facebook - Kommentare zum Interview mit Axel Kutsch

Interview

Im Gespräch:
Hans-Jürgen Hilbig und Clemens Schittko
 

Interview

facebook -Kommentare zum Interview mit Axel Kutsch

Ein Post des Interviews von Gerrit Wustmann mit Axel Kutsch hat eine ungewöhnlich lange Diskussion ausgelöst, die wir unseren Nicht facebook Lesern nicht vorenthalten möchten.   NICHT KORRIGIERT,  NICHT KOMMENTIERT, in voller Länge.

Hans Jürgen Hilbig: Diese Interview klingen immer gleich Julietta, mach dich mal eins mit mir, ich sag sicher was anderes :-)

Julietta Fix:
das mache ich. bin gespannt.

Manfred H. Freude
: Da kann man nur vor Ausgewogenheit und Professionalität, sowohl des Herausgebers, als auch vor dem Verlag den Hut ziehen. Weiterso. Es lebe die Lyrik!

Hans-Jürgen Hilbig:
die Lyrik und die Räterepublik :-)

Clemens Schittko:
das interview, lieber hans-jürgen, würde sicherlich spannender klingen, wenn der interviewer nicht selbt in der besprochenen anthologie mit gedichten vertreten, sondern ein unabhängiger kopf wäre. aber ich will jetzt auch kein öl ins feuer gießen. ;-) es lebe die lyrik, yeah!

Hans –Jürgen Hilbig:
aber doch clemens, natürlich, lass uns doch ein wenig ölen, ich glaube ja manchmal ich bin mit meiner meinung ganz alleine, eben dass dieser literaturbetrieb sich im netz immer nur selber feiert, ich glaube gar julietta gefällt es wenn es so etwas gibt wie auseinandersetzung, ansonsten hat sich im netz doch jeder nur lieb, außer mich natürlich und auch dass kann man ja wieder interpretieren, dass da jemand sich nicht dazugehörig fühlt, im abseits steht usw, aber gehts in der Literatur um Gruppenbildung oder geht es um den Text?

Clemens Schittko:
‎@ hans-jürgen: fühlst du dich denn nicht dazugehörig? stehst du denn im abseits? ein blick auf dein profil verriet mir eben, dass du es hier auf annährend 1.000 "freunde" bringst. das ist doch allerhand für einen (vermeintlichen) outcast. ...vielleicht zeigt ja dein empfinden, dass sich jeder im netz lieb hat, nur, dass unsere demokratie "funktioniert" und scheinbar gegenteilige positionen nicht nur tolerabel, sondern sogar integrierbar sind. vorbei die jahrzehnte und jahrhunderte deutscher geschichte, in denen versteckt oder offen denunziert, intrigiert etc. und von den (feinen) unterschieden, nicht aber von den gemeinsamkeiten her gedacht wurde. was ich beim ersten an-lesen von versnetze_drei erstaunlich fand: das, was ich bislang hier in berlin als - sagen wir - lyrische subkultur wahrgenommen habe, fällt in der masse des mainstreams (naturlyrik, dekonstruktivistische poesie etc.) als solche so gut wie gar nicht mehr auf. haben die untergrund-dichter nur verträgliche gedichte eingesandt, um überhaupt veröffentlicht zu werden? wählte der herausgeber unter den vermeintlich radikalen texten die sanftesten aus? ich weiß es nicht...

Hans-Jürgen Hilbig:
Das mit den Tausend Freunden ist sehr relativ, mit den wenigsten schreibe ich mir, aber die wenigen schätze ich sehr und die anderen auch. Es gehört irgendwie in diese Welt, dass man Facebookfreunde hat mit denen man nichts zu tun hat, dene...n man höchstens gratuliert weil sie Geburtstag haben und die, wenn man sie auf der Strasse treffen würde, am Ende nicht einmal erkennen oder verstehen würde, wie auch, wo manche aus Rumänien, oder Bosnien oder auch aus anderen Ländern kommen.
Aber ich mag sie eben alle und es sind mir noch viel zu wenige Rumänen und Bosnier und Serben und Kroaten.
Zu letzteren möchte ich doch etwas sagen, schau dir doch mal die Welt an und schau dir dann an, was es an Literatur gibt, es gäbe eine menge zu erzählen, in jeder einzelnen Wohnung lauern Geschichten oder auch Gedichte.
Nun kann man von niemanden verlangen dass er sich mit diesen Wohnungen verbündet und die Geschichten aufsaugt, man kann am Ende sogar überhaupt nichts verlangen und wenn ein Dichter einen Dachziegel beschreiben kann, so kann dass ein ausgezeichntes Gedicht sein.
Aber der Dichter muss wissen wo er steht und da geht eben gründlich alles baden.
Ich habe irgendwo geschrieben, der Dichter muss immer bei den Armen sein, das ist ein schrecklicher Satz, weil er ausscjliesstr, aber vom Gefühl her gäbe ich dem Satz recht.

