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Kurzprosa
Lauras Glasauge
12.05.2012 | Hamburg
Lauras Glasauge Was hat das ostdeutsche Erzgebirge mit der Adriastadt Murano bei Venedig gemeinsam? Glas. Glasbläserei. Glas-Auge, Erfindung, Entwicklung. Und Legende: Das dritte Kind des Glasbläsers Julius Gotthelf wird krank geboren. Ein Mädchen, schwach, wächst langsam, bleibt klein, lange ein Kind. Und so dicht Laura dem Vater zusieht, sie erkennt nicht recht. "Geh nicht so nahe heran, Feuer kann dem Augenlicht schaden." War es das grelle Licht?
Jedenfalls sieht das Mädchen nicht richtig, sind die Augen nun verletzt oder nicht. Leuten in ländlichen Gegenden, noch dazu vor fast zweihundert Jahren, ist nicht an Arztbesuchen gelegen. Jedoch als Kunde für spezielles erzgebirgisches Spielzeug kommt manchmal ein Medicus aus der großen Stadt hergefahren. Es ist freundlich, sich für das Geschick fremder Menschen zu sorgen. So beobachtet er, als sie mit seiner Tochter Paula redet, sinnend die Tochter des Glasbläsers. Hebt ihr Kinn, wendet ihren Kopf ins Licht, fragt nach dem Sehen, fragt viel länger nach Lauras Geburt, wundert sich: das gleiche Alter wie seine Tochter. Mit dem Aussehen und Verhalten eines Kindes. Paula kokettiert mit Julian, Vaters Lehrling, ihre Figur wird die einer Frau. Dieser Augen-Doctor Stilling aus Leipzig kommt wieder, bringt als neuen Spielzeug-Käufer einen anderen Arzt mit. Erst wird das Geschäftliche erledigt, Weihnachtsgeschenke aus Holz geschnitzt, die Kinder staunen, was aus einem gedrechselten Ring werden kann. "Wie ein Kranzkuchen, einfach in Scheiben geschnitten". Dem braunen Julian fallen die richtigen Wörter ein. Paula muss alles genau untersuchen, hebt die Holzscheiben hoch: Ein Hase. Ein Lamm. Ein Mann. Was der Schnitzer alles kann!
Weiter ziehen sie durch die Schneegasse, beim Puppenmacher stehen hundert Holzköpfchen, Porzellanköpfchen auf dünnen Regalen, es riecht bisschen nach Holz, bisschen wie Kuchenbacken, an langen Tischen sitzen Mädchen und Frauen, nähen Kleider aus Haufen von Stoffresten. Die Puppen sind fast fertig, es fehlen die Augen. So sind die Leipziger Ärzte, so sind Paula und die winzige Glasbläsertochter Laura zusammengekommen. Jedes eine fertige, augenlose Puppe an der freien Hand schlenkernd, die andere Hand in Hand, Pappa, kuck mal, Lauras Auge sieht nur weiß aus. Nächste Weihnacht sind die Mädchen nicht mehr heiter. Das weiße Auge ist ringsherum rot entzündet und schmerzt, die ganze Kopfseite tut weh. Paula ist fast erwachsen, sie tröstet, sie handelt. Zwei Mädchen zusammen, die setzen viel durch, und so ist eines Tages das Mädchen aus dem Glasmacherdorf, aus der Weihnachtsprovinz Erzgebirge in der Leipziger Klinik. Doctor Stilling holt Doctor Wohlleben, der die kleinen Kinder auf die Welt holt und nicht der Storch aus den Plothener Teichen im Vogtland. Dumme Dorftrine, du.
Der eine fachsimpelt mit dem anderen: Wörter und Namen - Kleinwuchs - Anomalien einzelner Organe - bei Augen nicht bekannt, interessant. Der eine untersucht, der andere operiert. Doktor Stilling operiert. Länger ist das her. Laura in Lauscha zurück. Vater Gotthelf guckt beiseite. Sagt der Frau, mir tut es weh, wenn ich die Tochter ohne Augapfel seh. Als er wieder einer Porzellanpuppe besonders schöne braune Augen bläst, sehen sie lebensecht aus. Dem heilen Auge der Laura gleich. Wirklich wie lebendig. Paula nimmt die Puppe, fasst Laura bei der Hand. Warum nicht versuchen - was den Puppen recht, ist dem Mädchen billig. Glas ist ein feines Material. Glasbläserkünstler Gotthelf vergleicht, schaut hin und her, von Puppe zu Tochter, von Paula zu seiner Tochter, zu den Puppenaugen, geht wie in Trance langsam den Tisch mit den vielen Glasaugen lang, Puppenaugen. Kastanienbraune, haselnussbraune, buchenholzbraune, eichenrindenbraune, goldbraune, baumstammgraue, schiefergraue, winterhimmelgraue, sommerhimmelblaue, vergiss-mein-nicht-blaue, wie die kleinen Blüten im Vorgarten neben den Veilchen. Veilchenblaue nicht, denn die sind violett, solche Iris gibt es nicht. Nicht berühren, mahnt er; da fällt eines auf den Steinboden und zerspringt. Sonderbare Regenbogenfarben scheinen im Ofenlicht auf. Meister Gotthelf nimmt die Splitter auf, seit diesem Tag mischt er und probiert, nimmt wie der Entdecker Ludwig Müller-Uri das in der Lauschaer Glashütte erschmolzene sogenannte Beinglas. Die Weißfärbung dieses Milchglases wird durch Zusatz zu den normalen Glasrohstoffen Sand, Soda und Pottasche von gemahlenen Tierknochen, Knochenasche also, erreicht. Aus tieferen Schichten der Erde brachte man neue Substanzen, Mineralien kamen aus aller Welt, aus Grönland der Eisstein. Forschen. Experimentieren. Mischen. Vergleichen. Länger ist das her.
Laura liegt in der Leipziger Klinik, Paula besucht sie, hat eine Neigung zum Wissen, forscht in des Vaters Bibliothek und erzählt, weil das den Mädchen gefällt. Als sie merkt, dass es der frisch Operierten die Angst nimmt, erst recht. Augen. Glasauge. Das neue Kryolitglas. Eine lange Prozedur ist das gewesen. Jahrhundertlang. Metallaugen gab es vor denen aus Glas wie die von Murano und Lauscha. Die Freundin Paula zeigt auch, als Lauras Verband fort ist und sie lesen kann, alte Scharteken, vergilbte Seiten mit Bildern. Wie diese schönen echt aussehenden Augen entstanden sind: Beim Augen-Erfinder Müller-Uri hat Julius Gotthelf der Ältere schon gelernt. Und sein Nachfahr ist dein Vater, Meister Julian Gotthelf der Jüngere. Das Übrige tun die Augenärzte. Zusammenwirken zweier Künste: Es geht das Gerücht, dass sie eines Tages Muskeln und Nerven rundherum um den Augenapfel so vorbereitet werden können, dass sie den Glas-Aug-Apfel unwillkürlich ein wenig bewegen, damit wird die erschreckende Starre gemäßigt. Utopien wirken voraus. Spornen an. Zukunftsmusik wird wahr. Laura und Paula schreiben aus Venedig und Murano.