie in einer endlos erscheinenden Kameraeinstellung eines Tarkowskifilms, über das Reil-Eck oder die Ludwig-Wucherer-Straße geht, vor hupenden Trabbis entlang, in Kafka oder Dostojewski vertieft, passend zur Lektüre, dem Unheil entgegen. Insgeheim liebe ich sie jedoch dafür, der Literatur auf so unbedingte und weltverachtende Weise zugeneigt gewesen zu sein, was ich ihr allerdings nicht sage, um sie nicht anzustiften, für mich noch begehrenswerter zu erscheinen. Demnächst fährt sie freihändig Fahrrad und liest Samuel Beckett dabei.
Nach einem Osterspaziergang ist uns jedenfalls nicht, wenngleich wir, frei nach Goethe, demonstrieren könnten: Doch an Blumen fehlt’s im Revier, sie nimmt gebläute Augen dafür; nun ja, eine Haltung, für die uns noch die Lockerheit eines Pärchens fehlt, bei dem blaue Augen zum Alltag gehören. Inzwischen habe ich den Eindruck, der Bluterguß unternimmt selbstständig einen Spaziergang im Gesicht meiner Freundin. Wenigstens bewegt sich einer von uns. Er breitet sich aus und zieht sich zurück, schwillt an und ab. Die Hauptwanderroute weist allerdings nach unten, in Richtung Erdmittelpunkt. Wohlan. Irgendwann wird er den großen Zeh erreicht haben, und dann ist alles wieder gut.