Volker Sielaff:
Der Halbsatz mit dem Dachziegel gefällt mir.

Clemens Schittko
: @ Hans-Jürgen: Der Dichter muss bei den Armen sein... Das erinnert mich etwas an Garcia Lorca. Reiste der nicht durch die spanische Provinz, um den sogenannten "einfachen Leuten" Lesen und Schreiben beizubringen, damit diese dann seine Ged...ichte lesen konnten? Dieses Vorgehen ist im Grunde zutiefst sozialistisch. Andererseits muss der Dichter gar nicht bei den Armen sein, da er in der Regel ja selbst schon (materiell) arm ist. Durch (kleinere) Literaturpreise und -stipendien wird man hierzulande sicher nicht reich. Und wer sind eigentlich die Armen? In unserer Leistungsgesellschaft oft auch die sogenannten "bildungsfernen Schichten". Menschen, die sich für Lyrik nicht interessieren, weil sie es nie gelernt haben, ein Gedicht zu lesen. Das Problem ist auch, dass die Armen hierzulande immer noch so reich sind, dass sie sich nicht mit anderen Armen solidarisieren müssen, sondern in ihren Wohnungen für sich bleiben können. Man kommt halt irgendwie über die Runden, nicht wahr? Und genau dieses Nicht-Solidarisieren ist ja politisch gewollt.

Hans-Jürgen Hilbig: Gegenüber den Reichen sind die Armen hier schon arm und ich finde es natürlich schön dass Dir zuerst einmal Lorca einfällt, den Lorca gehört unbedingt zu meinen Helden und Erich Mühsam auch und Ilse Aichinger und Ernst Toller und auch Garci...a Marquez und sie alle wussten und wissen (Frau Aichinger lebt ja noch gottseisgedankt) genau hinzusehen und wenn man heute durch die Städt geht, zum Beispiel Giessen, stellt ma fest dass die Armut angekommen ist.
Und darüber kann man schreiben und kann man anschreiben, natürlich muss der Dichter nichts, kein Mensch kann sagen was ein Dichter tun soll, nur ist es nicht das schlechteste wenn sich gerade jemand der sich mit Sprache auseinandersetzt das hinsehen nicht vergißt.
Nenn mir auch nur einen einzigen Roman in dem es um Arbeitslosigkeit geht, um Armut und mit Armut meine ich durchaus nicht nur Arbeitslose, es gibt genug Frauen und Männer die für sechshundert Siebenhundert Euro im Monat arbeiten müssen, die anderen finden gar nichts, andere wieder machen Überstunden ohne Ende, haben Stress ohne Ende, wo das hinführt kann ich dir sagen, eine Frau die ich sehr gerne hatte, ist vor Jahren in den Graben gefahren und ist später gestorben, eine andere ist an der Autobahn beinah umgekommen, weil irgendein Idiot meinte zu überholen...
Das Leben steckt voller Geschichten und wer sie nicht erzählt sind die Dichter in diesem unseren Lande.
Natürlich sind das Vorurteile, Vorurteile sind immer seltsam, sie haben einen merkwürdigen Geschmack, aber eines weiß ich, ich bin bei Dichtern wie Mühsam, bei Rolf-Dieter Brinkmann, bei Beckett und so weiter, weil sie das Leben nicht bloßstellen, weil sie sich nicht drüberstellen.
Es gibt keine besseren Menschen, ein Dichter ist kein besserer Mensch als ein Arbeiter und einer der nicht liest, liest eben nicht, er verpasst eine Menge, aber kann man etwas dagegen tun? Nein, er muss selber drauf gekommen, ich bin selber drauf gekommen und ich möchte es nicht mehr vermissen

