Ein eigenes Zimmer.
»Literatur ist wie ein Spinnennetz, vielleicht nur ganz lose, aber dennoch an allen vier Ecken mit dem Leben verknüpft.« (Virginia Woolf: Ein eigenes Zimmer)
Vor etwa einem Jahr schicke ich einen Auszug aus meinem aktuellen Projekt nach Schwaz ans dortige Literaturforum. Stadtschreiberstipendium für zwei Monate. In dem festen Glauben, dass das wahrscheinlich sowieso nichts wird. Wie so oft, wie so vieles. Denn, worüber (wir) alle nach wie vor kaum bis gar nicht schreiben, sind all die Absagen oder Nichtantworten, die das Schreiben und der Wunsch zu veröffentlichen mit sich bringt. Das Warten, das Enttäuscht-Sein. Das Wiederanfangen. Vielleicht sogar verstärkt, wenn man wie ich, sich erst jenseits der immer noch magischen Altersgrenze von 35 Jahren zum Schreiben entschließt. Und folglich habe ich mir bis dato auch überhaupt gar keine bis wenig Gedanken darüber gemacht, wie so ein Stadtschreiber-Aufenthalt bei uns zuhause organisiert sein könnte. Mit Familie, mit beruflichen Verpflichtungen, mit einem sozial vernetzten Leben, kurzum mit Bindungen, die sich nicht alle einfach so für zwei Monate Schreiben ad acta legen oder unterbrechen lassen.
»Im Allgemeinen sprechen äußere Umstände dagegen. Hunde bellen; Leute unterbrechen; Geld muss verdient werden; die Gesundheit versagt. Hinzu kommt, all diese Schwierigkeiten verstärkend und noch unerträglicher machend, die notorische Gleichgültigkeit der Welt. Sie bittet Menschen nicht darum, Gedichte und Romane und Geschichtswerke zu schreiben; sie braucht sie nicht.«
Vor etwa einem halben Jahr breche ich nach Schwaz auf. Nach Österreich, nach Tirol. Nähe Innsbruck. Acht Stunden Zugfahrt. Ohne Verspätung, also, wenn es gut geht. Von Erftstadt aus gefühlt eine kleine Weltreise. Zumindest für mich. In meinem Kopf das ganz große Rabenmutter-Gefühl, kurzum: ein irrsinnig schlechtes Gewissen. Gegenüber meiner Familie. Und Sorge, ob das alles klappen wird, gut gehen wird, so ein klammes Gefühl im Magen. Das mit steigender Distanz weniger wird, soviel Ehrlichkeit muss sein, die Vorfreude nimmt sich deutlich ihren Raum. Und wahrscheinlich beginne ich auch erst auf der Fahrt konkret nachzudenken, was so ein Stadtschreiber-Stipendium für mich bedeutet. An Zeit. An freier Zeit, die ich nach Belieben selbst füllen kann. Ein Gedanke, der mich auch unruhig macht, in mir arbeitet; mir klar macht, wie sehr ich in meinen Alltagsstrukturen seit Jahren verwoben, aber auch aufgehoben bin. Ohne großes Nachdenken. Im Koffer habe ich auch Friederike Mayröcker. Das Herzzerreißende der Dinge.
ich sitze am äußersten rand eines astes …
Vor etwa einem halben Jahr beziehe ich das erste Mal seit langem ein eigenes Zimmer. Genau genommen: Eine eigene kleine Wohnung. Im ehemaligen Kloster, noch genauer: Im umsorgten Wohnen. Zweiter Stock, links vor der Kapelle. Mit Ausblick auf den Berg. Die Routine stellt sich schnell ein: Ich stehe früh auf, lese, schreibe ein paar Seiten. Erkunde den Ort. Finde mich schnell ein, schneller als gedacht. Staune über die Freundlichkeit, die Offenheit um mich. Nicht zuletzt über das Umhegtsein vom dortigen Literaturforum (eine helle Freude ist das). Ertappe mich aber auch bei Unsicherheiten. Etwa beim Einkaufen, dann, wenn ich den gewohnten Familieneinkauf wieder in einen Einkauf für mich allein umwandle: Kleine Butterstücke, kleine Milchtüten, unabgepacktes Gemüse suche; anderen Müttern, anderen Vätern mit ihren Kindern nachsehe, meinen klammen Magen unterdrücke und nicht sofort zuhause anrufe. Und manchmal eben schon.
