Widerstand gegen den Lauf der Zeit//Folgegespräch 2010

Gespräch

Autoren:
Oleg Jurjew, Linor Goralik
 

Gespräch

"Ich schreibe Gedichte, um herauszufinden, wo sie passieren".

09.05.2012 | Hamburg

Gespräch mit Oleg Jurjew. „Воздух“ („Vosduch“) (Moskau), Nr. 1, 2010
Das Gespräch führte LINOR GORALIK
(Gekürzte Fassung)


Frage: Sie haben einmal („Neue Literaturrundschau“ Nr. 66, 2004, „Widerstand gegen den Lauf der Zeit“, Gespräch mit Valery Shubinsky) gesagt, dass Sie mit jedem neuen Roman, jedem neuen Theaterstück nicht bloß einen neuen Text, sondern eine leicht andere Literatur schreiben. Wie verhält sich das bei den Gedichten (hier ist der Übergangspunkt doch weitaus weniger klar)? Gibt es das Gefühl einer begonnenen oder abgeschlossenen Phase, eines Umbruchs, nach dem das Schreiben begann, anders zu werden – vielleicht unbemerkt vom Leser oder Kritiker, aber für Sie selbst bemerkbar?

OJ: Wenn man eine direkte Analogie sucht, sollte man wahrscheinlich untersuchen, ob bei mir nicht jedes einzelne Gedicht „eine leicht andere Literatur“ ist. Schließlich war doch nicht von Abschnitten meiner Biographie die Rede, sondern von den Texten selbst. Wenn das bedeuten würde, dass jedes Gedicht idealerweise sein eigenes Gesetz und seine eigenen Grenzen hat (somit ergäbe sich, dass jedes Gedicht ein eigener Staat ist), so würde ich mich sogar einverstanden erklären: idealerweise. D.h.: Das wäre gut. Inwieweit es aber so ist, das müssen schon andere beurteilen.
Ich verstehe natürlich, was Sie eigentlich fragen, und fange wahrscheinlich leicht ausweichend an. Zum Aufwärmen. Denn über eigene Gedichte zu reden, das ist ganz und gar nicht dasselbe, wie über Prosa oder Theaterstücke zu sprechen. Denn Prosa oder Theaterstücke schreibst du – im Voraus und/oder während des Schreibens überlegst du, was und wie. Gedichte aber werden durch dich geschrieben.

Oder lassen Sie mich versuchen, ein Bild aus meinem ersten Prosabuch, den „Spaziergängen unter dem Hohlmond“, zu benutzen. In einer Erzählung dort verwandelt sich der Erzähler „in einen von innen unbestimmbaren Vogel und fliegt, schwer mit den Flügeln schlagend, über die quietschende, vor einer Ampel ächzende, gelbsaitige Harmonika des Autobus Nummer dreißig“. Der Vogel ist in dem Sinne “von innen unbestimmbar”, dass du, wenn du dich in ihn verwandelst, von innen nicht sehen kannst, ob du eine Dohle bist, eine Gabelweihe oder irgendein Goldkopfkernknacker aus Amerika. Du fliegst einfach.

Jedes Gedicht ist ein von innen unbestimmbarer Vogel. Um glücklich zu sein, genügt es, dass es ein fliegender Vogel und kein Huhn ist. Jedes Gedicht ist ein von innen unbestimmbarer Vogel, und du bist drinnen. Somit bist du auch selbst ein von innen unbestimmbarer Vogel.

Um zu Ihrer Frage zurückzukehren: Ich kenne in meinem Gedichteschreiben zwei Grenzen sehr gut. Eine zwischen dem Jahr 1980 und dem Jahr 1981, seit dem ich richtige Gedichte schreibe. Das war eine (für mich und für die Menschen in meiner Umgebung) offensichtliche und ziemlich schnell und ziemlich qualvoll entstandene Mutation. Irgendwann stellte sich heraus, dass ich Gedichte auf die überall gebräuchliche Weise, d.h. durch Ausdrücken eigener Empfindungen, Gedanken und Vorstellungen mit dieser oder jenen technischen Beschlagenheit, einfacher gesagt, durch Selbstmitteilung, nicht mehr schreiben konnte und nicht mehr schreiben wollte. Ich fing an, das Schreiben von Gedichten als Mittel aufzufassen, den mich umgebenden Raum zu erweitern. Nicht einmal mein Bewusstsein, sondern die objektive Welt. Ich fing an, Gedichte nicht als Nachrichten von jemandem an jemanden zu betrachten, sondern als Räume, die geschaffen werden. In die man hineingelangen und in denen man sogar wohnhaft werden und leben kann, die aber auch eine Weile leer sein können. Hauptsache, es gibt sie. Aus meiner Sicht hat ernsthafte Literatur keine direkte kommunikative Funktion (natürlich hat sie eine indirekte, aber diese hat alles Seiende).