Clemens Schittko:
Du erwähnst Giessen... Ich kann das mit Berlin, meinem Geburts- und Wohnort, locker toppen. Hier ist jeder fünfte auf die sogenannte soziale Mindestsicherung, sprich Hartz IV, angewiesen. Auch gibt es keine höher verschuldete Stadt in der R...epublik als die Hauptstadt. Kein Wunder, dass hier Rot-Rot im Senat regiert (wenngleich die auch nur Politik für die Vermieter bzw. Wohnungseigentümer machen), kein Wunder, dass kein berliner Fußballverein in der 1. Liga spielt (das gibt es bei keiner anderen europäischen Hauptstadt).
Es ist sicher richtig, FÜR etwas bzw. jemanden zu schreiben als dagegen, weil es spätestens seit Adornos Kritischer Theorie viel einfach geworden ist, Bestehendes zu kritisieren, als noch irgendetwas zu finden, wofür es sich "kämpfen" lässt. Apropos... Gestern meinte ein Oppositionspolitiker im Parlament, man müsse nicht nur Armut bekämpfen, sondern vor allem auch Reichtum. Das bleibt dann von so einem Fernsehtag hängen.
Wer für jemanden schreibt, kann letztlich nur wollen, dass die, für die man schreibt, das auch lesen, was man schreibt; ansonsten kann man sich das Schreiben wohl schenken. Und hier genau ist das Problem: Die Armen verfügen in der Regel nicht über die Kaufkraft, um sich die heutzutage recht kostspieligen Lyrikbände anzuschaffen. Und selbst wenn sie es können: Viele sind in unsere Leistungsgesellschaft auch, aber nicht nur, deshalb arm, weil sie von Bildung ausgeschlossen werden. Das Lesen von Gedichten setzt aber Bildung voraus - aufgrund der Verdichtung der Sprache in der Regel sogar mehr als bei den meisten anderen Literaturgattungen. Hinzu kommt, dass man als mittelloser Mensch nicht ständig (mittels Lyrik) an seine Mittellosigkeit erinnnert werden möchte, weil das mitunter ein schmerzhafter Prozess der Selbstverortung und -reflexion sein kann. Wer akzeptiert schon gerne (seine) Armut? Die allermeisten probieren ja trotzdem irgendwie, noch (bessere) Jobs zu finden, um einen gewissen Kreislauf zu verlassen. Daher fehlt oft dem einzelnen Mittellosen das Bewusstsein für andere Mittellose. Da man schaut, die wenigen halbwegs interessanten Jobs, die angeboten werden, zu ergattern, sehen sich viele eher als Konkurrenten denn als "Schicksalsgemeinschaft". Das könnte man auch die Ideologie des Kapitalismus nennen, die von oben heruntergedrückt wird: Die da unten sollen sich nur nicht solidarisieren, um gemeinsam aufzubegehren.
Wenn schon die akademischen Lyriker, die noch für ein Restbildungsbürgertum schreiben, nicht so genau wissen, wer ihre Leser eigentlich sind, dann weiß man das als - sagen wir - linker Dichter, der für die Unterprivilegierten schreiben möchte, erst recht nicht. Armut zeigt sich oft ja nicht mehr auf der Straße. Sie spielt sich vielmehr anonym in der eigenen Wohnung ab, die das Amt bezahlt. Und für einen Internetzugang reicht es zum Glück oft auch noch. So gesehen findest Du die heutigen "Geschichten", die es zu erzählen gilt, weniger auf der Straße als in irgendwelchen Foren und Blogs.
Das finde ich auch konsequent. Es wird immer so viel von der Beschleunigung unserer Zeit gesprochen. Das Internet beweist mir jedoch gerade das Gegenteil: Das Lesen und Schreiben geht doch physikalisch und kognitiv viel langsamer von statten als das Reden und Zuhören auf der Straße. Ich sehe das hier eher als Entschleunigungs- denn als Beschleunigungsmedium. Dem Gerede auf der Straße ist man zumeist unmittelbar ausgeliefert. Den Blogs und Foren im Internet kann man sich entziehen; es sei denn, man ist süchtig (danach).

Hans-Jürgen Hilbig: Unterschätz mal die Strasse nicht, dort spielt sich noch immer das Leben ab und das mit allem was man haben will, das kann witzig, das kann traurig sein, das kann tragisch und mörderisch sein.
Wo auf den Blogs siehst du zwei Menschen die sic...h vor einer Ampel küssen, sich sehr fest umarmen so das alles um sie rot anläuft, mitsamt der Ampel?
Nein, ich glaube nicht dass es ein gutes Mittel ist den Reichtum zu bekämpfen, eher das Gegenteil und das Gegenteil ist nach meiner Meinung nicht ihn zu loben, sondern ihn einfach hinzunehmen, es gibt ihn, na und? Es gibt Frauen mit langen dunklen Haaren, mit Augen die schon lange auf keine Zuatzzahlen mehr warten, diese Frauen wahrzunehmen ist schon ein Glück und es gibt die Einbeinigen, die so gar nicht ratlos durch die Strassen gehen und es gibt die Verrückten, die dem Staatsanwalt zu seiner Niederlage gratulieren, diese Geschichten gibt es und sie sind überall, nur nicht in den Blogs, es sei denn es schreibt sie einer auf, aber dann bitte nicht so wie es sich abgespielt hat, sondern im wirklichen Sinne von Literatur.
Was du über Bildung sagst erstaunt mich immer wieder.
Ich saß letztens in einer dieser Massnahmen des Arbeitsamtes, ganz weit vorne saß eine junge Frau, sie trug ein Kopftuch und wollte eine Ausbildung zur Verkäuferin machen, aber überall wurde ihr gesagt, mit dem Kopftuch nicht, auch eine Geschichte, aber nicht die, die ich meine, ich beobachtete sie eine ganze Weile, weil sie die Einzige außer mir war die las. Eines Tages brachte sie ein Buch mit dass ich kannte, es waren Franz Kafkas Erzählungen.
Was ich damit sagen möchte, das Leben ist viel zu vielfältig um es einzuordnen, ich gehöre auch zu der faulen Bande die nicht über die Hauptschule hinausgekommen sind und ich war wirklich faul, oder abwesend oder wie auch immer und trotzdem kann ich mir ein Leben ohne Literatur nicht vorstellen und noch etwas, die Hauptsache ist doch das Eintracht Frankfurt in der ersten Bundesliga spielt

