Blanka Beirut - Tagebuchstaben (55)

Wochenkolumne

Autor:
Andrea Karimé
 

Wochenkolumne

Wolkenmaschinen und ausgeschnittene Zeit

07.05.2012 | Hamburg

Das Zimmer ist nach wie vor lichtdurchflutet und still. Alles wirft klar umrissene Schatten auf den Boden. Ausgeschnittene Zeit.
(Banana Yoshimoto)

Die Tagebuchstaben wachen wieder auf. In der Schweizer Frühmorgenstadt schneidet die Sonne einen Kuchen aus frischer Luft an. Ein Duft aus Heu, Träumen und Gebirgsbach entweicht, und der Nymphensittich kreischt darin herum. Blanka Beiruts Stift rollt zwischen zwei Linien auf dem Blatt wie ein Zug auf den Schienen. In Tag und Textzug lässt nichts eine erneute Teilung von Zeiten, Ländern und Städten ahnen. Auch Blankas Regionalbahn nach Sternen und Lustmühle — Halt auf Verlangen — passiert lediglich ein Kraftwerk mit dicken dichten watteweißen Rauchschwaden. Eine Wolkenmaschine.  

In der ehemaligen orientalischen Schwester der Schweiz aber wird das Heimatdorf des Vaters gerade in neue Feindesgegenden zerhackt, als hätte der Zedernstaat noch nicht genug davon. Auf dem Hügel vor dem Dorf bei Tripoli rüsten Anhänger des syrischen Kingkongs für den Hausgebrauch auf. Unten helfen die Gegner Sadats Opfern mit Pässen und Geld.

Blanka Beirut will sofort ihren Vater anrufen. Mit deutschem Handy und Sittichpicken am Ohr. Doch das ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Erstens hat sie die Telefonnummer nicht eingespeichert. Diese schlummert noch immer in einem federleichten Umschlag, den sie einst mit einem Telegramm und mit einer Aufforderung des Vaters geschickt bekam. Und zweitens hat sie ihren Vater ja mindestens zwanzig Jahre nicht gesprochen. Wer garantiert ihr, dass ihre Zunge nicht erstarrt, angesichts einer Distanz von 3000 Kilometern multipliziert mit zwanzig Jahren? Als könne eine Zunge Distanzen überwinden, die noch nicht einmal genau berechnet werden können. Sie weiß nicht ob das Produkt Kilometer oder Jahre bezeichnet. Oder Jahrmeter? Vor lauter Kümmernis fallen die Vokale aus den Textzügen und robben  stimmlos vor Blanka her. Araber mimend  tun diese Wortskelette jetzt, was sie niemals tun wollten: Bedeutung verlieren. Da kommt Licht ins Abteil. Schere wird an die Zeit gelegt. Und an das von Blanka und ihrem Zeitenvogel darin beherbergte Klageduett im Sextabstand. Undimmersoweiterundimmersofort…