Die Zeit finden oder: Wie man zu Marcel Proust kommt

Essay

Autor:
Gisela Noy
 

Essay

Die Zeit finden oder: Wie man zu Marcel Proust kommt

Merkwürdig genug: im Französischunterricht begegnete er mir nicht, obwohl dort von Racine bis Camus alles aufmarschierte, was Rang und Namen hat. Marcel Proust begegnete mir Jahre später, unverhofft auf einer Urlaubskarte; eine Kommilitonin – sie studierte Psychologie – schrieb mir (auf der Rückseite einer Landschaft, an die ich mich nicht mehr erinnere) ein Sätzchen, das hängenblieb: „Lese hier Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und stelle wieder einmal fest, dass die Dichter doch die besseren Psychologen sind.“ Ich setzte den Roman damals nicht auf meine Bücherliste. Aber das Apercu senkte sich ab, tief in mein Gedächtnis. Blieb da hocken, auf Abruf. Wurde zu einer jeder Erinnerungen, die, scheinbar geringfügig,  im gegebenen Moment ihren verborgenen Reichtum entfalten und uns zu etwas führen, das verloren schien. Von solchen Erinnerungen lebt auch Prousts Recherche. Der gegebene Moment freilich bleibt abzuwarten, Bücher haben ihre Zeit. Nicht nur die, in der sie geschrieben werden, auch die, in der der jeweilige Leser für sie bereit, geöffnet, reif ist, in der er dieser Lektüre bedarf wie einer Labsal.

Weitere zehn Jahre waren vergangen und Umstände, die denen des Autors, als er sein Werk verfasste, nicht unähnlich waren, mussten hinzu kommen, dass ich meinen Buchhändler bat, mir zehn Bände Proust ans Krankenbett zu liefern. Wer krank ist, dem verändert sich die Zeit. Nicht nur, dass er plötzlich „mehr“ davon besitzt und dieses Mehr ihm paradoxerweise als Lücke erscheint, die es zu füllen gilt; nun läuft sie auch nicht mehr davon, die Zeit, sie steht zur Verfügung, sozusagen rund um die Uhr. Nicht mehr eingeteilt in die getakteten Aktivitäten des „Tagwerks“, die Fixpunkte im Terminkalender, die Auszeit des Nachtschlafs (als solche also immer schon entzogen), stand sie nun „rein“ vor mir und blickte mich fordernd an: ich sollte etwas mit ihr anfangen. Ich sagte zu ihr: ich werde dich ver-lesen, nicht vertun. Aber nicht irgendwie. Ich verspürte den Wunsch, in der Zeit selber zu lesen. Ich wollte die Zeit verstehen. Fördernd mag hinzugekommen sein, dass ich mich inzwischen, wie ein Freund scherzhaft bemerkte, im „klassisschen“ Alter befand. Ihm ging es wie mir: immer häufiger ließen wir die Neuerscheinungen links liegen und griffen wieder zu den Klassikern, die uns früher gelangweilt hatten (lag es daran, dass sie uns „zur falschen Zeit“ verordnet wurden?). Nun suchten wir, was bleibt, was nicht kurz hoch- und wieder weggespült wird, sondern einmünden darf in den ewigen Fluss der Wiederkehr.
 
Wie viele, selbst passionierte Leser, besaß ich eine Abneigung gegen dickleibige Romane. Mochten
sie köstlich sein wie der Griesbrei im Schlaraffenland – sich hindurchzuarbeiten schien allemal mehr Arbeit und Geduld als Vergnügen und Kurzweil zu versprechen. Nun aber freute ich mich auf 3000 Seiten erzählender, reflektierender, dialogisierender und kommentierender Prosa, freute mich darauf wie auf einen Gefährten, der mich für längere Zeit ein Stück Wegs begleiten würde. Und meine Erwartungen wurden nicht enttäuscht.

Wo nahm, so fragte ich mich beim Lesen,  Marcel Proust, das asthmatische Kind, den langen Atem her, als er das immense Werk in der Abgeschiedenheit seines schall- und luftdichten Korkzimmers verfasste? Er ahnte den Tod, so denke ich mir, er atmete bis zur letzten Zeile, dann durfte er sterben. Er atmete aus der Erinnerung, atmete sein Leben noch einmal ein und wieder aus, bis es, wiedergefunden, vor ihm stand und er Abschied nehmen konnte. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist das Werk einer großen, liebevollen, zärtlichen Erinnerung, in der, weit entfernt von sentimentaler Schönfärberei, auch das maliziöse Lächeln des Gesellschaftskritikers (und Snobs!) Platz hat, auch die illusionslose Nüchternheit des unglücklich Liebenden, der weiß, dass, was er liebt, im Liebenden, nicht im Geliebten wohnt, auch der entlarvende Blick auf  Menschliches-Allzumenschliches, das Gaukelspiel der Eitelkeiten, die Entwürdigungen des Lasters, die Hinfälligkeit des Körpers samt seiner Lächerlichkeit, wenn er nicht altern darf, die Not des Sterbens. Aber weder Bitterkeit noch der Wunsch abzurechnen, dirigieren diese Erinnerungsarbeit, in der noch unter der resigniertesten Einsicht die Liebe des Kranken zum Leben, die Sehnsucht des Todgeweihten, ein verloren geglaubtes Glück wiederzufinden, aufblitzen.