Wenn man mich jetzt fragen würde, wozu ich Gedichte schreibe, würde ich das höchstwahrscheinlich viel einfacher ausdrücken: Ich schreibe Gedichte, um herauszufinden, worüber sie sind. Das ist sozusagen mein persönliches Interesse. Aber das ist eher eine Übersetzung der Vorstellung von der Erweiterung der Welt in die alltägliche Informationssprache.

Ebenjene „Mutation aus dem Jahre 1981“ hat alles in meinem Leben verändert. Ich bin dem Schicksal unendlich dankbar dafür, dass das passiert ist, obwohl ich natürlich verstehe, dass ich es mit den „vorigen Gedichten“ deutlich einfacher im Leben hätte.

Und die zweite Grenze waren einige Jahre Ende der neunziger Jahre, als ich fast aufgehört hatte, Gedichte zu schreiben. Ich weiß nicht, womit das zusammenhing – vielleicht damit, dass ich einfach keine Kraft für Gedichte hatte – die Prosa verbrauchte alles. Vielleicht aber auch mit der Theorie, die ich mir unverzüglich für mich ausdachte, als das Schreiben von Gedichten deutlich schwerer als normalerweise geworden war. Die Theorie war die folgende: Russische Dichter fallen um das Alter von siebenunddreißig Jahren herum (das Alter, in dem Puschkin starb) in eine gewisse Zone des Schweigens, eine Art Starre. Es scheint, dass die Quelle versiegt ist. Das ist nicht notwendigerweise mit einem völligen Nicht-Schreiben von Gedichten verbunden, aber meistens tritt dieses tatsächlich auf. Diese Pause, diesen schrecklichen Abschnitt aus einigen Jahren, in denen die Welt scheinbar verstummt ist, nicht mit dir redet und nicht auf dich reagiert, überlebt man unter Umständen schlicht und einfach physisch nicht, manchmal geht man aber auch als ein völlig anderer Dichter daraus hervor. Aber das Schrecklichste ist natürlich, nicht zu warten, bis die Welt wieder mit dir spricht, und durch einen Willensakt anzufangen, „Gedichte zu schreiben“. Zu einem Vogel bekannter Art zu werden.

Frage: Man hat das Gefühl, dass Ort und Zeit bei ihnen keine Dekoration zum Text sind, kein eitler Vermerk, wie sie oft von Autoren am Ende eines Gedichtes angeführt werden, wie auf einem Urlaubsfoto, sondern Hauptfiguren des Textes –schon im Titel oder in den ersten Zeilen benannt, teilen sie dem Leser den Fokus der Aufmerksamkeit mit. Heißt das, dass auch für den Autor Ort und Zeit wichtigste Ausgangspunkte sind, eine Art Sinnschlüssel zu einem sich erst im Aufbau befindenden Text?

OJ: Ich bin eigentlich überzeugt, dass jedes Gedicht – ob es nun eine Angabe des Handlungsortes enthält oder nicht – irgendwo passieren muss. Gedichte, die nirgendwo passieren, sind im Grunde keine Gedichte, sondern bloß – Worte. Ich muss nicht immer unbedingt verstehen, wo die Gedichte passieren, die ich lese (es reicht, dass ich fühle: Irgendwo passieren sie sicher), aber bei Gedichten, die ich schreibe, weiß ich fast immer sehr genau, wo das ist und wie dieser Ort aussieht. Eigentlich sehe ich ihn und befinde mich in ihm. Manchmal weiß ich erst nicht, wo ich bin, und erst, während ich das Gedicht vollende, verstehe ich: Schwarzmeerküste, Gantiadi, Anfang der 80er Jahre. In diesem Sinne ist die Zeitangabe keine Zeitangabe im eigentlichen Sinne, jedenfalls keine Angabe der Zeit, zum Kampf gegen welche (wie ich mir einst sicher war) oder zur Koexistenz mit welcher in irgendeiner Form, den Kampf natürlich eingeschlossen (wie ich jetzt etwas erweitert glaube), die Literatur existiert.

Man kann es auch so sagen: Ich schreibe Gedichte, um herauszufinden, wo sie passieren.


(Aus dem Russischen von DANIEL JURJEW)