»Von Bedeutung ist allein, dass Sie schreiben, was Sie schreiben möchten.«
Was bleibt: Das Rabenmutter-Gefühl. Wie ich es auch drehe und wende. Besonders stark an den Tagen, an denen ich kurz zu Hause bin und wieder aufbrechen muss (eigentlich darf). Die Fragen der Kinder. Ob das sein muss. Ihr Bekräftigen, dass sie das alles gut finden. Ihre Erzählungen aus der Schule, von anderen Kindern. Von Kindern, die erklären, dass ihre Mutter sie nie so lange alleine lassen würde. Dass das doch seltsam sei. Mein Schweigen, das klamme Gefühl im Magen. Auch dann, wenn ich anderen erkläre (»Du machst ja zwei Monate Urlaub, oder?«), dass so ein Stadtschreiber-Stipendium nicht nur Urlaub sei. Im Gegenteil, dass Schreiben auch immer Arbeit ist. Ein Herstellungsprozess, das Verknüpfen von Sprachmaterial zu einem sinnhaften Textstück. Dass die Kinder auch profitieren würden, dass sie teilhaben an meinem Schreiben, zumindest dem Versuch davon. Dass sie neue Leute kennenlernen, ihre Mutter an einem anderen Ort erleben, jenseits der Alltags-Verflechtung. Dass ein eigener Raum manchmal notwendig ist. Noch dazu, wenn es eine finanzielle Vergütung dazu gibt. Raum und Lohn kurz gefasst also nicht nur Luxus per se, sondern auch Bedingung fürs Schreiben sind, sein können. Dass der (aka mein) Kopf dann anders denken kann, dass es sich anders schreibt, wenn man einen Raum nur für sich allein hat. Dass mein Kopf überhaupt freier denken kann; in einer anderen Umgebung Dinge, Begebenheiten, Erlebtes neu oder anders erscheinen, andere Blickwinkel möglich machen, neue Räume eröffnen. Nicht nur für den Text, sondern auch für einen selbst.
»Wenn ich meinen eigenen Kopf durchstöbere, finde ich keine hehren Gefühle, ausgelöst davon, Gefährtinnen und Ebenbürtige zu sein und die Welt zu Höherem zu beeinflussen. Sondern ich ertappe mich dabei, kurz und prosaisch zu sagen, dass es wesentlich wichtiger ist, man selbst zu sein als irgend etwas anderes. Träumen Sie nicht davon, andere Menschen zu beeinflussen, würde ich sagen, wenn ich wüsste, wie ich es anstellen muss, damit es hochtrabend klingt. Denken Sie nach über die Dinge als solche.«
Was auch bleibt: Die Begegnung mit mir selbst. Das Allein-Sein. Ein seltsames Gefühl, manchmal fühlt es sich komisch, manchmal fühlt es sich gut an. Sehr gut sogar. Auch soviel Ehrlichkeit muss sein. Zumindest für eine kurze Zeit. In einem wunderbaren Raum, der im Wesentlichen aus Schreiben und Lesen besteht. Aus einem Schreibtisch, an dem ich schon frühs sitzen kann, Kaffee neben mir, sonst nichts. Nur den Text. Aus dem Berg, der jeden Morgen auftaucht, sich in mein Sichtfeld drängt. Mit jedem Tag vertrauter wird, trakelt. Die Freude am Neuen, der damit verbundenen Literatur. Norbert C. Kaser. Hans Aschenwald. Um nur einige zu nennen. Eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Die Veränderung, die bleibt, die man mitnehmen kann. Das Ankommen an einem Ort, das Wieder-Aufbrechen. Die Zeitlosigkeit von Literatur, ihr zäher Bestand. Die große Freude am eigenen Zimmer. Die wachsenden Bücherstapel, der wachsende Text. Aber auch das Wissen, dass die aufgeschobenen Arbeitsberge, der ausgesetzte Alltag mich jäh einholen werden, nicht nur mich. Dass zwei Monate Schreiben und Lesen ihr Tribut später einfordern. Dass das schade ist. Aber irgendwie wohl nicht zu ändern. Dass ich diesen Bericht viel später schreibe als gedacht. Jetzt erst anfange, als Benni mich fragt, ob ich bald wieder weg sein werde. Und ich sofort verneine. Aber auch weiß, dass ich das irgendwann wieder gerne tun würde. Und mir wünsche, dass Stadtschreiber-Stipendien dauerhaft familienkompatibler sein würden. So wie in Schwaz, wo meine Kinder (11 und 15 Jahre), die ganze Familie herzlichst aufgenommen worden ist; ein Hin- und Herfahren möglich war, das Einbinden aller in so eine Ausnahme-Zeit des Schreibens.
»Denn ich glaube fest, wenn wir ungefähr ein weiteres Jahrhundert leben – ich rede vom gewöhnlichen Leben, welches das wahre Leben ist, und nicht von dem kleinen Einzelleben, das wir als Individuen führen – und jede von uns fünfhundert im Jahr und ein eigenes Zimmer hat; wenn wir die Freiheit gewohnt sind und den Mut haben, genau das zu schreiben, was, wir denken; wenn wir dem gemeinsamen Wohnzimmer ein wenig entfliehen und Menschen nicht immer in ihrer Beziehung zueinander, sondern in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit sehen.«
Vor etwa einem Monat beende ich mein aktuelles Schreib-Projekt. Inmitten des Alltagschaos. Ohne Schwaz aber, ohne dieses zeitweilige eigene Zimmer wäre das viel schwieriger gewesen. Auch das bleibt.
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