Alles Erkennen, so Platon, sei Erinnern, Erinnern an ein zuvor Geschautes. Proust erinnert sich, nicht indem er die im Gedächtnis gespeicherten Daten systematisch absucht, Proust lässt sich von der Erinnerung einholen und überwältigen, und zwar da, wo sie am tiefsten eingegeraben ist: in seinen fünf Sinnen. Sein Roman entsteigt dem Duft einer Tasse Tee, dem Geschmack eines kleinen Gebäckstücks namens Madeleine, der Traurigkeit über einen verweigerten Gute-Nacht-Kuss. Mit dem wiedergefundenen Duft und Geschmack steigen auf: das Aroma der Kindheit, die Welt (Häuser, Wege, Städte) wo ihm dieser Duft zum ersten Mal begegnete; die Menschen, die ihm den Tee, das Gebäck, die Welt reichten. Weit mehr als ein nacktes Faktum wird erinnert; das Begebnis erreicht die sinnliche Eindrücklichkeit des ersten Erlebens und gewinnt schließlich, geläutert durch die Reflexion des Sich-Erinnernden, die Transparenz der Erfahrung – ein Prozess, der die Sinnlichkeit von ihrer Blindheit, den Gedanken von seiner Blässe befreit, sie vereinigt zum Fest des Lebens.

Die „Essenz der Dinge“ freizulegen,  ist ein Anspruch, den Proust an die Kunst stellt. Und wie löst er ihn ein, wenn immer Essenz nicht nur philosophischer Terminus für das Wesen, das Bleibende im Wandel, sondern auch ein Name für Riechwässer ist! Und wenn Proust einmal behauptet, ein Buch sei  ein großer Friedhof, so blühen und duften auf diesem Friedhof die Weißdornhecken noch so frisch wie in den Tagen seiner Kindheit. Alles fließt. Aber im breit angelegten Strom der Zeit findet Proust jene Untiefen, die, Strudeln und Wirbeln gleich, Vergangenheit und Gegenwart ineinander drehen, sodass das Flüchtig Gegenwärtige beglänzt wird vom Nicht-Vergänglichen im Vergangenen, das Vergangene und scheinbar Vergessene zeitlose Bedeutung gewinnt im der erhellten Gegenwart. „Eine Stunde“, sagt Proust, „ist nicht nur eine Stunde, sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten gefülltes Gefäß.“ Jede Stunde des Tages hat ihr spezifisches Licht, jede Epoche eines Menschenlebens ihren spezifischen Duft (heute würde man wohl hinzufügen: und sound).. Proust weiß davon zu erzählen, weil er sich zu erinnern versteht. „Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen wahrhaft gelebte Leben ist die Literatur, jenes Leben, das in gewissem Sinne bei allen Menschen so gut wie bei dem Künstler in jedem Augenblick wohnt. Sie sehen es nicht, weil sie es nicht dem Licht auszusetzen versuchen, infolgedessen aber ist ihr Vergangenheit von unzähligen Negativen ausgefüllt, die ganz ungenützt bleiben, da ihr Verstand sie nicht „entwickelt“ hat.“
Kunst als Aufhellung des Lebens, als Entwicklung der in uns ruhenden, noch nicht zur Sichtbarkeit gekommenen Bilder, die uns gleichwohl getragen haben durch die Jahre, ohne dass wir es wussten - als ich zu Ende gelesen hatte, war auch mein Krankenlager zu Ende. Ich stand auf, nahm meinen Proust und ging. Wohin? Das Ende des Weges konnte, so viel hatte ich verstanden, von seinem Anfang nicht allzu verschieden sein.

Überflüssig zu erwähnen, dass ein Roman von über 3000 Seiten für jedes Leseinteresse etwas bietet, nicht weil er von allem etwas enthält, sondern weil noch im geringsten Etwas Alles aufleuchtet. Weil einer, der gründlich in sich hineinblickt, die Welt entdecken kann, so gut wie einer, der offenen Auges durch die Welt geht, auch sich selber begegnet.
Was einer liest, wenn er liest, ist nicht nur das Buch in seinen Händen. „In Wirklichkeit“, sagt Proust, „ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.“
So fanden wir uns.

 

Originalbeitrag