Bildungsmisere

Kolumne

Autor:
Christian Kreis
 

Kolumne

Bildungsmisere

Ich bin ein Opfer der Bildung. Auf dem Arbeitsamt habe ich auf Nachfrage eingestehen müssen, nicht nur ein, sondern sogar zwei Studienabschlüsse zu besitzen. Ich bin wohnhaft in Halle, Sachsen-Anhalt, und die Betonung liegt auf Haft. Beide Studienabschlüsse habe ich mit sehr gut abgeschlossen, was meine Lage nur noch verschlimmert hat. Die Fallmanagerin war angehalten, meine Kompetenzen auf einer Vierer-Skala (Grundkenntnisse bis Expertenwissen) anzukreuzen. Sie mußte fast überall ihr Kreuzchen bei Expertenwissen machen. Ein tiefroter Balken zeigte an, daß in ganz Sachsen-Anhalt kein Job für jemanden wie mich zu finden war. Der Ministerpräsident tritt zur nächsten Wahl zwar nicht mehr an, Neuwahlen sind jedoch erst im Frühjahr vorgesehen. Soll ich bis dahin eine Weiterbildung machen? „Bloß nicht!“, meinte die Fallmanagerin, um dauerhaft in Arbeit zu kommen, müsse ich konsequent mein Niveau senken. Bis zum nächsten Termin, schließe sie mit mir eine Eingliederungsvereinbarung ab, worin ich mich verpflichte, alles dafür zu tun, wieder für einfachere Tätigkeiten zur Verfügung zu stehen. Folgende Bemühungen zur Eingliederung in Arbeit seien für mich bindend.

1. Lektüre von Büchern ist zu vermeiden. Für die Einübung ins Mittelmaß wird die tägliche Lektüre der Mitteldeutschen Zeitung nahegelegt.
2. Sie verpflichten sich, über den Tag verteilt mindestens fünf Sternburg Pils zu trinken. Das erste jedoch nicht nach 10 Uhr. Getreu dem Motto: Wir stehen früher auf, ist es um sieben am Bahnhofkiosk zu erwerben. Die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um fünf Euro soll für den Erwerb verwendet werden.    
3. Um die Reduktion Ihrer postmaterialistischen Lebenseinstellung auf ein sozial verträgliches Maß zu gewährleisten, ist das Fernsehangebot der Privatsender zu nutzen.   
4. Sie richten Ihr Dasein an den Grundsätzen einer soliden Existenzsangst aus, diese beinhaltet, daß sie jedes Vermittlungsangebot für sich als Chance begreifen.  

Mit diesen Auflagen versehen, ging ich erst mal zu „Jani’s Getränke Eck“, jenes mit dem prekären Apostroph, und kaufte ein Sternburg Pils.
Ich bin natürlich kein Einzelfall. An der dramatischen Überqualifizierung der Menschen hier in Halle sind die beiden Hochschulen schuld, die Martin-Luther-Universität und die Hochschule für Kunst und Design, Burg Giebichenstein. Ich habe mal genau hingesehen und festgestellt: Mein ganzer Bekanntenkreis besteht aus Akademikern, die sich wie blind in die Arbeitslosigkeit hineinpromoviert haben. Und aus Diplomkünstlern, die befähigt sind, hochkomplexe Bildwerke zu schaffen, was zum Weißen einer Wand überhaupt nicht nötig wäre. Und das Schlimme ist, sie kriegen auch noch Kinder. Hier entsteht die nächste Generation bildungsnaher Schichten, die man weder für fünf Euro die Stunde einstellen, noch über materielle Anreize, wie beispielsweise ein Häuschen im Saalkreis, motivieren kann, sich über ihre Verhältnisse am Wirtschaftskreislauf zu beteiligen. Wo soll das hinführen? Diese Haushalte haben zum Teil nicht mal einen Fernseher. Die Phantasie und das Selbstbewußtsein der Kinder wird auf eine Weise angeregt, daß sie es später mal, in den ortsansässigen Branchen, wie den Call-Centern  beispielsweise, sehr schwer haben werden, Fuß bzw. Ohr zufassen. Ich hatte es ja in meinem Nebenjob selbst erfahren müssen, daß es mir nicht leicht von den Lippen ging, einer siebzigjährigen Frau, die ich gerade noch rechtzeitig erwischt hatte, bevor sie zur Beerdigung ihres Mannes aus der Wohnungstür trat, von der Nützlichkeit einer Telefonvorwahl zu überzeugen. Daß mir bald gekündigt wurde, nimmt daher nicht Wunder. Nun weiß Sarrazin zu beweisen, Intelligenz vererbe sich, und wohin das führt, sehen wir ja an Leuten wie mir. Anstatt depressiv vor der Glotze zu hocken mit dem einzig verbliebenen Kollegen in Form einer Flasche Bier, wird der Tag auf provozierende Weise selbst strukturiert. Es entstehen Gedichte, Bilder und Doktorarbeiten. So wird wertvolle Arbeitskraft dem Markt vorenthalten. Hat man je diese Übergebildeten mit servilem Blick sagen hören „Hauptsache Arbeit“, als sie zum Gabelstaplerfahrer rückgebildet werden sollten, was ihnen eine Karriere als Zeitarbeiter ermöglicht hätte?
    
Manchmal, auf dem Weg durch die alternativen Viertel von Halle, wenn ich die attraktiven, alleinerziehenden Akademikerinnen sehe, die auch noch Zeit finden, eigene Projekte voranzutreiben, denke ich mir, ob es nicht besser wäre, wenn ihr Nachwuchs nicht einfach mal kopfüber aus dem Fahrradsitz fallen würde. Ein Schädelhirntrauma kann später bereits eine Anstellung bei Lidl ermöglichen. Für mich ist der Zug längst abgefahren. Ich muß meine Zeit damit verplempern, Gedichte und Kolumnen wie diese hier zu schreiben. Immerhin habe ich mich entschlossen, keine Kinder zu bekommen. Es reicht, wenn sich einer in unserer Familie vorsätzlich bis zur Unvermittelbarkeit gebildet hat.

PS: Ich habe diese Kolumne bei Faz-net (Rubrik: „Ich schreibe wie“) auf ihren Schreibstil hin überprüfen lassen. Ildiko von Kürthy statt Thomas Mann ist das Ergebnis. Es muß ein Softwarefehler passiert sein.