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aufgelesen [35] »Texte zu Flucht & Vertreibung«

Hilde Domin • * 1909 Köln † 2006 Heidelberg

Foto: Wohnheim (Köln 2017)

Fluchtwohnungen

»Meine Wohnungen«, »mis moradas« (genau übersetzt: meine Aufenthalte, meine Stationen), das ist fast etwas Paradigmatisches für mich. Außer dem gehen kommt in meinen Gedichten, zumindest den ersten Bänden, vielleicht nichts soviel vor wie das Wohnen oder Wohnen dürfen. Bleiben dürfen. Die meisten Wohnungen in meinem Leben waren Fluchtwohnungen, Zufluchtwohnungen, oder verwandelten sich plötzlich, aus scheinbar ganz normalen Behausungen. Das steckt einem in den Knochen ein Leben lang.

Ich hänge nicht an den Gegenständen, oder ich denke, dass ich nicht an den Gegenständen hänge. Ich möbliere ja auch mit einem Minimum, mit Ausnahme der Bücher. Bei Wohnungen denke ich an die Wände, und dass ich mich an den Wänden festkrallen möchte. Im Notfall. Aber wenn der Notfall kam, waren die Wände immer zu glatt. Die Hände sind keine Krallen, der Mensch ist kein Affe, er setzt sich auf den Fußboden in eine Ecke und weint. Dann geht er gehorsam die Treppe hinab und zu einer Tür hinaus und dreht sich um, oder dreht sich nicht um, und kommt nicht wieder.

 

Aus Hilde Domins Essay »Meine Wohnungen« (Hilde Domin: Fast ein Lebenslauf. Gesammelte Schriften. Fischer, 2009). Die Schriftstellerin und promovierte Politikwissenschaftlerin wurde 1909 als Hilde Löwenstein in Köln geboren, verließ vor der Machtergreifung Deutschland und benannte sich selbst nach einer ihrer Exil-Stationen – der Dominikanischen Republik, wie sie in dem Gedicht »Landen dürfen« schreibt. »Das Gedicht als Augenblick von Freiheit« zu vermitteln, war eines ihrer wichtigsten Anliegen, das sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2006 verfolgte.

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