Elke Engelhardt: Arm dran – über das Wesen von Unterschieden
Gestern habe ich ein Interview gelesen. In diesem Interview unterhielten sich zwei über Lyrik und unversehens auch über Armut. Die ganze Zeit und doch nur nebenbei. Sie sprachen von anderen Dichtern und davon, dass es Armut nicht gibt und immer gegeben hat. Was Armut ist, sagten sie nicht. Weil man das vermutlich nicht sagen kann. Weil das vermutlich jeder anders sagt. Es gibt diese Definitionen. Es gibt Millenniumsgipfel, die keine Verpflichtungen eingehen, es gibt Unterscheidungen in relative und absolute Armut. Aber was bitte sagt das aus? Was sagt das für einen, der nicht weiß was Armut ist, aber hinsehen will? Und was für einen, der arm ist, aber seine Würde behalten möchte. Vereinsamt, unsicher, unglücklich, diese Begriffe finde ich als etymologische Entsprechungen für das Adjektiv arm. Armut hat also etwas mit Ausschluss zu tun. Und obwohl es die Armut ebenso wenig gibt, wie die Gesellschaft, gibt es diejenigen die hinsehen und andere, die gar nicht weggucken können und es gibt diese Welt, dieses Land, dieses System, in dem wir leben, nennen wir es der Einfachheit halber Gesellschaft, die immer mehr Menschen sehr deutlich zeigt, dass sie überflüssig sind. Eine Gesellschaft, die so handelt, die solche Signale gibt, nenne ich arm. Und von diesem Gedanken ausgehend, liegt die Vermutung nahe, dass Überfluss dasjenige Phänomen ist, das Armut erzeugt. Nicht nur der Überfluss der einen, der die Armut der anderen erzeugt, sondern abstrakter, allgemeiner und gleichzeitig persönlicher: Überfluss erzeugt Armut. Aus einer (möglichen) Balance wird ein (gefährliches) Ungleichgewicht. Das ist kein neuer und kein origineller Gedanke, aber auch keiner, dem wir uns stellen. Lieber empören wir uns über Parallelwelten, oder darüber, dass Integration (von der wir genau zu wissen glauben, wie sie funktionieren muss; eben nicht durch Zusammenwachsen sondern durch Anpassung) nicht so schnell und reibungslos vonstatten geht, wie es geplant war und ziehen uns selbst in Parallelwelten zurück, in denen jeder Gleichgesinnte findet. Darüber versäumen wir nicht nur das errötende Leben an den Ampeln unserer Städte, sondern sogar dieses Versäumnis wahrzunehmen oder gar zu bedauern, denn das können wir ja später nachlesen, in den entsprechenden Blogs. Und was uns nicht passt, wer uns nicht passt, den löschen wir wieder. So können wir leichthin behaupten, wir seien tolerant.
Aber erst wenn Goldmarie auf Pechmarie trifft, begreifen beide den Unterschied. Vor kurzem hörte ich einem klugen Menschen im Radio zu (leider kann ich mich weder an seinen Namen noch an den genauen Wortlaut dessen, was er gesagt hat erinnern), der erklärte, dass die Unterschiede zwischen den Kulturen (es wimmelt hier nur so von abstrakten Begriffen) eine ganz neue (oft unerwartete) Dringlichkeit erfahren, wenn z.B. türkische und deutsche Kinder miteinander spielen. Die Lösung, sagte dieser kluge Mensch, bestände allerdings nicht darin, die Ethnien zu trennen, auch nicht im Versuch, das was nicht gleich ist, abzuwerten, sondern in den Unterschieden nach einer Gemeinsamkeit zu suchen. Das ist der schwerste Weg, aber auf lange Sicht der einzig gangbare.
Welche Gemeinsamkeiten zwischen arm und reich bestehen, liegt auf der Hand. Ebenso die Tatsache, dass solange wir das nicht begreifen, jeder einzelne von uns arm dran ist.