Schreiben in Istanbul
Notizen aus Istanbul, Teil II von Gerrit Wustmann
04.05.2012 | Gerrit Wustmann wohnt und schreibt die nächsten drei Monate im Rahmen eines Stipendium der Stadt Köln aus Istanbul. Hier folgen die Istanbul Notizen II.
Es gibt in Istanbul viele Orte, an denen man gemütlich in der Sonne sitzen und die Vielfalt des pulsierenden Lebens der Stadt beobachten kann. Auf dem Platz vor dem ägyptischen Bazar und der Yeni Cami in Eminönü; nachts unter dem Galata-Turm; oder hier: vor dem Atatürk-Denkmal auf dem Taksim Platz. Interessanterweise sind es kaum Touristen, sondern fast ausschließlich Türken, die sich vor der Statue des Staatsgründers fotografieren lassen. Für Ausländer ist der Taksim eher Durchgangsort. Hier halten die Busse, die von den beiden Flughäfen Atatürk und Sabiha Gökcen kommen, hier beherrschen Taxis die Straße, hier ist die Endhaltestelle der historischen Trambahn, die über die Istiklal Caddesi hinweg zum Tünel Platz fährt. Auf den Platz münden sowohl die edle Shoppingmeile Istiklal als auch ihre Parallelstraße, der Tarlabasi Boulevard, der ihr komplettes Gegenteil ist. Obwohl nur wenige Meter Luftlinie die Straßen trennen, sind sie zwei verschiedene Welten. So hochgestyled Unabhängigkeitsstraße ist, so verfallen und bisweilen düster wirkt die Hauptstraße von Tarlabasi mit ihren bröckelnden Fassaden. Reichtum und Armut liegen Seite an Seite wie zwei Kontinente.
Der Taksim spiegelt dieses Bild. Straßenhändler verkaufen dampfende Maronen, Simit, frischgepressten Orangensaft und Pilav. Zwischen Touristen, Jugendlichen, die sich die Zeit vertreiben, Flanierenden und Restaurantgästen sitzen die Bettler. Einige mit einem amputierten Arm oder Bein. Sie sind der sichtbare Teil eines Istanbuler Untergrunds, der den Kurzzeitgästen verborgen bleibt. Das Betteln ist ein systematisches Geschäft, von dem die Bettler am allerwenigsten haben. Viele wurden ohne Not amputiert, einzig damit ihr Anblick größeres Mitleid erregt und die Spendebereitschaft steigt. Zwischen ihnen hindurch schlendern Kinder mit ausgezehrten Gesichtern, die Wasserflaschen für 50 Kurus verkaufen. Auch hier darf man davon ausgehen, dass die Kinder nicht die klamme Familienkasse aufbessern. Noch in den Neunzigern wurden regelmäßig Kinder entführt und zum Betteln oder zur Prostitution gezwungen. Inzwischen haben sich die Verhältnisse gebessert, aber verschwunden ist die organisierte Kriminalität längst nicht. Sie wurde in den touristischen Gebieten wie hier in Beyoglu lediglich soweit an den Rand gedrängt, dass sie nicht mehr allzu offensichtlich ist. Man kann die Untiefen dieser Stadt sehen, wenn man es will – aber wer will das schon? Die Urlauber sehen kurz hin und ganz schnell wieder weg, sie wollen eine gute Zeit haben, und derartige Dinge passen nicht in ihr Bild.
Am 1. Mai sollte man den Platz weiträumig meiden, dann herrschen hier Zustände, im Vergleich zu denen die Berliner Maikrawalle harmlos anmuten. Auch in diesem Jahr wurde die Warnung ausgegeben. Mehr als hunderttausend Menschen werden erwartet, Gewerkschafter wollen demonstrieren, aber auch radikale Linke, nationalistische und islamistische Gruppen haben sich angekündigt. Schon Tage vorher zeigt die Polizei mit gepanzerten Mannschaftswagen und bewaffnet mit Maschinengewehren Präsenz. Zu Ausschreitungen kommt es immer, und die Polizisten machen in dem Fall keinen Unterschied mehr zwischen Demonstranten oder Menschen, die zufällig hineingeraten.
Der Taksim ist eine Art Schmelztiegel, in dem alle Widersprüche dieser so vielfältigen Stadt aufeinanderprallen, am Atatürk-Denkmal laufen die Fäden zusammen. Am Rande des Platzes sitzt eine Gruppe junger Katzen und beobachtet ratlos die Menschen und ihre sich wiederholenden Rituale. Ihr Gebetsruf klingt anders.